Einige Tage später suchte Julian ratlos nach Andrew. Er hätte gern etwas Gesellschaft gehabt, nur war sein Freund auf rätselhafte Weise verschwunden. Ihm fiel nichts mehr ein, wo er nach ihm noch Ausschau halten konnte, so überlegte er sich, seiner Schwägerin einen kleinen Besuch abzustatten und zu schauen, ob sie wach war. Sie hatte die Schlaf- und Wachzeiten ihres Babys angenommen, da sie sich weigerte es einer Amme anzuvertrauen. Es war ihr egal, wie es andere Ladies handhabten. Durch den frühen Verlust ihrer eigenen Familie, passte sie auf ihre neue um so mehr auf und wollte jeden Moment, der ihnen geschenkt wurde, genießen.
Er kam zum Kinderzimmer. Noch bevor er die Tür erreichte, konnte er jemanden die Melodie eines etwas unanständigen Liedes summen hören, und es war definitiv keine Frau.
Zu seiner Überraschung entdeckte er Andrew auf einem Schaukelstuhl ohne Frack, lediglich mit Weste und Hemd, dafür mit Baby. Das kleine Würmchen lag still auf ihm, das Köpfchen auf seiner Brust. Er grinste zu Julian hinüber sobald er ihn entdeckt hatte.
Vivian kam durch eine Verbindungstür in das Zimmer.
»Du kannst deinen Freund gleich wiederhaben«, meinte sie zu Julian. »Er macht sich im Übrigen äußerst gut als Kindermädchen.«
»Junge. Um als Mädchen durchzugehen, trage ich die falsche Kleidung.« Andrews Stimme war weich und leise.
»Da ist bestimmt noch mehr, was dich von einem Mädchen unterscheidet«, schmunzelte Vivian und stellte sich neben ihn. Sie sah zu ihm herab, wie seine Finger leicht über das Köpfchen ihres Kindes strichen.
»Das kann man kaschieren«, sagte er leicht hin.
Vivian zog die Augenbrauen nach oben. Ihr Blick wanderte erst in die eine Richtung, dann in die andere, während sie mehr und mehr daran verzweifelte nicht zu grinsen.
»Was geht da gerade in deinem Kopf vor?« Julian fand das Schauspiel erheiternd.
»Oh, keinen dieser Gedanken sollte eine Lady laut äußern, schon gar nicht in Gegenwart von Gentlemen«, kicherte sie. »Komm, Andrew, ich befreie dich wieder. Und allerliebsten Dank für deine Hilfe.«
»Gern und stets zu Euren Diensten, Mylady.« Er beugte sich nach vorn und bettete das kleine Mädchen in seine Hände um. »Ladies, natürlich«, korrigierte er sich mit frechem Grinsen an Vivianne gewandt.
»Wo ist denn das Kindermädchen? Das eigentliche, meine ich«, fragte Julian nach.
»Sie schläft. Es war eine unruhige Nacht.« Jetzt war es Vivianne, die sehr sanft redete. »Aber der Tag ist ganz ähnlich geartet.«
»Mann merkt, dass du Erfahrung hast.« Die beiden Männer schlenderten den Flur entlang.
»Zweifach Onkelsein und drei unfähigen Kindermädchen sei Dank.« Andrew verdrehte die Augen.
Nur am Rande hatte Julian das Dilemma bei den Willforts damals mitbekommen.
»Es hat aber auch etwas Gutes, wie Vivianne dir schon bestätigt hat. Eines meiner vielen verborgenen Talente«, mit denen Andrew offensichtlich zufrieden war.
Reginald kam den Flur entlang. »Wart ihr gerade bei Vivianne?«
Beide bestätigten.
»Geht es den beiden gut?«
»Wohlauf aber müde«, erteilte Julian Auskunft.
»Das wird sich wohl nicht so schnell ändern« Sein Lächeln war dennoch zufrieden und bei den dunklen Schatten unter den Augen konnte man davon ausgehen, auch Reginald hatte zu wenig Schlaf bekommen.
Er wollte weiter zu seiner Frau, da fiel ihm noch etwas ein. »Julian, da ist ein Brief für dich. Man hat ihn versehentlich an mich weitergereicht. Er liegt noch auf meinem Schreibtsich.«
Sofort wurde Julian wärmer. Bei dem Gedanken, er könnte von Henry sein, überkam ihn eine Unruhe, die ihm Gänsehaut bescherte. »Danke.« Er zwang sich ruhig zu sprechen, ruhig zu gehen, ruhig zu atmen.
Andrew neben ihm kicherte nach einer Weile.
»Sag nichts«, murmelte Julian, da nun klar war, zumindest einer sah ihm die Spannung an.
»Wir könnten ein Wettrennen zum Arbeitszimmer deines Bruders machen«, schlug Andrew fröhlich vor.
»Mach dich nicht lustig über mich. Drück mir lieber die Daumen, dass es ihm gut geht.« Julian schubst ihn leicht an.
»Daumen sind gedrückt. Darf ich mich jetzt ein bisschen lustig machen?«
»Ach, von mir aus.«
»... und nun fällt mir natürlich nichts passendes ein.«
Der Brief lag extra und gut ersichtlich auf Reginals aufgeräumten Schreibtisch - geöffnet. Julian fühlte den Schreck im gesamten Körper. Er rief sich ins Gedächtnis, wie unverfänglich Henrys letzter Brief geschrieben war. Abgesehen davon, hätte Reginald ihn sicher angesprochen, bei irgendwelchen Ungereimtheiten.
Noch am Tisch stehend, überflog er die Zeilen, wobei er die letzten mehrfach las.
Henry musste noch einige Protokolle schreiben und mit Lord Winterbottom durchgehen. Freitagmorgen würde er, und da konnte ihn nichts davon abhalten, wie er schrieb, in eine Kutsche steigen, um hoffentlich im Laufe des Sonntagnachmittag einzutreffen.
»Ist morgen Sonntag?«, fragte Julian aufgeregt nach.
Andrew blätterte, vor einem Regal stehend, eines von Reginalds Büchern durch. »Mhm? Ja, morgen ist Sonntag.«
Erst jetzt ließ Julian die Freude zu und strahlte, den Brief fest in den Händen haltend. Sein Freund grinste wissend zurück.