Sie lagen einfach da, ohne zu sprechen. Immer wieder brodelte Angst und Ungewissheit in Julian nach oben. Obwohl er es nicht wollte, begann er zu weinen und Andrew spendete ihm Trost in dem er ihn noch fester hielt, so als wolle er ganz sichergehen, dass Julian nicht vergaß, er wurde nicht allein gelassen.
Als es klopfte, trennten sie sich. Langsam ging Julian zur Tür. Andrew nahm sich seine Sachen, zog sich jedoch lediglich die Weste über. Er setzte sich in den der Tür abgewandten Sessel und knöpfte sich ruhig das Kleidungsstück zu.
Giles stand mit einem Tablett auf dem Flur. »Mylord, ich dachte, Ihr hättet gern einen Tee.«
»Sehr gern.« Eigentlich wusste Julian nicht, ob er überhaupt etwas zu sich nehmen konnte oder wollte.
Auf dem Tablett standen zwei Tassen. Giles wusste, dass Andrew bei ihm war, vermutlich genau wie der Rest des Haushalts. Die Überlegung, in wie fern sie wohl auch den Grund für den Aufenthalt in seinem Zimmer kannten, machte ihm Bauchschmerzen.
»Giles?«, begann er, während ihm sein Kammerdiener den Tee eingoss. Doch schon gingen ihm die Worte aus.
»Wenn ich offen sprechen darf?« Giles warf ihm nur einen kurzen Blick zu, genau wie Andrew, bevor er auch dessen Tasse mit Tee füllte.
»Sicher«, brachte Julian heraus.
»Gerüchte machen schnell die Runde, besonders die extravaganten. Murry und seine Frau sorgen natürlich dafür, das Ordnung herrscht, wie immer. Nur versteht eigentlich keiner so recht diese schreckliche Annahme, da dies« Giles griff in seine Tasche zog ein gefaltetes Tuch hervor und öffnete es. »Beim Aufräumen und Reinigen der Jagdhütte gefunden wurde.«
Julian und Andrew starrten auf ein hübsches Damenstrumpfband.
»Danke, Giles.« Andrew gewann als erster seine Fassung wieder.
»Stets zu Diensten.« Er legte das Tuch samt Band auf den Tisch, verbeugte sich und ließ beide wieder allein.
Weil er den Anblick kaum ertrug, faltete Julian das Tuch wieder zusammen. Zu viele und zu schöne Erinnerungen waren mit diesem schmalen Stoffstreifen verbunden.
»Euere Unsortiertheit hat ein Gegengerücht unter den Bediensteten gestreut. Ein kleiner Lichtblick.« Andrew beugte sich vor und tätschelte ihm beruhigend die Hand.
»Ob er es schon weiß? Ob sein Vater auch mit ihm gesprochen hat?« Julian konnte sich gut vorstellen, wie sehr es Henry treffen würde. »Ich darf ihn vorerst nicht mehr sehen. Wie kann ich denn herausfinden, wie es ihm geht? Nachrichten zwischen ihm und mir werden vermutlich zur Zeit nicht mehr ganz so privat gehandhabt.«
Andrew räusperte sich auffällig und als Julian ihn nur fragend ansah, forderte er: »Nur frag mich schon.«
»Was meinst du?«
»Ich kann einen kleinen Austausch zwischen euch ermöglichen. Allerdings nur wenn dein Vater zustimmt. Über ihn, als Familienoberhaupt, möchte ich mich, schon gar nicht als Gast, hinwegsetzten.«
»Das würdest du tun? Es wäre wirklich nur um zu wissen, wie es ihm geht.«
»Mit entsprechender Erlaubnis, natürlich.«
Das wäre eine große Erleichterung. »Danke.«
»Hältst du es bis morgen aus? Wir sollten sich erst ein wenig die Gemüter beruhigen lassen, bevor ich um Erlaubnis bitte.«
Julian nickte und brauchte Zeit, um sich damit abzufinden, auf Nachricht von Henry warten zu müssen.
Es dauerte sogar noch einen Tag länger, denn die Stimmung im Haus war angespannt. Obwohl sich jeder um Normalität bemühte, schwebte ein diffuses Unbehagen über allem. Fast noch schlimmer war, wie ausgesuchte freundlich man Julian begegnete. Freundlich, unsicher und dadurch distanziert - er fühlte sich furchtbar abgegrenzt. Er hatte die paranoide Vorstellung, es würden alle nur abwarten, was schlussendlich herauskommen würde und in der Zwischenzeit wollte sich niemand gegen ihn stellen, noch für ihn sprechen.
»Es ist nur die Ungewissheit«, versuchte Andrew ihn zu beruhigen. »Keiner verliert auch nur ein unschönes Wort über dich.«
Beide waren auf dem Weg zum Arbeitszimmer von Lord Wendridge. Julian war mitgekommen, damit er, solange Andrew mit seinem Vater sprach, auf mögliche Ohrenzeugen achten konnte.
»Glaubst du er wird zustimmen?«, fragte er leise nach.
»Ich denke schon. Warum auch nicht? Es geht doch nur darum, ihn wissen zu lassen, dass ihr in Korrespondenz steht.« Sein Freund schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln. »Gerade wenn er nicht mehr anwesend ist, sollte er doch informiert sein.«
»Vater reist ab?« Das war Julian neu. »Wann?«
»In drei Tagen, so weit ich weiß.« Andrew deutete Julians besorgten Gesichtsausdruck ganz richtig und fügte schnell hinzu: »Ich bekam es heute nur durch einen Zufall bei einem Gespräch mit Reginald mit.«
»Ich scheine wohl noch hier zu bleiben.« Alle Pläne waren über den Haufen geworfen wegen diesem unsäglichen Gerede über Henry und ihn.
