Der Kies knirschte kalt unter seinen Stiefeln nachdem er sich endlich überwunden hatte die Kutsche zu verlassen. Schauerlich trist und sandfarbend ragte Seashell Castle vor ihm und dem grau bewölktem Himmel auf. Der Rest seiner Familie wurde schon von Murry, dem Butler am unteren Ende der ausladenden Treppe in Empfang genommen. Er hörte die Stimme seines Bruders in der Halle und verspürte das Bedürfnis der davonfahrenden Kutsche hinterherzueilen. Es war nicht so, dass er seinen Bruder nicht mochte, ganz im Gegenteil, aber nun waren sie definitiv hier – im Nirgendwo. Sich vor Augen haltend, wie einfach es wäre, nur hin zu den Ställen zu gehen, um den Kutscher anzuweisen ihn zurückzubringen, stieg auch er nun die Stufen hinauf.
Das Abendessen verlief erschreckenderweise genauso, wie es Julian sich ausgemalt hatte. Sein Vater und Reginald tauschten die ersten von unzähligen Informationen über die Verwaltung der Ländereien aus, während seine Mutter mit Vivianne über Schwangerschaften sprach und Kinder und Kleider und das Theaterstück, dass die Familie letzte Woche gesehen hatte und einen Ball, der entweder noch stattfand oder bereits der Vergangenheit angehörte und dann wieder Kleider.
Julian sah zu Josi, die missmutig auf ihrem Teller herumstocherte. Sie blickte auf und lächelte gequält.
»Reitest du morgen mit mir aus?«, fragte sie leise.
Eine Weile sah er sie nur an. Wie traurig sie doch immer wieder wirkte, fehl am Platz, wie er sich fühlte.
»Wenn es nicht zu früh ist, sodass ich halbwegs ausgeschlafen bin, gern.« Das Gern war gelogen. Mit Josi auszureiten glich der Teilnahme am Grand National.
»Gegen Mittag ist es mir aber dann doch zu spät.« Seine Schwester lächelte verschmitzt.
»Es gibt für mich hier keinen Grund bis Mittag im Bett bleiben zu müssen«, spielte er den Pikierten.
»Es gibt hier für dich aber auch kaum einen Grund überhaupt das Bett zu verlassen.« Jetzt kicherte sie, was Julian mit Genugtuung erfüllte. Auch hier war wenig, auf was sich seine Schwester freuen konnte, doch niemand außer ihm hatte Zeit für sie. War das vielleicht der Grund, warum er nach Seashell Castle genötigt worden war?
»Da hast du auch wieder recht. Allerdings hatte ich trotz aller Langeweile nicht vor hier fett zu werden oder mich wund zu liegen.«
»Bist du schon wieder am Nörgeln?«, mischte sich sein Bruder plötzlich ein. »Wir haben Abendessen mit Nachbarn und Freunden geplant, haben vor einen Ball zu veranstalten und unzählige Einladungen im Namen der Familie angenommen. Ich denke, deine Langeweile wird sich in Grenzen halten. Des Weiteren kann ich dir auch gern die Grundlagen der Wirtschaft nahe bringen.«
»Oh, wie aufregend«, meinte Julian trocken. »Das hört sich doch nach unfassbarem Spaß an. Ich kann es kaum erwarten. Ein Amüsement nach dem anderen.«
»Ob du es glaubst oder nicht, es macht auch Freude seinen Pflichten nachzukommen zu können«, gab Reginald fest von sich.
»Sprach der zukünftige Duke of South Leaveton. Ist dir je in den Sinn gekommen, dass nicht jeder die Wirtschaftlichkeit von Schafzucht als erbauliches Thema während des Essens sieht oder …«
»Du wirst ausnahmslos an jeder einzelnen Veranstaltung teilnehmen, außer du bist schwer erkrankt oder hast dir ein Bein gebrochen«, fuhr sein Bruder dazwischen.
»Auch mit einem gebrochenen Arm?«, konterte Julian, zu seinem eigenen Missfallen, recht blasiert.
»Dieses Mindestmaß an Pflichtgefühl kannst du sicher erübrigen, als Teil dieser Familie.«
»Auch für dich?« Julian biss sich auf die Zuge. Was war nur in ihn gefahren, derartiges zu äußern.
Reginald richtete sich gerade auf, verengte die Augen und presste die Lippen aufeinander.
»Jungs, bitte.« Die Duchess sah von einem zum anderen mit freundlicher Strenge. »Es ist unnötig euch über Pflichterfüllung zu streiten.«
»Verzeih, Mutter.« Der ältere ihrer beiden Söhne lächelte sie versöhnlich an. »Ich bin wohl etwas dünnhäutig in letzter Zeit.« Er ergriff die Hand seiner Frau und drückte sie kurz.
