Der Earl hatte dafür gesorgt, dass den anwesenden Kindern nicht langweilig wurde. Es waren allerlei Spiele vorbereitet worden und an einem Nachmittag wurde im großen Saal fröhliche Musik gespielt. Die Kleinen sprangen umher, tanzten wilde Eigenkreationen. Die zuständigen Kindermädchen teilten sich fast genau in zwei Lager. Die einen rangen leicht hilflos mit den Händen oder pressten die Lippen angespannt zusammen. Die anderen hingegen lachen und machten bei dem bunten Treiben mit. Ganz ähnlich zweigeteilt waren auch die restlichen Erwachsenen. Ein nicht unerheblicher Teil von ihnen mied das bunte Treiben. Sie verschwanden nach draußen, um zu Fuß oder per Pferd zu flüchten oder verbarrikadierten sich in ihren Zimmern. Alle anderen mussten sich entweder eine überzeugende Entschuldigung einfallen lassen, um nicht an Spiel und Tanz teilzunehmen oder eben teilnehmen.
Julian war gerade von Henry abgelöst worden, der sich mit samt einigen anderen Mutigen an einer frei interpretierten Quadrille der Kinder versuchte. Die Erwachsenen lachten fast unaufhörlich, vor Freude und Verlegenheit gleichermaßen. Keinem war wirklich klar, wann welcher Schritt zu machen war, ganz zu schweigen davon, wer wem die Hand reichen sollte.
Der Earl saß in einem weichen Sessel, klopfte mit seinem Stock den Takt und wischte sich immer wieder Lachtränen aus den Augenwinkeln.
Seine Enkelin war auf Sophies unerbittliches Drängen hin ebenfalls auf der Tanzfläche und wirkte schon ein wenig gelöster.
Gerade kam Josi in Begleitung von Victoria durch die offene stehenden Terrassentüren in den Saal. Ihre Wangen waren gerötet und gelöste Strähnen verrieten, dass sie sich an einem der Spiele draußen versucht hatten. Hinter ihnen huschte Brandon herein, sah sich kurz um und entdeckte Lady Jane beim Tanz. Recht sichtbar verlor für ihn die Welt ringsherum einige Momente lang an Bedeutung.
Dieser erste zarte Funken von Interesse, Julian grinste. Er hatte auch für jemand älteren geschwärmt. Es war eine bitter-süße Erinnerung, die er vergessen zu haben glaubte.
Seine Schwester trennte sich von Edwards Frau und kam zu ihm hinüber.
»Du hast dich im Garten gut amüsiert, wie ich sehe«, begrüßte er sie.
»Nach einer fast gewonnenen Partie Ringewerfen, hab ich eine von drei Runden Cricket für mich entscheiden können.« Josi strahlte. »Was ist mit dir? Hast du auch schon Erfolge verbuchen können?«
»Ich hatte das Vergnügen an der Neuinterpretation altbekannter Tänze beteiligt zu sein, wobei mich Caroline und Georgina sehr hilfsbereit angeleitet haben.« Er grinste hinüber zu Henry, der mit beiden seiner blondgelockten Nichten versuchte gleichzeitig zu tanzen, nach einem Takt, der nicht der hörbaren Musik entsprach.
»Und ich habe das verpasst.« Josi fand das bedauerlich und Julian ahnte, warum.
»Lady Josephine.«
Julian widerstand dem Impuls, sich von der Stimme wegzubewegen. Seine Nackenhaare hatten sich auf unangenehme Weise aufgestellt.
»Lord Julian.« Coverstons Tonlage hatte sich von erfreut zu abfällig gewandelt.
»Lord Matthew«, stellte Julian mit kaltem Lächeln fest.
Die Geschwister warfen sich im stummen Verstehen ein Blick zu, der wenig Begeisterung über ihren neuen Gesprächspartner erkennen ließ.
Dieser blasierte Kerl hatte keinen Hehl daraus gemacht, wie enervierend er die Anwesenheit der Kinder fand, was Julian zu einem gewissen Maß freute, da diese Einstellung Coverstones, sie von der Anwesenheit eben jener anstrengenden Person befreite.
Doch nun stand er hier und hätte Julian nicht sofort ein oder zwei Ideen gehabt, weshalb sich Coverstone trotzt Abneigung hier aufhielt, wurde das im nächsten Moment ausgesprochen deutlich.
Wie selbst verständlich ergriff Matthew Coverston Josis Hand und führte sich zu seinen Lippen. Er wagte es den Kuss nicht nur zu hauchen und Julian knirschte mit den Zähne, genau auf die Reaktion seiner Schwester schauend.
Es erstaunte ihn, dass sie ihm nicht sofort ihre Hand entzog. Stattdessen beließ sie sie in dieser Position und sah ihn ausdruckslos in die Augen, einzig ihre linke Augenbraue hatte sie hochgezogen.
Der Mann vor ihr war ganz offen überfordert von ihrer brüsken Reaktion auf seine Annäherung.
Er räusperte sich und ließ sie endlich los. »Es ist wirklich nett von Lord Wistlemore ein so unkonventionelles Fest zu veranstalten. Eine hübsche Abwechslung zu sonstigen Bällen«, wand er sich direkt an Josephine.
