Ihre Wege verloren sich im Laufe des Abends. Julian nahm an, Andrew sei Kartenspielen gegangen. Möglich, dass er wieder den Plan hatte, einen unliebsamen Herren, um einige Pfund zu erleichtern. Sorgen, sein Freund könne der Spielsucht verfallen, hatte er nicht, dazu war dieser viel zu kontrolliert im Umgang mit Geld.
Es wurde eine kurzweilige Veranstaltung mit interessanten und amüsanten Gesprächen.
Lord Kearlight gewann Sympathiepunkte, als er bei einem zufälligen Gespräch das Thema Pferde sofort fallen ließ, nachdem er bemerkte, Julian teilte sein Wissen nicht. Statt dessen zog sich ihre Unterhaltung von Architektur über Kleidung hin zu Kunst. Der Mann hatte weit mehr Interessen als angenommen und eine tiefe, ruhige Stimme, die das Zuhören allein schon zu einem Genuss machte. Wenn Julian angenommen hatte, Lord Kearlights Söhne, die er dieses Mal mitgebrachte, wären nach ihrem Vater geschlagen, wurde er bitter enttäuscht. Beide waren endlos langweilig. Selbst beim besten Willen war keine höflichere Beschreibung möglich und es schien, als wäre selbst ihr eigener Vater von ihrer Tristesse immer wieder aufs Neue überrascht.
Der Ältere der Beiden traf mit seiner Verlobten hier zusammen und während die beiden steifbeinig und seicht tanzten, suchten Julian Schreckensvisionen des Paares im Ehebett heim. Der Jüngere indes bemühte sich um ein blutarmes, stilles Geschöpf, dass passender für ihn nicht hätte sein können.
Wenn es nicht so indiskret gewesen wäre, hätte Julian Lord Kearlight sein Beileid ausgesprochen.
Josi war natürlich erfreut diesen Gentleman wiederzusehen. Unverblümt rieb sie ihm den Besitz ihrer neuen Stute unter die Nase, wobei sie die Wahrheit ein wenig verdrehte und behauptete Andrew handelte in ihrem Namen. Den Lord amüsierte es, blieb jedoch respektvoll seinem jungen, weiblichen Gegenüber.
Des Weiteren überredete sie ihn wieder zu einem Tanz und schürte damit Gerüchte, die beide mehr als kalt ließen.
Lord Wendridge trat in Begleitung seiner Gemahlin zu seinem Sohn.
»Du amüsierst dich?«, fragte er das Offensichtliche.
»Ja. Ich behalte, vorbildlicher großer Bruder der ich bin, Josephine im Auge.« Julian nickte hin zur Tanzfläche, auf der seine Schwester fast winzig gegenüber Lord Kearlight wirkte.
»Ihr haltet den Mann also in Beschlag. Wenn ihr mich in eure Pläne einweiht, gebe ich euch demnächst vielleicht Nachrichten mit«, lachte sein Vater vergnügt.
»Wir als Kuriere? Versuchen wir es anfangs doch erst einmal mit etwas Harmlosen wie netten Grüßen. Es wäre zu schade, wenn wir das Empire ins Verderben stürzten, nur weil irgendwer in Josis Gegenwart Pferde erwähnt oder mich ablenkt, in dem mir jemand glaubhaft vermittelt, dass Lord Thornton ein Auge auf Lady Evelyn geworfen hat, diese jedoch den Vorzug Lord Livingston geben würde, könnte er sich endlich entschließen seine Affäre mit Lady William zu beenden, was er vermutlich nicht tun wird, da angenommen wird, er sei der Vater ihrer Zwillinge.« Er versuchte ernst zu bleiben und brachte damit seine Eltern damit erst recht zum Lachen.
»Meine Güte, Julian. Wie schaffst du es nur, dass dir den ganzen Abend Gerüchte zugetragen werden?«, kicherte seine Mutter.
Julian sah sie entgeistert an. »Das waren die Gerüchte der letzten halben ... gut, sagen wir dreiviertel Stunde.«
Seine Eltern konnten nur noch lachend den Kopf schütteln. Die Idee, ihn für irgendwelche Zwecke einzusetzten, war damit wohl vom Tisch.
