»Da lass ich gerade noch mal Gnade vor Recht ergehen«, meinte Edward bei einem Drink nach dem Spiel zu Andrew und Julian.
»Was? Ich habe überhaupt nichts gemacht«, gab Andrew entrüstet von sich und gewährte einen kurzen Einblick in die Vergangenheit ihres Geschwisterdaseins.
»Nicht du. Zumindest nicht dieses Mal.« Edward warf Julian einen vielsagenden Blick zu.
»Dieses Mal?«, murrte Andrew, dann lauter: »Was hat Julian denn ausgefressen?«
Sein Bruder grinste ihn an und sah ihm dabei ähnlicher. »Er hat sich vom jüngsten Evans Spross soufflieren lassen.«
Amüsiert sah Andrew seinen Freund an, dieser zuckte nur schief lächelnd mit den Schultern.
»Wir sollten uns bei ihm bedanken. Victoria und ich befürchteten schon die Kleine würde in Tränen ausbrechen oder ohnmächtig werden«, bemerkte Edward ohne jeglichen Spott.
»Sie tut sich wirklich schwer mit der Menge an fremden Leuten.« Für Julian war es kaum vorstellbar, da er immer unter Menschen war, wenn es nicht die Familie war, dann im Internat oder bei Freunden. Lady Jane hingegen wurde zu Hause unterrichtet und zwar in allem, was auch für männliche Nachkommen angebracht schien. Das zumindest hatte der Earl stolz verkündet und der Grund dafür war, dass nicht irgendein dahergelaufener Taugenichts sie übers Ohr hauen konnte. Er hatte sich geschworen, sie weder ungebildet, noch ahnungslos zurückzulassen. Julian fand es lobenswert, trotz des Wissens, dass Lady Jane es damit in manch einer Hinsicht nicht leichter haben würde. Er sah es an seiner Schwester, doch er mochte ihren geistreichen Intellekt und wenn es noch ein, zwei weitere Ladies dieses Schlages gab, hatte er absolut nichts dagegen. Abgesehen davon, und er wusste das es gehässig war, wurden Individuen wie Matthew Coverston damit das Leben erschwert.
Ein Blick in die Runde verriet ihm, dass diese bestimmte junge Lady, sich nahe der großen Fenster in Gesellschaft zweier etwa gleichaltriger Mädchen aufhielt. Im Gegensatz zu Jane übten die beiden sich jedoch schon fleißig darin erwachsen zu wirken. Kicherten und tratschten, wie sie es bei Älteren gesehen hatten.
Josi kam herangeschlendert, wirkte dabei abwesend.
»Keinen geeigneten Gesprächspartner gefunden?«, neckte Julian seine Schwester.
Sie wirkte überrascht, als hätte sie ihn gar nicht bemerkt. Ihr Blick huschte in die Richtung, in der sie unterwegs gewesen war. Neugierig sah Julian ebenfalls dort hin und entdeckte Joseph Stampleton.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er Josi an.
»Ich weiß, er ist ein Idiot«, wisperte sie verärgert über sich selbst.
Das Gespräch zwischen Edward und Andrew kam gerade gut ohne sein Zutun aus, so bot er seiner Schwester seinen Arm an und verabschiedet sich von den beiden mit einem Nicken.
Während sie ein wenig umherschlenderten, bestätigte er: »Ja, er ist ein Idiot. Aber ein extrem gutaussehender.«
»Was macht es dann aus mir, wenn ich ihn, trotz dieses Wissens, derart begaffe?« Josi war äußerst bedrückt über diese Anwandlung ihrerseits.
Julian schmunzelte, drückte kurz ihren Arm an sich. »Es macht dich zu allererst menschlich. Ein hübscher Anblick lässt die wenigsten kalt. Nur sag ich dir aus Erfahrung, dieser Bann wird schnell gebrochen, wenn du nach einigen Sätzen Konversation feststellst, du unterhälst dich gerade mit einer Person, deren Intellekt dem eines heruntergefallenden Sandwiches ähnelt.«
Damit konnte er Josi vorerst wieder zum Lachen bringen.
»Oh, und ich befürchte, du bekommst Konkurenz«, meinte er.
Seine Schwester blickte hin zu den Fenstern, zu denen Julian mit einer Bewegung seines Kopfes wies.
Lady Jane stand immer noch in der kleinen Gruppe, lächelte gezwungen, irgendwo zwischen Fassungslosigkeit und Verzweiflung.
»Oh«, kam es ernüchtert von Josi, nach dem erfassen der Situation, zurück. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mich schon wieder davonmache? Ich habe nämlich das dringende Gefühl, da könnte jemand meine Hilfe gebrauchen.« Sie lächelte entschuldigend.
Er grinste zurück. »Das sehe ich genauso.«
»Du ...« Josi begriff. »Das war von Anfang an dein Plan. Das hättest du auch einfach sagen können.«
»Das hatte ich vor«, verteidigte sich Julian fröhlich empört. »Du bist mir einfach zuvor gekommen.«
Kurz sah er seiner Schwester auf dem Weg zu ihrer Mission hinterher. Das war auf jeden Fall um Längen besser als Stampleton erfolglos anzuschmachen.
