Da Brianna gerade noch etwas schlief, diente Andrew dann tatsächlich als Ehefrauersatz, auch wenn nur seine Schulter gefragt war. Etwas tiefer gerutscht, saß er auf einem Stuhl neben dem stehenden Reginald und las in einem Buch.
»Schreibst du eigentlich selbst?«, fragte Reginald nach einer Weile leise.
Julian sah zu Andrew, an den die Frage gerichtet war und der nicht reagierte.
Sein Bruder drückte ihm kurz und fest die Schulter.
»Mh?« Andrew sah auf.
»Ob du auch selbst schreibst, wollte ich wissen«, wurde das Gesagte wiederholt.
Andrew war sichtlich verwirrt. »Nein … nein, ich … Wie kommst du denn darauf?«
»Ich dachte nur, bei deinen fantasievollen Anwandlungen, wäre das kein Ding der Unmöglichkeit«, meinte Reginald ohne seine Position zu verändern.
»Zum Schreiben gehört vermutlich mehr, als nur dummes Zeug von sich zu geben.« Diese Idee irritierte Andrew auf fast komische Weise.
»Zuzutrauen wäre es dir, kleine, absurde, lustig-frivole Texte unter einem eigenartigen Pseudonym zu verfassen.« Jetzt sah er doch zu Andrew hinab.
Julian ließ es zu und wartete.
»Darüber habe ich nie nachgedacht. Wer sollte auch so etwas lesen wollen?«
»Wer sollte sich auch amüsieren wollen?«, kam Henrys Stimme trocken aus dem Hintergrund.
»Nicht so frech, lieber Henry. Vergiss nicht, ich bin jetzt ein verflixt guter Schütze, dank deiner Hilfe.«
»Oh, daran erinnerst du mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit.« In der kurzen Pause, die sein Liebster machte, drehte sich Julian zu ihm, sah wie dieser sich zu Seite gelehnt hatte und, vorbei an der Staffelei, Augenkontakt zu Andrew aufnahm.
»Aber glaubst du, ich hätte all mein Wissen mit dir geteilt?«
»Hast du nicht? Niemanden kann man mehr vertrauen«, echauffierte sich Andrew mit Leidensmiene, die sich sofort zu dem harmlosesten Gesichtsausdruck veränderte, zu dem er fähig war. »Besteht die Möglichkeit, dass du dieses Wissen mit mir teilst?«
»Möglicherweise.« Auch Henry war die Unschuld selbst. »Mir kam zu Ohren, du hast bei der Köchin einen Apfelkuchen bestellt.«
Andrew riss die Augen auf und presste sich die Hand aufs Herz. »Henry Evans, du bist ein Monster.«
Mit einem süßen Lächeln klimperte der Adressat unschuldig mit den Augen.
»Ist dieses Wissen denn auch Apfelkuchen wert?«
Henry zog Augenbrauen und Schultern hoch.
Ein Gesicht ziehend, als wolle er jeden Moment in Tränen ausbrechend, wand Andrew sein Gesicht ab. »Monster, überall Monster.« Dann sah er hoch zu Reginald, legte seine Hand auf dessen. »Mylord, ich werde wohl doch Dramen schreiben müssen.«
Lachend schubste ihn Reginald an. »Du bist so ein Kindskopf.«
Andrew lachte ebenfalls auf, sein Blick kreuzte den von Julian, hielt ihn kurz gefangen, dabei sah er durch und durch glücklich aus.
»Du zeichnest auch alles, was?« Andrew hatte es sich auf Julians Bett bequem gemacht, lag auf der Seite und sah sich die gesammelten Skizzen an.
Julian, der neben ihm saß, beugte sich über dessen Schulter und warf einen Blick auf das Blatt Papier. Ein Baumstumpf mit Pilzbewuchs, Moos und langem blühenden Gras war darauf zu sehen.
»Nicht gut?« Die Frage war rein rhetorischer Natur. Er zeichnete, was ihn inspirierte, unabhängig davon, ob es gefiel oder nicht.
»Doch, gut. Irgendwie romantisch-melancholisch.«
»Für den Fall, dass dir eines besonders gefällt, kannst du es auch gerne haben. Ich habe überraschend viele gemacht.« Julian streckte sich auf dem Bett aus und schloss die Augen. Der Ausflug war wirklich schön gewesen – in mehrerer Hinsicht.
»Oh ha!«, kam es nach einer Weile von seinem Freund. »Das hier wird wohl nicht in dem Angebot mit eingeschlossen sein.«
Sofort hing Julian wieder über dessen Schulter, riss ihm, nach nur einem kurzen Blick, die Zeichnung aus den Fingern und presste sie an seine Brust. Die Skizze zeigte Henry von der Seite auf dem Bett sitzend, das Gesicht dem Betrachter zugewandt. Er hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die den Kopf auf eine Hand, dabei lächelte er amüsiert und zärtlich. Hätte er auch nur ein wenig Kleidung getragen, wäre das Bild weniger verfänglich gewesen.
