Andrews Worte rotierten permanent in seinen Gedanken. Selbst dann noch, als seine Eltern vorbeischlenderten und mit beiden etwas sprachen. Er erzählte irgendetwas triviales über seine Tanzpartnerinnen und erwähnte das ungezogene Benehmen der Coverstone Clique. Einige Zeit später kam Vivianne in Begleitung seine Bruders, um sich zu verabschieden.
Julian gratulierte ihr zum Gelingen des Festes und wünschte ihr eine angenehme Nacht. Er bemerkte sehr wohl Reginalds prüfenden Blick, doch mehr den Anschein von Normalität, als den gerade zur Schau getragenen, vermochte er nicht zu zeigen.
Kaum war er mit Andrew allein, hielt ihn nichts mehr davon ab, zu Henry zu schauen. Dieser hatte sich mittlerweile umgestellt, in eine Position, aus der er, wenn er es denn wollte, jederzeit hinüberschauen konnte. Was er auch genau in diesem Moment tat.
Kurzzeitig rückten alle restlichen Sinneswahrnehmungen an den Rand von Julians Bewusstseins, für den Bruchteil einer Sekunde existierten nur noch sie beide. Der Bann wurde durch den riesigen vorbeimarschierenden Lord Kearlight gebrochen. Zurück blieb ein beschleunigter Herzschlag.
Andrew stieß ihn leicht an. »Komm.«
Verwundert blinzelte Julian. »Wohin?«
»Zu Henry Evans«, bestimmte Andrew und viel leiser fügte er hinzu: »Noch so ein offener Blickwechsel und ihr wärt schneller in Erklärungsnot als euch lieb ist.«
Natürlich hatte sein Freund Recht, bloß schienen seine Füße am Boden festgewachsen, während sich in seinem Körper ein nervöses Flattern ausbreitete und ihn tatsächlich erzittern ließ.
»Was hast du?« Andrew suchte in seinem Gesicht nach der Antwort, dann begann er zu lächeln. »Sei zuversichtlich und vertraue mir, wenn ich dir sage, deine Gefühle werden erwidert.«
Eine Spur von Erleichterung lösten diese Worte aus. Ausreichend, um den ersten Schritt zu wagen.
Wie mechanisch, einen Fuß vor den anderen setzend, aufgeregter, als bei seinem ersten Mal und nicht im Stande klar zu denken, nahm sich Julian in seiner Not ein Glas Champagner vom Tablett eines umherwandernen Bediensteten. Gerade noch konnte er sich zügeln, es in einem Zug auszutrinken.
Die Evans waren erfreut über ihre Anwesenheit. Andrew ließ seine Charme spielen, zog die gesamte Aufmerksamkeit auf sich, was Julian zu Gute kam. In kurzen Momenten sahen er sich und Henry immer wieder an. Jetzt, da Andrew ihm die Idee eingepflanzt hatte, das Interesse sei gegenseitig, fühlte er ein starkes Drängen Henry näher kommen zu wollen, zu zweit mit ihm zu sein, aus seinem Mund Worte zu hören, die nur für ihn bestimmt waren, ein Lächeln zu erhalten, dass allein ihm galt.
Doch was, wenn Andrew sich täuschte. Er selbst war sich noch immer nicht sicher, traute seiner, durch Vernarrtheit verzerrten, Wahrnehmung nicht.
»Oh ja, der Garten soll doch recht hübsch aussehen mit diesen netten Laternen«, redete Andrew unüberhörbar mit großen Gesten. »Julian wollte vorhin schon nach draußen, doch ich befürchte, ich würde nur im Halbdunkel vor mich hin stolpern. Auf Ebenen mit ausreichend Beleuchtung bin ich weit besser aufgehoben. Vorzugsweise mit einem Minimum an Bediensteten.« Er passte eben einen dieser Angestellten ab und griff im genau dem richtigen Moment nach einem Glas, mit dem er dann den Ladies zuprostete. »Wie wäre es, wenn du meinen Platz an der Seite meines lieben Freundes einnimmst? Gerüchten zu folge seid ihr schon als Kinder in den Büschen hier auf Entdeckungsreise gegangen«, wand er sich an Henry.