Er drehte sich zu den Willfords um und bemerkte gerade noch, wie Andrew zur Tür hinaus ging. Nicht verwunderlich, da sich Edward mit Lord Worthington unterhielt. Bei allem war Recht war, aber zu dieser Unterhaltung würde Julian nur unter Zwang dazustoßen. Worthingtons Leben war die Politik und wie auf Komando steuerte Reginald auf die beiden zu, begrüßte Edward freundschaftlich und Worthington höflich.
Julian sandte ein kleines Stoßgebet gen Himmel, um dafür zu danken, nach seinem Bruder geboren worden zu sein, dann richtete sich auf die Familie Evans aus.
Henry, dessen Vater und einer seiner älteren Brüder saßen beziehungsweise standen in der Nähe des Kamins und unterhielten sich mit Lord Wislemore.
Henry fühlte sich beobachtet, sah zu Julian, lächelte und forderte ihn mit einer kleinen Bewegung seines Kopfes auf sich ihnen anzuschließen.
Ohne dass es ihm bewusst war, schlich sich ein Lächeln auf Julians Gesicht. Er fragte sich, ob Henry es wohl ausnutzen würde, wenn er wüsste, dass Julian ihm keinen Wunsch abschlagen konnte.
Mit einem Glas Wein in der Hand lehnte sein Liebster am Kamin, beteiligte sich weniger an den Gesprächen als das er aufmerksam zuhörte.
Julian platzierte sich an dessen Seite, beugte sich zu ihm, dem Anschein nach die Anderen nicht stören zu wollen und flüsterte Henry »Ich liebe dich« ins Ohr.
Das freundlich, wohlwollende Lächeln wirkte plötzlich etwas verkrampft und die samtenen braunen Augen weiteten sich vor Überraschung. Zitternd atmete Henry aus und schluckte. Julian glaubte zu erkennen, wie sich die Wangen seines Liebsten leicht röteten.
»Henry?« Lord Evans drehte sich zu ihnen um. »Kein Bediensteter in Sicht, Junge. Könntest du dich erbarmen und mir nachschenken?«
»Natürlich.« Henry ließ sich das leere Glas reichen.
Um zu dem Wagen mit den Dekantern zu kommen, musste er an Julian vorbei. Ziemlich unsanft trat er ihm dabei auf die Zehen. Bemüht das Gesicht nicht zu verziehen, biss sich Julian auf die Zungenspitze. Das hatte er wohl verdient.
»Mir war nicht bewusst, wie unverfroren du sein kannst.« Henry lachte leise.
Sie gingen in der Dämmerung einen der kleinen Wege zwischen den Wiesen auf der Nordseite des Schlosses entlang. Sie waren nicht die Einzigen, die sich dazu entschlossen hatte. Allerdings war die Entfernung zu den nächsten Spaziergängern ausreichend groß, um der Diskretion genüge zu tun.
»Verzeih. Es war nur ... Als ich dich dort so stehen sah, überkam es mich ganz plötzlich«, sagte Julian leise. Die durch den warmen Sommerwind herübergetragenden Wortfetzen mahnten ihn zur Vorsicht.
»Dir sei vergeben.« Mit einem Grinsen bedachte Henry ihn und entfachte ein leichtes Flattern in Julians Inneren. »Besonders da es auf Gegenseitigkeit beruht«, meinte er sanft und biss sich kurz verlegen auf die Unterlippe.
Julian holte tief Luft. Die Worten hatten getroffen, im Besonderen sein Herz. »Ich hätte das wirklich nicht vor allen sagen sollen«, gab er zerknirscht zu, weil er gerade mit dem unbändigen Drang kämpfte, Henry umarmen und küssen zu wollen.
Sein Liebster tat, als trete er auf eine Unebenheit, strauchelte gegen ihn. Ihre Hände berührten sich für wenige Augenblicke.
»Du könntest es wieder gut machen. Vielleicht in einer der Nächte hier? In meinem Zimmer?« Die Hände auf dem Rücken, ging Henry nun neben ihm, als unterhielten sie sich über das Wetter.
Urplötzlich spürte Julian seinen Herzschlag in seinem Kopf und dann wesentlich tiefer. Es was das erste Mal, dass sie ihre Zimmer sehr dicht beieinander hatten. Er musste nur schräg über den Flur huschen und war schon bei ihm. Allerdings ... »Ist Milos Kammer nicht auch direkt an dein Zimmer angeschossen?« Denn das war bei ihm und Giles der Fall.
»Doch, schon«, bestätigte Henry. »Deshalb sollten wir auch leise sein.«
»Und wenn er dennoch aufwacht?« Die Vorstellung von wem auch immer bei einem amorösen Unterfangen mit Henry erwischt zu werden, fand er ausgesprochen unschön.
»Ich sage ihm, ich erwarte noch Besuch und möchte nicht gestört werden.«
»Es könnte dennoch sein ...« Julian war hin und hergerissen zwischen Vorfreude und Bedenken.
Henry kicherte. »Glaub mir, wenn ich mit meinem Besuch ungestört sein möchte, wird Milo auch nicht stören.« Dann warf er Julian einen bedeutungsschwangeren Bick zu.
»Ach« Jetzt verstand Julian es auch. »Er weiß es?«
»Er kann es sich denken.«