»Das solltest du besser woanders aufbewahren«, kicherte Andrew und drehte sich zu ihm.
»Ich weiß.«
»Das ist nicht das einzige, oder?«
»Ich könnte Wände damit tapezieren«, seufzte Julian.
»So schlimm?« Andrew lachte. »Aber auch sehr verständlich.«
»Ach was.«
»Natürlich. Er ist charmant, intelligent, gutaussehend, witzig. Was willst du mehr?«
»Mhm, ich könnte schwören, du versuchst dich gerade selbst zu beschreiben«, neckte Julian ihn.
Andrew öffnete den Mund, überlegte dann doch noch einen Moment. »Oh mein Gott! Du hast mich durch einen Jüngeren ersetzt.« Allerdings musste er selbst darüber lachen. »Nur bin ich weder charmant noch intelligent.«
Julian sah ihn zweifelnd an, wohl wissen, dass auf sein Freund beides zutraf. »Aber immerhin bist du gutaussehend und witzig.«
»Ja, und genau deshalb graut es mir vor dem Alter. Ich werde die Tage in einem heruntergekommenen Ohrensessel verbringen – faltig und zynisch.«
Aus Reflex über diesen Unsinn stieß Julian ihn an. »Blödsinn. Du wirst deinen Lebensabend im Kreis deiner Familie verbringen, umgeben von Kindern und Kindeskindern und kleinen fusseligen Hunden.«
Mit unverkennbarem Wehmut lachte sein Freund. Die Vorstellung sagte ihm allem Anschein nach zu. Er sah Julian sanft an. »Ich wünsche dir Liebe, mein Freund, für den Rest deines Lebens. Und so ein winziger, absurd romantischer Teil von mir wünscht sich, dass es Henry ist, der sie dir schenkt.«
»Hör auf damit«, murmelte Julian mit engem Hals. Andrews Worte rührten ihn zu Tränen.
»Du hast damit angefangen«, murrte dieser ebenfalls etwas erstickt zurück.
Julian löste das Blatt von seiner Brust und schwamm in dem seligen Gefühl, ausgelöst durch das Lächeln seines Liebsten.
»Du hast ihn wirklich gut getroffen.« Natürlich hatte Andrew noch einen Blick riskiert.
Es wurde ihm nicht übel genommen, nicht nach dem eben gesagten. Abgesehen davon sah Henry wirklich anziehend aus, was die Skizze auch deutlich zeigte.
»Ich mag ihn. Es ist ein guter Freund. Und als Partner vermutlich noch um einiges besser.«
»Ich kann mein Glück immer noch kaum fassen. Wir haben dir viel zu verdanken, das wissen wir und sind dir über alle Maßen dankbar.«
»Gern geschehen. Alles. Wofür sind Freunde sonst da?« Andrew lächelte ihn an. »Dafür bekomme ich aber die Skizze.«
»Was?« Das Papier knisterte, als Julian es fester an sich drückte.
»Das mit dem Baumstamm.« Andrew grinste frech.
Dafür bekam er von Julian einen leichten Hieb auf den Arm. »Du Mistkerl.«
Fast fertig, dachte Julian. Er würde noch etwas am Hintergrund herumwerkeln, entschied er. Die Familie seines Bruders war ihm indes gut gelungen, wie er fand. Er hatte, und das erstaunte ihn selbst, diese Mischung aus Ernsthaftigkeit und Güte, die sein Bruder immer öfter ausstrahlte, gut getroffen. Neben ihm Vivianne strahlte vor Glück und Stolz.
Als sie neugierig um die Staffelei herum gekommen war, hatte sie das Gemälde lange betrachtet.
»Du hast mich sehr hübsch gemalt«, bemerkte sie leise.
»Du bist sehr hübsch.« Julian an ihrer Seite, war irritiert.
»Und schlank«, seufzte sie.
»Vivianne ich habe gemalt, was ich sehen«, beschwor er sie und konnte nicht recht glauben, dass es ihr Ernst war. »Das bist du auf dem Bild.«
»Du bist wirklich sehr charmant.« Sie sah zu ihm. »So sehe ich mich gerade nicht«, flüsterte sie ihm traurig zu.