Noch ehe dieser eine Antwort geben konnte, begann Lord Evans laut von den Kindheitserlebnissen zu berichten, wobei er Josi und Julian verwechselte oder gleich zu ein und der selben Person machte.
»Ich würde dich gern begleiten.« Henry war näher getreten.
Julians Herz kam nicht zu Ruhe, raste bei der Aussicht auf Zweisamkeit mit dem Mann, in dessen Nähe ihn das Gefühl überkam, die Kontrolle sowohl über seinen Verstand als auch über seinen Körper zu verlieren.
Bei ihrem Weg nach draußen war er froh, als Henry das Wort ergriff, denn ihm selbst wollte gänzlich nichts Passendes einfallen, dabei hoffte er, sein Begleiter würde sich selbst nicht als Notlösung betrachten.
»Deine Schwägerin hat Talent für derartiges. Für eine zukünftige Duchess von Vorteil.« Mit einer kleine Geste verdeutlichte Henry, dass er den Ball meinte.
»Das ist eine ihrer vielen Qualitäten.« Selbst erschüttert über seine verlorengegangene Eloquenz, biss sich Julian auf die Zungenspitze.
Es dauerte genau vier Schritte bevor Henry weitersprach. »Es ist schön zu wissen, dass ein neues Familienmitglied nicht nur dazu passt, sondern sich auch wohl fühlt.«
»Ja.« Das war nur wirklich zu wortkarg. Schnell griff er nach dem erst Besten, was ihm in Sinn kam. »Lillians Verlobter schein auch ein anständiger Kerl zu sein.«
»So weit ich es beurteilen kann, ist er das.« Henry sah kurz zu ihm. »Mein Vater hat den beiden übrigens untersagt, noch ein weiteres Mal in den Garten zu entschwinden.«
»Wie oft haben sie sich denn davongestohlen?« Die Vorstellung Lillian würde jede Gelegenheit ergreifen, um mit ihrem Verlobten allein sein zu wollen, war zwar nicht völlig abwegig, schien allerdings nicht ganz in Julians Bild von ihr zu passen.
»Nur zwei Mal. Als sie es wieder versuchten, hielt mein Vater sie zurück. Percy war es unglaublich peinlich. Er entschuldigte sich unzählige Male, obwohl die ganze Familie weiß, wer der eigentliche Drahtzieher hinter diesen heimlichen Ausflügen ist.« Henry kicherte vergnügt und Julian sah ihn fasziniert an. Diese Arglosigkeit erinnerte ihn an früher. Henry hatte schon damals hin und wieder das Bedürfnis verspürt, die Familiengeheimnisse mit den Nachbarskindern zu teilen.
Gerade noch rechtzeitig bevor der Mann an seiner Seite den eindeutig interessierten Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkten konnte, meinte Julian: »Das kann ich kaum glauben. Deine Schwester macht einen recht zurückhaltenden Eindruck.«
»Percy hat ihr ganz gehörig den Kopf verdreht und das völlig unbeabsichtigt.« Ein versonnenes Lächeln umspielte diese verführerischen Lippen.
Die Hand kurz zur Faust geballt, widerstand Julian, sich dieselbige auf den Magen zu pressen. Ein Gefühl von ein wenig zu viel Champangner bemächtigte sich seiner, jedoch ohne die enthemmende Wirkung. Etwas gelöster wäre gut, zu viel hingegen fatal. Er mochte sich seine Taten unter einem Übermaß an Alkohol gar nicht ausmalen.
Und schon wieder fiel es ihm schwer, eine Erwiderung zu finden. Seine Gedanken glitten nur in eine Richtung, ob Andrew wohl Recht hatte mit seiner Annahme. Dass offen zu fragen, war natürlich schlicht lächerlich.