Als sie mit einem knappen »Ja« antwortete, kämpfte er mit seiner Contenance.
Gerade erweckte er den Anschein, als wolle er sich verabschieden, da entdeckte er jemanden. Er gab ein überzeugend empörtes »Ach« von sich.
Rein aus Reflex sahen sich Josi und Julian um.
»Wieso man ihn überhaupt einläd?« Coverstone schüttelte den Kopf. »Unglaublicher ist allerdings, dass er nicht von sich aus fernbleibt.« Daraufhin folgte ein Schnauben, dass all die Geringschätzung für diese gewisse Person ausdrückte.
Julian war sofort klar, auf wen sich Coverstone bezog. William Shelly. Er musste in etwa sein Alter haben, möglicherweise auch ein wenig älter. Sein Vater war im vergangenen Jahr wegen Verrats angeklagt worden. Bevor es jedoch zur Verhandlung kam, verschwanden er und seine Frau auf der Rückreise von Spanien auf hoher See. Um gewisse erhitzte Gemüter zu beruhigen, wurde der Titel, der nun eigentlich William Shelly zustand, ausgesetzt. Erst wieder sein zukünftiger Sohn durfte sich Earl of Alderwood nennen. Trotz des mittlerweile weniger guten Ansehens seiner Familie tauchte Shelly immer mal wieder bei Gesellschaften auf. Es war eine naheliegende Vermutung, dass er nach einer geeigneten, oder eher nach einer geneigten Braut Ausschau hielt.
Was Coverstone wohl ärgerte, und das tat es zweifelsfrei, war, dass der wortkarge Mr. Shelly verflixt gutaussehend war. Mit dieser geheimnisvollen Aura von Gefahr bepaart mit einem Fünkchen Traurigkeit, dem zurückhaltenden Auftreten und dem hübschen aber äußerst sparsam dosierten Lächeln wurde er in den Augen von Coverstone zu dessen Konkurrenten.
»Warum sollte er auch die Einladung ausschlagen. Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen.« Josi zuckte, vordergründig gelangweilt, mit den Schultern.
»Liebste Josephine«, begann Coverstone schmeichelnd süßlich. »Da geht es um weit mehr als nur nachgewiesene Verbrechen, aber eine wunderschöne Lady wie ihr, sollte sich über so lästige Angelegenheit überhaupt keine Gedanken machen.«
Julian war sich nicht sicher, ob er hörbar die Luft eingezogen hatte. Das Gesicht seiner Schwester war zu einer Maske versteinert, hinter der sie mühsam um Beherrschung rang. In ihren Augen loderte es. Noch ein weiteres unbedachtes Wort und sie würde Coverstone einäschern.
»Solch unschöne Überlegungen bringen ein so zartes Gemüt nur aus dem Gleichgewicht.«
Josi öffnete den Mund. Schnell legte Julian ihre Hand auf seinen Arm, riss sie regelrecht an sich. »Ah sieh nur. Andrew möchte etwas von mir. Du begleitest mich doch?« Und dann meinte er noch hastig zu Coverstone: »Hat uns gefreut.«
Oh weiteres zog er seine Schwester hinter sich her. Andrew war zwar eben erst erschienen und hatte sich noch gar nicht bemerkt, doch das war nebensächlich. Wichtig war Josi außer Reichweite zu bringen.
Sie atmete tief durch. »Danke. Vermutlich wäre sonst etwas passiert, das mich mindestens ins Gefängnis gebracht hätte.« Noch war ihr nicht nach lachen zu mute, dafür hatte sich ihre Wut noch nicht ausreichend gelegt.
»Nicht doch. Das wäre eindeutig als Notwehr bewertet worden. Dennoch wollen wir doch Lord Wistlemore Blut auf seinen Parkett ersparen.« Julian tätschelte ihr aufmunternd die Hand.
Mit jedem weiteren Schritt erlangte sie mehr und mehr Kontrolle über ihren Zorn, bis sie ihn schließlich ernüchtert mit diesem gewissen Bedauern ansah.
»Nicht alle Männer sind so, Josi«, versuchte er sich zu beruhigen.
»Du meinst, es gibt welche, die keine stillen, hübschen Dummchen haben wollen, die sich anstandslos dem Willen ihres Gatten beugen?« Obwohl ihre Worte vor Zweifel nur so trieften, war der Gundtenor des Gesagten schlichte Niedergeschlagenheit.
»Ich denke doch, ja. Himmel, es wäre ja schrecklich absurd, wenn alle Männer gleich wären.« Dass die Anzahl derer, die Josis Anforderungen entsprachen vermutlich eher gering war, behielt er für sich.
Sie sah ihn von der Seite her an, nachdenklich. Dann zog sie einen Mundwinkel in einer Art wissenden Lächeln nach oben und es zwickte kurz in Julians Magen.
Ihr Blick wanderte hinüber zu Shelly. »Ob er wohl anders ist?«, fragte sie leise.