»Dein Vater wird sicher erst einmal die Lage prüfen, wie sicher oder auch nicht es für euch beide in London ist.«
»Und du? Wirst du auch bald zurückgehen?« Ohne ihn an seiner Seite würde es Julian noch schwerer fallen ruhig zu bleiben. Er war sich jetzt schon sicher, seine inszenierte Gelassenheit überzeugte kaum jemanden.
»Ich bleibe noch, wenn du möchtest. Und es ist auch überhaupt kein plausibler Vorwand den Abschied meiner Großeltern zu verpassen.«
»Des einen Freud …« Julian versuchte sich an einem Lächeln.
Andrew stieß ihn an. »Komm schon. Lass dich aufmuntern. Für dich würde ich jegliche Abschiede von meinen Großeltern verpassen.«
Jetzt musste Julian doch lachen. »Ich stehe dir immer wieder gern zum Zweck diverser Verhinderungen zur Verfügung.«
Sie waren am Arbeitszimmer angekommen, die Tür stand etwas offen und der Raum war leer.
»Suchen wir ihn«, beschloss Andrew als er Julians enttäuschtes Gesicht bemerkte.
In einem kleine privaten Salon fanden sie ihn dann schließlich. Er stand mit einem Drink in der Hand am Fenster, als zeige er diesem die Aussicht, da der Duke viel zu sehr in seinen Gedanken versunken war, um zu trinken.
Andrew nickte, bereit seinen Freund ein weiteres Mal zu helfen, klopfte an und ging in den Raum. »Mylord?« Die Tür schloss er nur so weit, dass man nicht mehr direkt hineinsehen konnte. »Dürfte ich kurz mit Euch sprechen?«, hörte Julian ihn leiser werden, da sein Freund auf seinen Vater zu ging.
»Natürlich. Was gibt es?«
Julian atmete auf. Der Duke hatte keine schlechte Laune, die er an sich schon sehr selten hatte. Nur in Anbetracht der Umstände, wäre es nicht verwunderlich gewesen.
Kurz zögerte Andrew bevor er begann. »Ich würde gern Eure Erlaubnis erbitten einen Briefwechsel zwischen Julian und Henry zu ermöglichen. Nichts das missgedeutet werden könnte, lediglich ein Austausch über das Befinden des jeweils anderen. Da sie sich nicht sehen können, macht sich Euer Sohn Sorgen.«
»Nicht sehen? Oh, dieser Junge hört einfach immer noch nicht richtig zu«, seufzte Lord Wendridge gefolgt von einem kleinen resignierten Lachen. »Wenn ich mich recht erinnere, sagte ich, keine diskreditierenden Treffen. Und ich habe mich schon gewundert, warum ihr nicht mehr ausreitet.«
Es folgte Schweigen. Da Julian kaum glauben konnte, was er eben gehört hatte, ging es Andrew vermutlich ähnlich.
»Dann … wäre vielleicht ein Ausritt nebst Besuch bei der Familie Evans eine willkommene Abwechslung. Bei der Gelegenheit können wir uns auch gleich nach dem Wohlergehen aller erkundigen.« Und tatsächlich war Andrew die Überraschung deutlich anzuhören.
»Nehmt Josi mit. Das wird sie etwas entspannen«, fügte Lord Wendridge hinzu.
»Natürlich.«
Julian vernahm Schritte aus dem Raum. »Danke, Mylord.«
»Andrew?«
»Ja?«
Sein Vater brauchte etwas, um zu sagen, was er sagen wollte. Möglicherweise überlegte er sich auch etwas anderes, doch schließlich meinte er: »Ich bin froh, dass du mit meinem Sohn befreundet bist.«
Das Lächeln schien deutlich durch Andrews Worte hindurch. »Das bin ich auch.«
Julian bekam tatsächlich eine Kopfnuss als sein Freund wieder zu ihm kam. »Au.«
»So viel Aufregung um … Lassen wir das. Sagen wir Josi Bescheid. Sie hat schon diesen einen niedlichen Stallburschen fast zum Weinen gebracht mit ihrer tieftraurigen Leidensmine. Also ich meine den, der so voll und ganz deiner Schwester verfallen ist.« Andrew setzte sich in Bewegung, scheinbar wissend, wo Josephine zu finden war.
»Das geht schon seit Jahren so.« Julian folgt ihm. »Wenn jemals ein treuer Hund in eine Menschengestalt geschlüpft ist, dann sicher bei ihm. Dazu ist er auch noch ein verflixt anständiger Kerl, wofür wir alle auch sehr dankbar sind. Es kümmert ihn kaum, dass sie ihn immer noch als Jungen wahrnimmt.«
»Wie alt ist er denn jetzt? Er sieht noch so jung aus.«
»Siebzehn, glaube ich und ja, er ist zwar groß aber sein Gesicht ist immer noch sehr süß.« Das erste mal seit dem unheilsvollem Gespräch fühlte Julian sich ein wenig befreit.
Seine Schwester saß an dem alten Sekretär den ihre Urgroßeltern den Familie vermacht hatten. Ein hübsches zartes und deshalb fast weiblich anmutendes Möbel, das beim Öffnen der Klappe ein fragendes Quietschen von sich gab. Seit Julian denken konnte, war es strikt untersagt die Scharniere zu ölen. Dieses Möbelstück schaffte es erstaunlich gut mit einem einzigen Geräusch mehr Charm zu verbreiten, als manch ein Gast.
So wie sie ihr mitgeteilt hatten, worum es ging, wurden ihre Augen riesig. Noch hinderte eine Frage ihre Lippen daran, sich an ein Lächeln zu wagen. »Ist das denn offiziell?«
»Ja. Abgesegnet von ganz oben.« Julian strahlte unverholen und Josi schloss sich ihm glücklich an.