Später als in den letzten Tagen üblich geworden, trafen Julian und Josi beim Frühstück aufeinander. Sie hatten es wieder unabgesprochen hervorragend abgepasst und waren vorerst allein.
»Guten Morgen, Bruderherz. Du siehst müde aus. Schlecht geschlafen?« Im Gegensatz zu ihm war sie hellwach und strahlte.
Zur einen Hälfte in seinen Gedanken versunken, während die andere noch mit der verkürzten Nachtruhe kämpfte, murmelte er eine Begrüßung, die Josi reichlich amüsierte.
Kaum hatten sie sich gesetzt, kam der Viscount mit seiner unerschütterlichen, drahtigen Lady und seinen beiden völlig übermüdeten Kindern hereinmarschiert. Seine Begrüßung war knapp, die von den restlichen Mitgliedern eher zurückhaltend bis müde. Mit militärischer Effizienz wurde das Frühstück absolviert.
Der Viscount war mit dem Essen fertig, da musste es auch seine Familie sein. Sie erhoben sich zeitgleich und machten sich daran den Raum wieder zu verlassen. Allen voran das Oberhaupt der Familie im Stechschritt, da es ihn zu seinem morgendlichen Ausritt hinauszog. Kaum hatte er die Tür durchschritten und war außer Sichtweite, scheuchte die Vicountess ihre Kinder mit liebevoller Mütterlichkeit zurück in ihre Betten.
Der Tee und dieses kleine, erheiternde Zwischenspiel hatten Julians Lebensgeister weitesgehend geweckt, um sich mit seiner Schwester über die Eigenheiten der anderen Familie zu amüsieren. Gänzliche unerwartet, gesellte ich Andrew zu ihnen.
Josi riss im gespielten Entsetzen die Augen auf. »Guten Morgen. Du bist schon wach? Es ist unglaublich?«
Da alle Bediensteten sich noch um die Beseitigung der Überreste des Balles kümmerten, goss sich Andrew selbst Tee ein. »Wach würde ich das nicht nennen und auch euch einen guten Morgen.«
Eher zurückhaltend erwiderte Julian den Gruß, da er schon wieder über den vergangenen Abend nachzudenken begann.
»Wie kommt es, dass du um diese frühe Stunde schon so erholt und munter bist, liebste Josi?«, wand sich Andrew nach einem kurzen Blick auf seinen in sich gekehrten Freund an dessen Schwester.
»Ich habe gut geschlafen, denke ich. Der Ball hat sich nach anfänglichen Unannehmlichkeiten recht erfreulich entwickelt.« Strahlend lächelnd nahm sie einen Schluck Tee.
Andrew zog die Augenbrauen dramatisch in die Höhe. »Ach, sieh an. Und haben wir das einer bestimmten Person zu verdanken, wenn ich fragen darf?«
»Lord Kearlight«, gab sie bestimmt von sich.
»Das ist allerdings überraschend. Ich bin ganz Ohr. Bitte lass mich jetzt nicht im Unklaren.« Andrew stützte seinen Ellenbogen auf den Tisch und legte sein Kinn auf den Handballen.
Joephine kicherte allerliebst. »Gegen alle Widrigkeiten konnte ich ihn dazu bringen mich zu einem Tanz aufzufordern.«
»Lord Kearlight?«, kam es sowohl von Andrew als auch von Julian ungläubig.
»Mir stellen sich gerade gravierend viele Fragen. Zu allererst: Warum Kearlight?«, ging Andrew näher darauf ein.
Gleichermaßen nachdenklich und erfreut gestand Josi: »Es war eine Herausforderung. Alle Ladies meinten, er würde nie tanzen, könnte es gar nicht. Sie fanden, er sei zu grobschlächtig und ungeschickt. Das konnte ich wiederum nicht glauben. Er hat eine beeindruckende Pferdezucht und jeder, der auch nur annähernd Ahnung hat, schwärmt von seinem Umgang mit den Tieren. Ihr hättet dieses riesige Pferd sehen müssen, mit dem er hier ankam.«
»Ich glaubte, im Allgemeinen gilt das Interesse von Damen eher anderen riesigen Dingen«, griente Andrew.
»Andrew!« Schockiert sah Julian seine Freund an.
»Was denn? Ich sprach von Vermögen. Aber nun wissen wir zumindest, an was du dabei so dachtest.«, ärgerte Andrew ihn.
Julian schnappte nach Luft, fühlte sich ertappt, wie ein Schuljunge. Josephine kicherte ausgelassen.
