Die Kutsche schaukelte, als sie um eine Kurve fuhr. Julian wurde näher zu Andrew gedrückt und ihre Beine berührten sich. Es war leicht bewölkt, die Temperatur eigentlich als angenehm zu beschreiben, nur nicht für Julian selbst. Er rutschte wieder von seinem Freund ab, räusperte sich zum wiederholten Mal. Ihm war heiß und sein Krawattentuch schnürte ihm die Luft ab. So gern er Andrew hatte, Körperkontakt, mit wem auch immer, brachte seine angespannten Nerven an ihre Belastungsgrenze.
In seine eigenen betrübten Überlegungen versunken, war ihm nicht nur die Zuordnung des Termins der nahenden Hochzeit Lillinas in seinem durcheinander geratenen Zeitgefühl verrutscht, sondern auch die Tatsache, dass er dort andere Menschen außerhalb von Familie und nahen Freunden treffen würde. Durch Lillians und Percys verfrühten, ungezwungenen Umgang miteinander war die Feier kurzfristig und dadurch auch kleiner angelegt, was Julian zu Gute kam. Trotzdem erzeugte es ein beeinträchtigendes Unwohlsein, da er keine Ahnung hatte, in welchem Ausmaß sich diese Gerüchte schon verbreitert hatten. Wenn es besonders schlimm kam, würde er einen halben Tag gleich einem Spießrutenlauf vor sich haben.
Bald waren sie da. Das widerliche Gefühl in seinem Inneren verstärkte sich. Sein Mund war trocken und er versuchte zu schlucken. Nur wollte das nicht so recht klappen und er räusperte sich erneut.
»Julian?«, lenkte Andrew seine Aufmerksamkeit auf sich.
Kaum sah er ihn an, meinte sein Freund: »So wie immer.«
Das Gesicht, das Julian machte, animierte Andrew dazu, ihm ein Lächeln voller Zuversicht und Mitgefühl zu schenken. »Mach dich darüber lustig. Rege dich darüber auf. Spiel es herab. Es ist nur Gerede. Du schaffst das.«
Julian nickte kaum merklich. Dann sah er zu Josi, die ihnen gegenübersaß. Es war ihm unangenehm vor seiner Schwester, dass dieses Thema auch nur im Ansatz angesprochen wurde. Doch auch sie lächelte wohlwollend.
»Lord Julian. Schön, dass Ihr auch gekommen seid.«
»Nun ja, wir wohnen nicht weit weg und sind schon lange mit der Familie befreundet.« Er versuchte, die sich sträubenen Nackenhaare zu ignorieren.
»Oh, natürlich. Ich meinte damit: Schön, dass alle Familienmitglieder kommen konnten.«
Warum sagte sie dann nicht, was sie meinte? »Ja, das ist wahr. Wobei meine Schwester heute noch den Heimweg antreten wird. Sie geht voll und ganz in ihrer Mutterrolle auf.« Julian würde sich hüten, ihr Futter für ihre Gerüchteküche liefern.
»Das ist wirklich wundervoll. Und selten. Ich sehe gerade, mein Gatte verlangt nach mir. Ihr verzeiht?«
»Natürlich. Ich kann Euch gern zu ihm begleiten.«
»Sehr aufmerksam von Euch, aber nicht nötig. Ich habe lange genug Eure Zeit gestohlen und Euch von den jungen Damen ferngehalten.«
Julian mobilisierte seine verbliebenen schauspielerischen Fähigkeiten und lächelte etwas verschämt. Er verneigte sich. »Eure Gesellschaft war mir ein Vergnügen«, log er, dann sah er Lady Templeton hinterher. Sie ging auch tatsächlich zu ihrem Ehemann, der ihn genaustens im Blick hatte. Ein äußerst prüfender Blick. Julian hob sein Glas und nickte ihm mit freundlich-unschuldigem Lächeln zu.
»Verzeih, mein Lieber. Ich wollte dich wirklich nicht so lange allein lassen, aber Vikar Pennyworth konnte nicht aufhören, mich auf den rechten Pfad führen zu wollen. Wobei sich mir die Vermutung aufdrängt, der Pfad, den er einzuschlagen versuchte, auch gut und gerne in sein Schlafzimmer führen könnte.« Andrew spitzte leicht die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn. Kurz darauf jedoch erhellte ein Grinsen sein Gesicht und er zuckte mit den Schultern.
»Der Vikar hat ein Auge auf dich geworfen?« Für eine Weile wenigsten wollte Julian seine eigenen Bedenken verdrängen und sich mit seinem Freund amüsieren.
»Nun ja, ich wurde auffällig oft zufällig berührt, und jedes Mal, wenn sein Blick auf meinen Mund fiel, musste er sich die Lippen befeuchten.« Wie auch Julian sprach Andrew leise. Keiner von beiden hatte vor, den Geistlichen in Verruf zu bringen.
»Oh je. Der arme Mann. Er ist so tiefgläubig.« Julian fand den Vikar recht angenehm für einen Mann Gottes. Es kam selten vor, dass er in privaten Predigten die Leute zu einem Mehr an Glauben drängen wollte, außer … Julian entdeckte besagten Mann am Rande des Geschehens. Das Gesicht gerötet, mit einem Glas Champagner in der Hand. Beim Umherschauen heftete sich sein Blick in fast unschuldiger Faszination kurz an Andrew fest.