Er konnte nicht vermeiden etwas wie Mitleid mit seiner Schwester zu empfinden. »Das weiß ich nicht. Er war schon immer eher zurückhaltend und wenig in der Gesellschaft unterwegs. Nur ...« Die folgenden Worte wiederstrebten ihn und doch hielt er es für angebracht sie zu äußern und das obwohl er seine Schwester keineswegs für naiv hielt. »Solltest du in Erwägung ziehen Mr. Shelly Hoffnungen zu machen, sprich vorher bitte mit Vater. Ich habe keine Ahnung wie gefestigt das politische Lager rund um ihn ist.«
Komplett undamenhaft stöhnte Josi auf. »Wie lächerlich das alles ist. Charakter oder ob wir zusammenpassen ist zweitrangig.
»Das eine muss das andere doch nicht ausschließen«, warf Julian kleinlaut ein. Es waren zu viele unpassende Paare bekannt.
Das wusste auch Josi, deshalb sah sie ihn auch an, als hätte er einen schlechten Scherz gemacht. »Manchmal wünschte ich nicht die Tochter eines Dukes zu sein.«
»Das glaub ich dir gern. Über Derlei Dinge macht sich Maggie vermutlich kaum Gedanken«, meinte Julian. Maggie war die siebzehnjährige Tochter ihrer Haushälterin in London und liebäugelte mit einigen jungen Männern, die zu gern dem hübschen, lustigen Mädchen einen Ring an den Finger stecken würden.
Seine Schwester gestattete sich kurz die Vorstellung, jemand wie das fröhliche Zimmermädchen zu sein. Abrupt erlosch das Lächeln und sie schaute ihren Bruder getrieben an. »Dann wäre Mrs. Hoover meine Mutter.«
Beim Gedanken daran eines ihrer Kinder zu sein, musste selbst Julian schlucken. Hätte die britische Armee Frauen in ihren Reihen geduldet, wäre Mrs. Hoover sicher nicht nur dort zu finden gewesen, sie hätte in schnellstmöglicher Zeit einen Befehlsposten innegehabt. »Es ist vielleicht doch nicht ganz so übel, wie wir es getroffen haben.«
Sie grinsten sich an.
»Was ist nicht so übel?« Andrew war ihnen entgegengekommen.
»Wir haben überlegt, ob es heiratstechnisch nicht einfacher wäre, wenn wir der Arbeiterklasse angehören würden«, erklärte Josi.
Andrew öffnete den Mund, sah sie einen Moment irritiert an. »Ihr wisst aber schon, das Arbeiterklasse Arbeit bedeutet?« Er verzog betroffen das Gesicht, was den Geschwistern das erste Grinsen entlockte. »Was würdet ihr dann machen?« An Josi gewandt, meinte er: » Als Zimmermädchen putzen bis die Finger wund sind? Und du?« Er richtete sich an Julian. »Ich weiß nicht. Schwierig. Vielleicht Hausdiener?« Es zuckte leicht um seine Mundwinkel. »Vielleicht bei Mrs. Willbour?«
Julian konnte es nicht lassen, ihn mit hochgezogenen Augenbrauen bedeutungsvoll anzusehen, während Josi sich bemühte nicht zu laut zu lachen, da allen der ständige Verschleiß an jungen Männern im Hause der Witwe Willbour bekannt war.
»Nun, dann wären wir wohl beide auf die eine oder andere Art wund«, kam es mit zuckersüßem Lächeln von Josi.
»Josi!« Was hatte man seiner Schwester auf diesem verdammten Mädcheninternat beigebracht?
Gerade wollte sie antworten, da bemerkte sie wie Lord Evans samt seinem jüngsten Sohn in Hörweite kam und senkte lieber den Blick, allerdings mit einem deutlichen Grinsen.
Die beiden Herren steuerten auf die kleine Gruppe zu. Kaum da, legte Lord Evans Andrew und Julian kameradschaftlich die Arme um die Schultern.
»Da sind ja die Jungs«, freute er sich.
Henry war gleichzeitig peinlich berührt und amüsiert, wie sein gequältes Lächeln verriet.
»Ihr kommt doch morgen mit auf den Jagdausflug? Natürlich kommt ihr mit. Oh, ich habe es geliebt mit meinen Freunden auf die Jagd zu gehen«, schwärmte Henrys Vater und schwelgte in der Vergangenheit. »Wir blieben dann oft in der alten Jagdhütte. Kennst du sie noch?«, fragte er seine Sohn. »Wir haben sie später an Mr. Lovings vermietet, weil wir keine Zeit mehr hatten für längere Ausflüge. Nun ist der gute Mr. Lovings zu alt geworden und verbringt seine restliche Lebzeit bei seiner Tochter. Habe ich dir das eigentlich schon erzählt? Nein? Ja, jetzt steht das Häuschen erst einmal wieder leer. Vielleicht kommt ihr Jungs morgen auf den Geschmack und trete in die Fußstapfen eurer Väter.« Lord Evans tätschelte Julian und Andrew die Schultern.
»Warum nicht? Ja«, kam es überraschend von Hernry.
Als Julian ihn verwundert ansah, bemerkte er dessen vielsagenden Blick und wie er endlich verstand, zog es unanständigerweise recht heftig in seiner Lendengegend.