»Ich habe das Buch mitgebracht, um das du gebeten hattest. Es ist in meinem Gepäck auf meinen Zimmer. Ich kann es dir holen oder ...«, meinte Henry zu Julian.
Peinlich langsam verstand dieser, auf was die Andeutung anspielte. »Vielen Dank und nein, du musst nicht noch einmal herunterkommen. Du bist sicher erschöpft. Wenn du gestattest, begleite ich dich.«
»Das ist sehr lieb von dir. Magst du dich den beiden nicht anschließen, Andrew. Bei uns wird es etwas länger dauern, also könnt ihr euch Zeit lassen.« Lady Evans hakte sich bei Josi unter. »Komm, Liebes. Schauen wir mal, ob Lillian die Schneiderin schon auf ihre Seite gezogen hat.«
Josi, die sich noch einmal hilfesuchend zu ihrem Bruder umdrehte, hatte vielleicht die angespannten, peinlich berührten Blicke zwischen den der drei Männern wahrgenommen. Wenn dem so wäre, hoffte Julian, konnte sie diese bestenfalls nicht einordnen.
Auf Henrys Zimmer war dessen Kammerdiener mit dem Auspacken beschäftigt.
»Milo? Ich würde gern ein Bad nehmen, aber lassen Sie sich Zeit. Ich möchte noch etwas mit meinen Freunden besprechen«, bat Henry ihn.
»Natürlich, Sir.« Milo verneigte sich kurz und verließ den Raum.
»Dein Kammerdiener ist äußerst interessant«, bemerkte Andrew, den Blick auf die geschlossene Tür gerichtet.
Julian musste im recht geben. Milo war etwas älter als sie und ausgesprochen charismatisch mit seinem schmalen Gesicht, den hohen Wangenknochen und den hellblauen Augen, die im Kontrast zu seinen dunklen Haaren standen. Ein sehr gutaussehender Mann.
»Und nicht interessiert.« Henry lächelte verschmitzt.
»Du hast es bei ihm probiert?« Wieso klang Julians Stimme nur so entsetzt?
»Nein, das habe ich nicht. Er hat es mir gesagt«, beeilte sich Henry zu erklären.
»Er hat dir gesagt, dass er kein Interesse an Männern hat?« Andrew war genauso ungläubig wie Julian.
»Nein. Er hat überhaupt kein Interesse an so etwas«, meinte Henry beiläufig und wollte das Thema auf sich beruhen lassen.
»Ach ... Wirklich? Was für ein Verlust. dann gibt er nicht einmal sein hübsches Äußeres weiter«, seufzte Andrew voller Bedauern. Er schnalzte und setzte sich Richtung Fenster in Bewegung. »Und nun verschließe ich meine Augen und Ohren und ihr tut, was ihr tun müsst.« Seine Hände auf das Fensterbrett aufgestützt, sah er hinaus in den Garten.
Julian hatte kaum Zeit sich zu Henry zu drehen, da wurde er schon umarmt.
»Was machst du denn hier?« Henry konnte offensichtlich noch etwas auf eine Antwort warten, denn er küsste Julian sofort. »Verzeih, ich muss unbedingt erst einmal ein Bad nehmen«, entschuldigte er sich und trat einen Schritt zurück.
Gleich zog Julian wieder zu sich. Egal, was Henry glaubte, es könne stören, das tat es nicht. Julian wollt ihn nur halten, das Gefühl ihn endlich wieder so nah bei sich haben zu können, genießen. Wie und wann war es nur dazu gekommen, dass es ihm vorkam, als wäre Henry ein Teil von ihm? Wäre er nicht so schrecklich verliebt gewesen, es hätte ihm Angst gemacht, wie alles in ihm sagte, es müsse genau so sein. Sie beide - zusammen.
Um sich etwas von seinen verwirrenden Emotionen abzulenken, wisperte er: »Ich denke, ein Bad könnte deine Anziehungskraft auf mich nicht steigern. Wobei ... Deine Nacktheit würde es dann vermutlich doch.«
Henry kicherte tonlos, legte ihm den Kopf auf die Schulter und schmiegte sich an.
