»Setz dich, Julian«, wurde er von seinem Vater aufgefordert, als er das kleine, ein wenig unordentliche Arbeitszimmer betrat. Es war das eher privat genutzte Zimmer seines Vaters, nicht der große Raum, den er sich mittlerweile nicht nur mit seinem Sekretär, sondern auch mit Reginald teilte. Dieses hier strahlte eine behagliche Ruhe aus, trotz herumliegender Papiere und Bücher. Sie beiden Sessel vor dem Schreibtisch aus Kirschbaumholz waren erst letztens wieder aufgepolstert und mit smaragdgrünem Brokat bezogen worden.
Julian setzte sich und wartete neugierig, was sein Vater wohl von ihm wollen könnte. Augen, die seinen so ähnlich waren in Form und Farbe sahen ihn aufmerksam an.
»Innerhalb der Familie halte ich mich vorzugsweise nicht mit langen Reden auf und vermeide es, um den heißen Brei zu reden. Das weißt du. Ich tue das nicht aus mangelndem Respekt, sondern weil wir uns alle nahe genug dafür stehen.«
Rein mechanisch nickte Julian zustimmend. Was war das für ein seltsamer Beginn für eine Unterhaltung.
»Seit kurzem sind Gerüchte im Umlauf. Prekäre und recht deutliche Gerüchte, dich und Henry Evans betreffend.«
Von einer Sekunde auf die andere war die Welt von einem grauen Rauschen verschluckt worden. Julians beschleunigter Herzschlag fühlte sich fern seines Körpers an und seine Haut schien kalt zu glühen. »Was?«
»Eine bisher noch unbekannte Person gab an, dich und ihn in einer kompromittierenden Situation überrascht zu haben.«
Seine Gedanken rasten derart schnell im Kreis, dass es Julian unmöglich war, auch nur einen zu fassen. »Was?« Er war sich nicht sicher, ob er das zum wiederholten Male gefragt hatte.
»Ich habe einige vertrauenswürdige Leute darauf angesetzt, herauszufinden aus welcher Ecke diese Aussagen kommen.« Lord Wendridge atmete tief durch. »Nun ist die Frage, Julian, besteht die Möglichkeit, dass man dich in einer Art mit ihm gesehen haben könnte, die derlei Mutmaßungen befeuern?«
Es war unmöglich für Julian seinem Vater noch anzusehen. Er konnte es nicht abstreiten, nicht nur aus emotionalen Gründen Henry gegenüber. Wenn es verlässliche Augenzeugen für ein Stelldichein zwischen ihnen gab, war es unumgänglich für seinen Vater dies zu wissen, um sein weiteres Vorgehen darauf abzustimmen. Nur, wie konnte er derartiges ihm zugeben?
»Ich …«, seine Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern. Scham und Angst brannten in seinem Bauch, in seinen Augen, auf seiner Haut. Seine Hände auf seinen Knien zitterten in einem anderen Takt als der Rest von ihm.
»Mhm«, hörte er nach einer gefühlten Ewigkeit, in der er verzweifelt versucht hatte, zu seinen Taten und Gefühlen zu stehen, von seinem Vater. »Ich verstehe. Ich werde das als ein Ja werten.« Ein winziger Unterton ließ eine Frage vermuten.
»Vater …« Er schaffte es nicht irgendetwas zu sagen. Der Gedanke, die Liebe und den Respekt von dem Mann zu verlieren, zu dem er seit jeher aufgeschaut hatte, dessen Zuspruch ihn alle Widrigkeiten überstehen ließ, zu verlieren, legte sich wie ein ständig enger werdender Strick um seinen Hals.
»Vielleicht solltest du dich ein wenig auf dein Zimmer zurückziehen. Ich habe Andrew Bescheid geben lassen, dass du ihn dort erwartest.«
Julian nickte. Die neutrale, beherrschte Haltung des Dukes ließ ihn noch weiter in Furcht versinken. Sein Körper wie von einem entfernten Ort steuernd, erhob er sich. Er konnte sich selbst kaum noch wahrnehmen. Noch einmal schaffte er es seinen Vater anzusehen, flehend, darum bittend, ihn nicht dafür zu hassen, was er war. »Verzeih.«
Gerade hatte er seine kalte Hand auf die Klinke gelegt, sich danach sehnend, sich zu verstecken, da hielt ihn die Stimme es Dukes noch einmal kurz zurück. »Ich möchte dich noch bitten, auf diskreditierende Treffen mit Henry so lange zu verzichten, bis wir Genaueres wissen.«
Ohne dass sein Vater es bewusst tat, zerschlugen seine Worte Hoffnungen voller Liebe und Geborgenheit zu scharfkantigen Splittern. Der Schmerz war allumfassend und nicht zu beherrschen. So betäubte sein Geist zum Schutz vorerst jegliche Gefühle.
In seinem Zimmer war es still und der Weg dorthin war seinem Gedächtnis verloren gegangen. Giles jetzt unter die Augen zu treten, in einem Zustand, bei dem Julian glaubte, jeden Moment die Kontrolle zu verlieren, wäre eine weitere Schmach.
Er stand nur da, sah von Weitem hinaus aus dem Fenster, in eine Welt, die leuchtete und blühte, voller Wärme und Zuversicht und er war kein Teil mehr davon.