»Du solltest überhaupt nicht wissen, worüber wir hier reden«, sprach er möglicherweise ein wenig zu streng seine Schwester an.
Sie blieb gelassen. »Ich war schon vor Jahren beim Decken anwesend.«
»Ich hoffe du meinst Pferde und nicht Menschen.» Andrew versuchte überzeugend entsetzt zu klingen.
»Natürlich Pferde. Ich wüsste nicht, dass bei Menschen das derart kontrolliert abläuft.« Auch Josi kämpfte um Ernsthaftigkeit.
»Ach was. Das solltet du vielleicht einmal Familie Coverstone mitteilen«, konnte sich Andrew einen Seitenhieb nicht verkneifen, womit er alle zum Lachen brachte.
»Jetzt musst du uns aber auch verraten, ob Lord Kearlight tanzen kann.« Endlich war Julian wach genug, dass er sich an dem Gespräch aktiv beteiligen konnte.
Mit einem liebenswürdigen Lächeln erwiderte Josi: »Kann er, nicht formvollendet aber ausreichend. Viel interessanter waren indes die Gespräche mit ihm.« Und dann begann ein Monolog über ihre allerliebsten Vierbeiner, bei dem sich beide Männer vergnügte Blicke zu warfen.
Diskret betrat Murry das Frühstückszimmer und reichte Julian eine Nachricht. »Der Bote wartet auf Antwort.«
Die schön geschwungene, klare Handschrift war ihm nicht bekannt, so warf er zuerst einen Blick auf die Unterschrift.
Dein Henry Evans - so schlicht, doch sein Herz hüpfte.
Sich die Anwesenheit der anderen ins Gedächtnis rufend, unterdrückte er alle sichtbaren spontanen Regungen, die dieses Schreiben in ihm hervorrief und notierte mit dem gereichten Federhalter eine knappe Antwort. Diese wenigen Zeilen, von diesem besonderen Mann verfasst, gaben Julian das Gefühl ihm näher zu sein.
»Etwas Wichtiges?«, fragte Josi, kaum das Murry den Raum verlassen hatte. Sie war zurecht neugierig, da in der Regel ihr Vater oder Reginald die dringende Post erhielten.
»Nur die Nachfrage, ob Andrew uns zum Tee bei den Evans begleitet.« Er schaffte es überraschend gleichgültig zu klingen, wie er fand.
Möglicherweise zu sehr für Andrew, der schmunzelnd in seiner Tasse herumrührte. Vielleicht war die Belustigung aber auch dem Umstand geschuldet, dass er in Andrews Namen zugesagte hatte, ohne es mit ihm abzusprechen.
Seine Schwester beschäftigte hingegen etwas anderes. »Lord Kearlight wird übrigens auch dort sein.«
Erleichtert über diese Ablenkung, meinte Julian: »Da du dich darüber zu freuen scheinst, würde ich doch zu gerne wissen, ob du ein gewisses Interesse an diesem Gentleman hast?« Zugegeben, Lord Kearlight wäre nicht unbedingt seine erste Wahl gewesen, was eine Verbindung mit seiner Schwester betraf. Zwar war er verwitwet, hatte jedoch schon zwei erwachsende Söhne. Andererseits gab es da offensichtliche Gemeinsamkeiten.
»Nicht in diesem Sinn. Abgesehen davon hat er auch keines an mir.« Sie zuckte mit den Schultern.
»Und das weißt du woher?« Durch einen leichten Anflug von Zorn klang seine Frage etwas schroff. Es konnte doch nicht angehen, dass ein gestandener Mann, wie besagter Lord, seine Schwester auf Grund ihres aufgewecktem Wesens ablehnte.
»Er hat es mir gesagt. Sehr höflich und aufrichtig im übrigen.« Sie war ehrlich erfreut. »Er meinte, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich ernste Absichten in Bezug auf ihn hätte, was er im Übrigen überhaupt nicht verstehen könnte, auch wenn es ihm schmeicheln würde, er sich außer Stande sehe, romantische Gefühle einer Lady gegenüber zu entwickeln, die dem Alter her seine Tochter sein könnte, egal wie gewinnend, unterhaltsam und liebreizend sie wäre.« Jetzt grinste sie so breit wie nur möglich.
»Das ist wirklich ein charmanter Korb, den du da bekommen hast.« Andrew prostete ihr mit dem letzten Rest Tee in seiner Tasse zu, bevor er austrank.
»Der beste bisher.«, stimmte sie ihm zu. »Meint ihr, sie lassen mich mitgehen, wenn er Lord Evans Pferde begutachtet«