Noch näher holte Julian ihn zu sich. Er spürte seine Wärme, seinen Herzschlag. Er mochte die verschiedenen Düfte und Gerüche die Henry von der Reise noch umgaben, nicht zu letzt deshalb, weil sie noch einmal bestätigten, es war alles gut gegangen. Henrys ganz eigener Duft machte dann allerdings, dass die Schmetterlinge in Julians Bauch auch etwas tiefer ihren flimmernden Tanz vollführten.
Nach einer Weile hob Henry seinen Kopf wieder, nahm etwas Abstand ohne die Umarmung zu verlassen. Er umfasste Julians Gesicht, gab ihn einen Kuss und begann selig zu lächeln. Seine Fingerspitzen berührten die Wangen, strichen leicht darüber, zeichneten Konturen nach, ertasteten alle kleinen Details.
Julian glaubte, in Henrys Blick Unglaube und Glück ausmachen zu können und seine Finger müssten ihm jetzt noch den Beweis erbringen, dass Julian tatsächlich hier war. Er stand nur still und beobachtete seinen Liebsten. Ruhe und Zufriedenheit verteilte sich mit jedem Herzschlag weiter und weiter in ihm, bis er sich wunderbar leicht fühlte. Wenn er etwas ähnliches in Henry auslösen konnte, wäre er mehr als nur froh. Wenn nicht, musste er sich bemühen. So etwas durfte auf keinen Fall einseitig bleiben.
»Sagst du mir, warum ihr hier seid?« Henrys Finger fuhren ihm durchs Haar.
»Ich hatte gehofft, wieder mit dir ausreiten zu können, weil ich glaubte, du wärst gestern schon angekommen.« Er hatte genug davon nur angesehen zu werden und verteilte kleine Küsse auf den weichen Lippen. Das wiederum war Henry zu wenig. Er umfing Julians Kopf fester, löste damit einen kleinen erregenden Schauer entlang der Wirbelsäule bei ihm aus. Die Zunge seines Liebsten hinterließ, als Aufforderung zu mehr, Feuchtigkeit auf seinen Lippen. Augenblicklich verlangsamte sich sein Denken. Das Verliebtsein und die Enthaltsamkeit machten ihn willig, bereit auf Henrys vertrauliche Küsse einzugehen, ungeachtet Andrews Anwesenheit. Es brauchte nur wenig, dieses verstandraubenden Spiels und Julians Hände tasten durch die Schichten der Kleidung hindurch über diesen anziehenden Körper vor sich. Schnell waren sie unter dem Gehrock, strichen über den Rücken, sanken hinab zu den festen Erhebungen, die zu berühren, ihn noch weiter der Realität entrissen. Er folgte, diesem immer wieder auftauchenden Drang, fester zuzufassen, verstärkte den Griff auf diese entzückenden Rundungen. Daraufhin benötigte Henry mehr Luft, um die er leicht zittern rang. Dazu geriet sein Körper in diese sinnliche Bewegung, die nach Nähe und Erregung gleichermaßen suchte. Henrys Finger gingen nun auch ruhelos auf Wanderschaft, machten, dass Julian seine Sachen verwünschte. Ein einzelnes Klopfen an die Fensterscheibe ließ auseinanderzucken.
»Entschuldigt. Ich wollte nur sehen, wer da spazieren geht.«
Beide, Henry und Julian schauten zu Andrew, der immer noch aus dem Fenster sah und sich dabei die Stirn rieb.
Wieder einander zugewandt, bemerkte Julian, wie dunkel Henrys Augen trotz Ablenkung geblieben waren und ungeachtet dessen, dass es ihn selbst danach verlangte, hätte er gern seinem Liebsten das gegeben, wozu es diesen drängte. Doch weil das nicht möglich war, begnügte er sich damit, ihm an den Händen haltend, einen letzten Kuss zu geben. Was hätte er nicht dafür gegeben, einen Ort zu haben, an dem er wenigstens eine Weile ungestört mit Henry sein konnte. Dabei fiel ihm etwas ein.