Julian zeigte auf sein Werk. »Vertrau mir. Ich habe dich gemalt, wie du bist.« Dann sah er sie doch entschuldigend an. »Nur die Augenringe habe ich weggelassen.«
Vivianne lachte, nahm seinen Arm und drückte sich an ihn. »Danke. Sehr liebenswürdig.«
»Gängige Praxis, wenn man seine Kundschaft nicht verärgern will.«
Das Gemälde würde heute fertig sein, entschied Julian. Reginald hätte es ihm schon eher abgenommen, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte. Es war fast lachhaft, aber Julian wollte schier platzen vor Stolz bei dem Gedanken, dass dieses Porträt im Arbeitszimmer seines Bruders über dem Kamin hängen würde. Jeder seiner hochtrabenden Freunde würde es sehen. Nun, wobei der eine oder andere dieser Freunde eines seiner Gemälde vermutlich schon zu Gesicht bekommen hatte, ohne es zu wissen. Frivole Szene waren bei den besser gestellten Bordellen durchaus beliebt und Wills entblößter Körper auf Leinwand gebannt, zierte einen ganz speziellen Club, und zwar den, in dem Andrew und er die Wahrheit übereinander erfahren hatten. Sein Blick fiel auf die Skizzenmappe. Er hatte seinen Freund erst letztens grob skizziert, als dieser Brianna gehalten hatte. Leise und gurrend hatte Andrew mit dem Baby gesprochen, dabei eine friedliche Glückseligkeit ausgestrahlt, die sich allein beim Betrachten der Szene schon übertrug.
Bei dieser Gelegenheit fragte er sich, ob Andrew sich wohl wünschte, irgendwann Vater zu werden. Angesprochen hatte er ihn darauf nicht, obwohl es ihn durchaus interessierte. Er selbst ließ die Finger von allen Gedanken in dieser Richtung. Eigene Kinder zu haben, war ein heikles Thema, für ihn selbst, wohl aber auch für Andrew und Henry. Solange das Ganze nicht irgendwie an Brisanz gewann, verbannte er Überlegungen dieser Art in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Und wenn er Andrew auf diese Weise lächeln sah, befürchtete er, durch ein Gespräch darüber Wunden zu schlagen, die seinen gut versteckt sensiblen Freund in Trübsal versinken ließen.
Trotzdessen hatte Andrew mit Brianna im Arm ein hübsches Bild abgegeben.
Er ließ seine Gedanken weiterwandern, hin zu Henry, der nun auch schon mit seinen Eltern über seine Pläne gesprochen hatte. Sie waren zugegebenermaßen überrascht, hatte sich Henry doch nie über sein Leben im Ausland beklagt. Aber natürlich versprachen sie ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen.
Es war nicht zu vermeiden, dass Julians Herz vor Aufregung begann schneller zu schlagen. Er hatte einen festen Partner und er würde, so gut es eben ging, sein Leben mit ihm teilen. Er freute sich auf diese Nähe und er freute sich auf eine Art von sicheren Hafen. Bisher hatte er nur Andrew gehabt, mit dem er sich austauschen, bei dem er selbst ein konnte. Eigenartigerweise war zwischen ihnen beiden nie eine intime Anziehung entstanden. Sie waren Freunde, Verbündete, ja, vielleicht ein wenig wie Brüder.
Er trat von der Leinwand zurück. Erst zwei Schritte, dann noch ein paar mehr. Es fiel ihm auf, dass er lächelte beim Betrachten seines Werks. Sein Bruder hatte seit kurzem eine eigene kleine Familie und nun auch das dazugehörige Porträt.
Zufrieden verließ er das Zimmer, das Gemälde konnte auch gut ohne ihn trocknen, und machte sich auf die Suche nach seinem Freund.
Durch ein Flurfenster zu Garten hinaus konnte er Andrew auf einer Bank im Schatten einer Bergulme, mit einem Buch auf den Knien, sitzen sehen. Allerdings las er nicht, schaute nur nachdenklich vor sich ins Gras. Woran er wohl dachte? Julian hatte da so einen Verdacht.
Er schlug den Weg Richtung Terrassentür ein. Frische Luft konnte er gut gebrauchen. Irgendwie bekam er den Geruch von Ölfarben nicht aus der Nase.
Er hatte noch nicht ganz die Tür erreicht, da fing ihn sein Bruder ab. »Julian?«
Es war nur ein Moment, den Reginald brauchte, um fortzufahren, genug für Julian, dass es sich eigenartig anfühlte.
»Vater möchte mit dir sprechen.«
»Hat er gesagt, worum es geht?« Wenn es nichts allzu Ernstes war, konnte er vielleicht auch gleich das Thema auf die Anschaffung einer eigenen Wohnung lenken.
»Nein, hat er nicht. Ich muss noch etwas erledigen.« Und schon ging er von dannen.
Julian sah ihm hinterher. Sein Bruder würde seinem zukünftigen Titel alle Ehre machen, so fleißig und gewissenhaft wie er war. Er selbst freute sich zugegebenermaßen, dass dieser Kelch an ihm vorbeiging. In kürzester Zeit hätte er Durchblick bei der Verwaltung der Güter und den wirren politischen Winkelzügen verloren, denn dafür hing er viel zu oft sinnlosen Gedanken hinterher. So wie jetzt, dabei wartete sein Vater auf ihn.