»Genau wie Reginald Vivianne verfallen ist«, riss ihn Henry zurück ins Hier und Jetzt.
»Wie kommst du denn darauf? Ich meine, es stimmt schon, nur machte es für mich bisher nicht den Eindruck, dass es besonders offenkundig ist.« Das Thema schaffte es zumindest teilweise, dass er sich wieder konzentrierte. Wobei er bezweifelte, es würde lange so bleiben, wenn sie weiter gingen, das beleuchtete Gelände hinter sich ließen, bis sie schließlich nur noch die verschwiegene Dunkelheit umgab.
»Das ist wahr. Allerdings wurde ich unabsichtlich Zeuge eines Tanzes. Hier im Garten. Und scheinbar war es ihr Einfall, denn Reginald bemerkte, wie wenig er es für eine gute Idee hielt und er sich um sie und das Baby sorgte.« Das schwindende Licht ließ Henrys Züge undeutlich werden, doch Julian wusste, dass er lächelte.
»Es war ganz sicher Viviannes Wunsch.«, bestätigte er. Etwas anderes beschäftigte ihn jedoch weitaus mehr, woraufhin er einfach zu sprechen begann, ohne groß darüber nachzudenken. »Du warst im Garten? Allein?«
Nichts an Henry ließ darauf schließen, ob ihn diese Fragen überraschten. »Ja, vorhin. Und nein. Ich begleitete Lord und Lady Millton. Sie waren viele Jahre nicht mehr hier, wie sie meinten. Ich denke, von dem kleinen Tanz haben sie nichts mitbekommen, da beide weder gut hören noch sehen können. Wir sind einfach einen anderen Weg entlang gegangen. Es besteht also kein Grund deinen Bruder in Aufregung zu versetzten.«
Für die Dunkelheit um sich herum war Julian überaus dankbar, denn er war sich sicher, die Erleichterung konnte man ihm ansehen. Und da ihn schon die Finsternis schützte, schaffte er es vielleicht noch etwas mehr in Erfahrung zu bringen. »Ich möchte dir dafür danken, Josi aus dieser ungünstigen Lage geholfen zu haben.«
»Leider war das abzusehen. Coverstone ist recht früh um sie herumgeschwänzelt, hat ihr furchtbar platte Avancen gemacht. Daraufhin hat sie ihm recht barsch eine Abfuhr erteilt. Er hatte schon zuvor gelästert, nur scheinbar genügte ihm das nicht.« Henry seufzte.
Das eben gehörte versetzte Julian auf mehr als ein Weise in Aufruhr. Henry hatte Josi im Auge behalten, was eigentlich seine Aufgabe hätte sein sollen. Jetzt wollte er auch wissen, warum. »Um so mehr habe ich zu danken. Du magst Josi sehr, nicht wahr?« Noch während er sprach, wallte Angst vor der Antwort in ihm auf.
»Sie ist eine liebenswürdige junge Dame. Dass jemand so über sie spricht, ist absolut grauenvoll. Sie war mir immer eine gute Freundin. Es ist selbstverständlich, ihr Schutz anzubieten.« Nach einer kurzen Pause lachte er leise. »Überraschenderweise hat sie bemerkenswert gut tanzen gelernt.«
»Das hat uns alle überrascht.«, gestand Julian, wobei seine eigentliche Frage noch nicht beantwortet war. Nur gut, dass er sie als Bruder offen stellen konnte. »Hegst du tiefere Gefühle für Josephine?«
Henry wand ihm das Gesicht zu.
Jetzt bereute er, den Ausdruck darauf nicht erkennen zu können.
»Nein, Julian«, wurde ganz schlicht geantwortet.
Doch brachte ihn der Klang von Henrys Stimme, als dieser seinen Namen aussprach, kurzzeitig aus der Fassung.