Am Tag nach dem Ball blieb Julian lange im Bett. Er war allgemein spät aufgewacht. Zum einen, weil es eine lange Nacht gewesen war, zum anderen, wurde es durch den mit dunkelgrauen Wolken behangenen Himmel nicht wirklich hell. Einige von den unzähligen zur Verfügung stehenden Kissen hinter den Rücken gestopft, saß er im Bett, mit den Gedanken meist bei Henry. Giles brachte ihm das Frühstück und gerade wollte er ansetzten, um ihn zu bitten, den Brief an seinen Liebsten abzusenden, am Vortag hatte er es doch tatsächlich vergessen, da hielt er inne. Schon am gestrigen Abend, fand er es bedauerlich nicht mit Henry reden zu können, über den Ball, die Gäste, einfach über alles. Kurz entschlossen verfasste er einen zweiten Brief mit einem Bericht über das vergangene Fest.
Er fand es nicht peinlich, amüsant alle mal, dass er jemandem derart zugetan war, um ihm vom Tagesgeschehen berichten zu wollen.
Andrew würde sicher auch darüber lachen wollen. So klopfte Julian, nachdem alle Schreiben in Giles vertrauenswürdige Hände übergeben waren, an die Verbindungstür.
»Was kann ich für Euch tun?« Timothy sah ihn mit seinen etwas zu groß geratenen Augen fragend an.
»Ist Lord Andrew zu sprechen?« Julian war verwirrt.
»Er ist ausgeritten.« Der zierliche Mann vor ihm machte einen empörten Eindruck.
Die Blicke von beiden wanderten zum Fenster, hinaus zu dem dunklen Himmel, vor dem ein kräftiger Wind an den Bäumen im Park zog und zerrte.
»Gut. Dann sehe ich ihn sicher später.« Zu Julian Verwunderung kam nun auch noch Besorgnis.
Wie viel später, hatte er zu diesem Zeitpunkt nicht geahnt.
Erst weit nach dem Abendessen konnte er erhobene Stimmen aus dem Nachbarzimmer hören. Wobei es eher Timothy war, der schimpfte und klagte und damit dem besten Klieschee einer besorgten Ehefrau gerecht wurde.
Erst als die Stimmen leiser wurden, wagte es Julian zu klopfen.
Es war Andrew, der öffnete. Dabei sah er ziemlich wild um die Haare aus. Insgesamt wirkte er erschöpft, aber wohlauf.
»Du bist ins Unwetter geraten?« Das war mehr als offensichtlich und Julian hoffte, sein Freund würde ihn ein paar Details mitteilen, oder eben auch nicht.
»Ich wollte den Kopf ein wenig frei bekommen.« Andrew verdrehte die Augen. »Zu dem unpassendsten Zeitpunkt natürlich. Ich fand Unterschlupf in einer leerstehenden Hütte und wartete das Unwetter ab. Ein Wunder, dass ich den Weg zurück gefunden habe. Mein Orientierungssinn übertrifft kaum den eines Kleinkindes.«
Julian lächelte. es war sich recht sicher, dass Andrew etwas wie Furcht verspürt hatte, so allein auf fremden Gebiet mitten in einem Sturm. »Ich bin froh dich wieder in Sicherheit zu wissen. Lord Langley hat schon nach dir suchen lassen.«
»Ja, sie kamen mir entgegen. Und ich danke, wem auch immer, dass ich schon auf dem Rückweg war und sie mich nicht verängstigt aus der baufälligen Hütte bringen mussten.« Er lachte über sich selbst.
»Lieber Herr im Himmel, Ihr habt Eure Schuhe komplett ruiniert!«, keuchte im Hintergrund Timothy nahe einer Ohnmacht.
»Vielleicht kann ein Bonus für meinen geschätzten Kammerdiener sie noch retten«, meinte Andrew laut und ließ damit die Stimme hinter ihm verstummen. »Und was hast du den lieben langen Tag getrieben?«
»Ich?« Da Andrews Tag einem aufregenden Abenteuer glich, erschienen Julian seine eigenen Beschäftigungen eher lächerlich öde. »Ich habe noch einen Brief geschrieben«, meinte er leise.
Andrew trat ganz ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. »Henry?«
Unabsichtlich verlegen bejahte Julian mit einem Nicken. »Es ist albern, ich weiß. Den ersten hatte ich vergessen abzuschicken und nun habe ich den zweiten hinzugefügt. Langsam befürchte ich, Henry wird sich über mich totlachen.«
»Wohl kaum. Er wird sich freuen und nach seiner Rückkehr dieser Freude auch Ausdruck verleihen«, prophezeite sein Freund mit schelmischem Grinsen.