»Auch von mir eine Entschuldigung. Leider ist meine Dünnhäutigkeit nicht temporär«, scherzte Julian.
»Du bist nicht dünnhäutig, Jules.« Reginald war wieder der Alte und zwinkerte seinem Bruder zu. »Du bist etwas verhätschelt und ausgesprochen extravagant. Damit erfüllst du einen Großteil der Kriterien, die an einen Künstler gestellt werden.“
Julian musste unweigerlich lachen. »Kein Talent oder Können?«
»Ach, ausreichend ausgeprägt bei dir, würde ich meinen. Sonst würde Vivianne wohl kaum auf ein Familienportrait von dir bestehen. Du hast doch an deine Materialien gedacht?«
Am letzten Satz merkte man dann doch recht deutlich, dass die Idee von Reginald persönlich kam. Er hatte seine Bruder in einem langen Brief beschworen ja an alles nötige zum Malen zu denken.
»Da danke ich vielmals für das Kompliment«, kicherte Julian. »Und ja, ich habe das halbe Atelier eingepackt, um … deiner Frau diesen Wunsch zu erfüllen.« Er grinste Vivianne an.
Jetzt war sie es, die die Hand ihres Gatten drückte.
Am folgenden Abend stand Julian in seinem Schlafzimmer mit leicht erhobenen Kopf vor seinem Kammerdiener Giles und ließ sich das Krawattentuch binden.
»Ein Abendessen mit ein paar Nachbarn macht Euch schlechte Laune?«
»Ich dachte, ich hätte mich ganz gut unter Kontrolle«, meinte Julian zu dem kleinen älteren Herren vor sich.
»Habt Ihr“, versicherte dieser. „Ihr mögt nur grundsätzlich Euer Krawattentuch nicht selber binden, wenn ihr zu einer unliebsamen Veranstaltung wollt.«
»Ah …« Die Augenbrauen des jungen Lords zuckten kurz nach oben. »Wie ein offenes Buch.«
»Nun, auch bei einem offenen Buch, ist nicht jede Seite sichtbar. So, fertig.« Mit einem zufriedenen Lächeln und unzähligen Fältchen um die Augen begutachtete der Giles sein Werk. »Ihr werdet es überstehen«, versuchte er seinen Dienstherren aufzumuntern.
»Ich wünschte, ich könnte mich wie die restlichen gelangweilten Herren dem Alkohol ergeben«, seufzte Julian.
»Man kann nicht alles haben und ihr seid schon aus ganz anderen Abendessen unversehrt herausgekommen.«
Da musste er Giles zustimmen, der ihn mittlerweile besser kannte als der eigene Vater.
Als er Lord Julian inflagranti erwischte, hatte er lediglich die Tür wieder diskret geschlossen. Für Julian war es kaum zu ertragen und so suchte er später das Gespräch. Giles stand mit recht ausdrucksloser Mine vor ihm, zeigte nicht, ob es ihm auffiel, wie sehr sich sein Dienstherr in Bedrängnis sah.
Schließlich meinte Giles ruhig: »Ich habe bei Euch eine gute Anstellung und keinen Grund mich zu beklagen. Euer Privatleben ist euer und nicht meins.«
»Du bist erschreckend liberal.« Julian war nicht ganz überzeugt.
»Ich bin erschreckend pragmatisch. Ich brauche diese Stelle, zusätzlich seid Ihr freundlich und respektvoll mir gegenüber. Und die Bezahlung ist gut. Ich wäre ein ausgemachter Dummkopf, dass für etwas, das mit mir nicht zu tun hat, aufzugeben.«
»Und Gottes Wort? Du gehst jeden Sonntag in die Kirche.« Zu gut kannte Julian die Predigten, die nach einschlägigen Skandalen gehalten wurden.
»Gottes Wort ...« Giles überlegte eine lange Zeit, begann dann leise: »Mein Neffe ... er wurde in Frauenkleidern überrascht. Sein Vater verprügelte ihn und warf ihn aus dem Haus. Zwei Tage später fand man ihn erhängt auf. Sie bespuckten seinen Leichnam und schlugen auf ihn ein. Sein Vater sah nur kurz zu und ging. Nein, mein Herr, das war nicht Gottes Wort. Das waren Menschen.«
Ohne es vermeiden zu können, und Julian versuchte es wirklich, wurde ihm übel. »Was passierte mit deinem Neffen?«, überwand er sich zu fragen, nicht wissend, ob er es wirklich erfahren wollte.
»Ich schnitt ihn ab und kümmerte mich um das Begräbnis.« Für Giles schien es selbstverständlich zu sein, dass er diese Aufgabe anstatt seines Bruders übernahm.
Derweil es Julian die Kehle zuschnürte. »... danke.«
»Euch wird so etwas nicht passieren. Ihr werdet nie so allein sein, wie er es war.«