»Das ist er. Bedauernswert. Er sieht ganz passabel aus. Beobachtet er mich?« Andrew stellte sein Glas auf das Fensterbrett ab und sah auf die reflektierende Scheibe.
»Nur ganz kurz hin und wieder. Man könnte meinen, er weiß nicht recht, was mit ihm los ist.« Loyal gesellte sich Julians Glas zu dem seines Freundes.
»Das weiß er vermutlich wirklich nicht. Er ist zu gläubig, um auch nur solche Gedanken zuzulassen. Ich würde mich nicht wundern, wenn er befürchtete schon für sündige Vorstellungen allein, hinab in die Hölle zu fahren.« Ein wehmütiges Lächeln umspielte Andrews Lippen. »Zugegeben, sein Interesse schmeichelt mir, nur werde ich einen Teufel tun und ihn in eine bestimmte Richtung lenken.«
Noch einmal erwischte Julian Pennyworth beim Anhimmeln. »Aber ein Interesse besteht«, dabei fiel ihm auf, dass er das möglicherweise über beide sagen konnte.
»Ich denke schon. So sehr täusche ich mich nicht. Gut möglich, dass er sich sogar in einem schwachen Moment darauf einlassen würde, und danach wäre er ruiniert. Das ist es nicht wert.«
»So zurückhaltend wäre nicht jeder, mein Freund.«
»Zur Hölle mit denen. Ich will doch nicht sein Untergang sein. Abgesehen davon«, Andrew reckte die Nase ein wenig höher in die Luft, »bin ich ja wohl nicht jeder.« Dann neigte er seinen Kopf, um Julian fragend anzusehen. »Du würdest doch genauso handeln, oder nicht?«
»Vermutlich. Außer ich wäre verliebt. Dann hätte ich meine Zweifel.«
»Wo du recht hast … Glücklicherweise sind weder du noch ich in Liebe zu ihm entbrannt. Da ist seine Seele und seine Unschuld, von unserer Seite aus zumindest, in Sicherheit.«
Julian musste schmunzeln. Er sah über die restlichen Gäste hinweg zu Henry, der mit Percy redete. Beide wirkten gelöst in ihrem Umgang miteinander und Julian freute sich für ihn.
Die Musiker ließen auf Lady Evans Wink hin das letzte ruhige Stück ausklingen, um endlich mit den Tänzen beginnen zu können.
»Lass uns unsere Tanzparnerinnen suche.« Julian wollte es nicht als Pflicht ansehen und tat es im Allgemeinen auch nicht. Nur dieses Mal würde man ihn mehr als sonst im Auge behalten, da musste er überzeugend fröhlich sein.
»Wenigstens werden wir gut schlafen können, nachdem wir so gut wie keinen Tanz ausgelassen haben«, meinte Andrew, dessen Gesicht sich in einem hübschen aber oberflächlichen Lächeln erhellte, als er Miss Kingley, seine zurückhaltende, erste Tanzpartnerin, entdeckte.
Leider hatte Andrew, zumindest was Julian anging, nicht recht behalten, denn er lag wach und wartete seit einer ganzen Weile auf den ersehnten Schlaf. Man konnte nicht behaupten, die anderen Gäste des Festes waren ihm gegenüber unhöflich gewesen. Es war subtiler: Blicke, Getuschel hinter vorgehaltenen Händen und Fächern. Sein Vater hatte seine Autorität deutlicher als sonst zu Schau getragen und auch ein wenig die unleugbare Macht eines Dukes. Möglich, dass es nur deshalb beim Flüstern und Schauen geblieben war. Immerhin hatte Julian das ein wenig Sicherheit vermittelt. Trotzdessen klang das flaue Gefühl in seinem Magen nie ganz ab. Bei dem Trubel und der Ablenkung war es nicht immer ganz deutlich zu spüren gewesen, doch jetzt, allein in der Dunkelheit und Stille, konnte er sich nicht mehr davon ablenken. Er fragte sich, wie es wohl Henry ging. Sie hatten keine Möglichkeit gefunden, sich offen austauschen zu können. Aber sie hatten miteinander geredet, jedesmal im Beisein anderer, über dies und das. Nichts von dem Gesagten war weltbewegend. Im Gegensatz zu den verherenden Gefühlen, die Henrys Nähe in ihm auslöste. Denn zumindest Julians Welt geriet ganz gehörig ins Trudeln. All die Unsicherheiten machten es so schwer, ein Lächeln beizubehalten.
Seufzend drehe er sich von der Seite auf den Rücken, was im Übrigen wieder die Ausgangsposition war. Schon ganze zwei Mal hatte er versucht, auf jeder erdenklichen Seite Schlaf zu finden. Vergeblich.
Er glaubte, Durst zu haben. Nein, ziemlich sicher hatte er welchen. Behäbig und benommen vom Schlafentzug rollte er sich aus dem Bett, tapste schwankend zum Wasserkrug auf der Komode, nur um festzustellen, dass dieser leer war. Er fluchte und ließ den Kopf hängen. Die Hände links und rechts von dem leeren Behältnis aufgestützt, versuchte er, seinen trägen Verstand zu einer Entscheidung zu drängen. Er konnte sich wieder ins Bett legen und herausfinden, ob er, bevor er endgültig verdorrt war, einschlief, oder er machte sich auf in die Küche. Auch wenn die Überlegung durch sein verlangsamtes Denken andauerte, tendierte er dann doch recht eindeutig zu einer der beiden Möglichkeiten, da sich der Gedanke an frisches, kühles Wasser penetrant in den Vordergrund schob.