»Es ist schön, dass du wieder da bist. Ich hatte mir Sorgen gemacht. Vielleicht hörtest du von der Durchsuchung in der Trevor-Street?«, fragte er leise nach, umfasste dabei die Finger in seinen fester.
»Ich wusste davon«, antwortete Henry nach einem Moment des Zögerns.
»Wie? Du wusstest davon?« Julian war nicht sicher, ob es richtig verstanden hatte.
»Ich wusste davon, bevor es stattfand«, gab Henry zu.
»Was?« Andrew hatte sich entgeistert umgedreht.
»Ich erfuhr davon früher am Tag.« Henry war ernst geworden.
»Wie ...« Da war so ein Drücken in Julians Magen, eine Unsicherheit oder auch Angst.
»Lord Winterbottom erzählte es mir. Man hatte gehört, Lord Millwise würde dort verkehren. Weil er sich einem bestimmten Gesetzentwurf in den Weg stellte, hatte man gehofft, ihn damit aus dem Weg zu bekommen oder, wie es jetzt der Fall ist, da er Wind von der Sache bekommen hat, ihn einen ausreichenden Schrecken einzujagen, damit seine Meinung in eine gewünschte Bahn gelenkt wird.« Zum Ende hin war Henrys Tonfall immer bitterer geworden.
»Oh mein Gott. Nur dafür? Und Lord Winterbottom wusste davon?« Bei Andrew war das Gesagte schon weiter ins Bewusstsein vorgedrungen.
»Nicht viel länger als ich. Er teilt sein Wissen oft mit mir. Im besonderen auch diese Seite der Politik« Henry rang sich ein resigniertes Lächeln ab.
»Das ist doch Irrsinn!« Mit wenigen Schritten war Andrew bei ihnen. Er war ganz offen fassungslos, suchte in Henrys Gesicht nach einem Hinweis, dass es eine bessere Erklärung als das gab und fand keine. »Was passiert mit denen, die festgenommen wurden?«
»Ich weiß es nicht.« Es klang wie eine Entschuldigung. »Ich könnte mich umhören.«
Julian erschrak. »Henry ... bitte.«
»Vorsichtig umhören. Sehr vorsichtig.«
Die Aussage an sich, noch Henrys liebes Lächeln, vertrieben die Befürchtungen.
Alles, was vorher an romantischer Stimmung existiert hatte, war dahin. Jeder spürte das und Henry bedauerte es wirklich. Vermutlich nicht nur das.
Andrew war furchtbar bestürzt und Julian hätte Henry gern ein Versprechen abgerungen. Er wollte nicht seinen Liebsten in Machenschaften verstrickt wissen oder dass er sich in Gefahr brachte. Doch er hielt seinen Mund, was ihm schwerer fiel, als er je gedacht hatte.
»Ach, ich habe doch noch etwas für dich«, fiel Henry etwas ein, so froh vom Thema ablenken zu können. Er ging zu einem kleineren Reisekoffer. Gezielt durchsuchte er dessen Inhalt, fand schließlich, was er suchte.
»Deine verlorengegangene Uhr ...« Henrys Lächeln war scheu und unsicher, wie er wieder vor Julian stand. »und das verlangte Buch. Es wäre wohl seltsam, wenn du ohne, dass Haus verlässt.«
Ohne auch nur eines der beiden Dinge an sich zu nehmen, zog Julian ihn in seine Arme. »Versprich mir, dass du auf dich aufpasst«, gab er jetzt doch irgendwie seinem Drang nach.
»Natürlich.« Auch Henry umschlang ihn.
Ein Kuss besiegelte das Versprechen und gab Julian Hoffnung. So wurde ihm wieder leichter ums Herz. »Und keinen Brief?«, neckte er seine Liebsten.
»Oh, ich ...« Henry setzte doch tatsächlich zu einer Entschuldigung an.
»Das war ein Scherz. Dafür habe ich einen geschrieben«, lachte Julian.
»Wirklich? Hast du ihn dabei?«, fragte sein Liebster eifrig.
»Nein, auf Seashell Castle und das ist vielleicht auch besser so. Er trieft gerade zu von Sentimentalität und schwülztigen Worten, wie sehr ich dich vermisst habe und dein Dasein herbeisehnte.«