»Du lässt dich in dein Schlafzimmer beordern? Das hatten wir so auch noch …«
Julian hatte sich zu Andrew umgedreht und ihn allein durch seinen Anblick unterbrochen.
»Was …«, Andrew schloss die Tür und drehte den Schlüssel herum. »Was ist passiert?«
Wie sehr wünschte sich Julian in diesem Moment, sein Freund könnte Gedanken lesen. Der Unglaube darüber, in welch einer Situation er sich auf einmal befand, raubte ihm die Luft zum Atmen und klare Gedanken gleichermaßen.
»Bitte, Julian. Sag mir, was passiert ist«, flehte Andrew ihn an.
Die unübersehbare Sorge seines Freundes brach den Bann. »Es gibt Gerüchte über Henry und mich.«
Irritiert verzog Andrew fragend sein Gesicht. Ihm war klar, dass es mehr als das sein musste, denn Gerüchte gab es immer.
»Mein Vater hat mich deshalb zu sich kommen lassen.« Eine merkwürdige Übelkeit stieg in ihm auf. »Wir waren doch immer vorsichtig.« So nahe an den Tränen war seine Stimme ein ersticktes Wispern.
»Ja, natürlich«, bestätigte Andrew betroffen. Er brauchte etwas, um das gehörte einzuordnen. »Es tut mir so leid.« Er kam heran und nahm ihn bei den Schultern, versuchte sich an einem aufmunterndem Lächeln. »Dein Vater wird sich darum kümmern. Weißt du denn genaueres?«
Julian schüttelte nur den Kopf und wurde herangezogen. Er lehnte sich an. Verängstigt, wie er war, kam ihm Andrews Stärke gelegen.
»Keiner weiß irgendetwas über Henry und dich«, wisperte dieser ihm zu. »Mich darfst du getrost ausklammern. Das weißt du hoffentlich.«
Natürlich wusste er das und nickte den Kopf auf die Schulter eines Freundes gelegt. »Alle Welt vermutet es aber«, flüsterte er verborgen das Gesicht verborgen am Kragen. »Und … Mein Vater … Ich habe es ihm bestätigt.« Er hob den Kopf und sah Andrew vor seinen Augen verschwimmen.
Wieder wurde er herangezogen. »Er liebt dich, Julian. Daran wird sich nichts ändern.«
Es war noch nicht alles, was ihn belastete. »Ich werde Henry verlieren.« Er konnte ein Schluchzen nicht zurückhalten.
Andrew schloss die Arme um ihn, hielt ihn noch ein wenig, bevor er ihn losließ. »Komm.« Er ging hinüber zum Bett, entledigte sich Frack und Weste, bevor er sich hinlegte. Als Julian ihm nicht folgte, streckte er auffordernd eine Hand entgegen.
Endlich kam Bewegung in Julien. Obwohl er nicht wusste, was es zu bedeuten hatte, folgte er der Aufforderung, legte die gleichen Kleidungsstücke ab wie sein Freund und sich selbst zu ihm. Mit wenigen nonverbalen Anweisung wurde sein Kopf auf Andrews Schulter dirigiert und sein restlicher Körper so nah heran, dass ihm nichts anders übrig blieb, als sein Bein über die von Andrew zu legen.
Scheinbar entspannt wurde ihm über den Kopf gestrichen, wie einem trostsuchenden Kind.
»Kannst du dich an die Geschichte mit Coraline Pingrove erinnern?«, begann Andrew ruhig.
»Die Gerüchte konnten aber zerschlagen werden«, konterte Julian leise.
»Nicht so wirklich. Überleg doch mal. Als ich damals mit dem Mädchen durch diesem Garten spazierte, waren wir auf einmal ganz allein. Ihre Mutter war so verdammt berechnend.« Er seufzte. »Und ich unglaublich naiv.«
»Ich kenne die Geschichte. Du hast sie mir erzählt. Die Mutter, die euch eigentlich begleiten sollte, verschwand unter einem fadenscheinigen Vorwand. Was hat das alles mit mir zu tun?« Julian befürchtete, Andrew wolle ihn nur ablenken und auf andere Gedanken bringen.
»Tja, die Mutter nutzte die Gelegenheit. Dass die junge, halbblinde Lady an meiner Seite dann auch noch in einen Strauch stolperte, war perfekt für ihre Zwecke. Die Kleine kam derangiert zu Hause an. Wenn auch für nichts anderes, aber dafür gab es Zeugen.«
»Das alles wurde als haltlos bewiesen. Du wurdest von jedem Verdacht freigesprochen.« Julian hatte sich aufgerichtet und sah seinen Freund verständnislos an.
»Nicht so ganz. Eigentlich gar nicht, wenn man es genau nimmt. Die simple Wahrheit ist, mein Vater kaufte mich frei. Hätte er nicht eine horrende Summe an Mrs. Pingrove abgetreten, wäre ich mit achtzehn zum Ehemann ihrer scheuen Tochter geworden.«
»Das wusste ich nicht.« Daher kam dann also die ordentliche Mitgift für das Mädchen.
»Ich bis vor kurzem auch nicht. Edward erzählte es mir. Worauf ich eigentlich hinaus will, dein Vater wird sich kümmern. Er wird herausfinden, auf welche Art dieses Gerücht oder derjenige, des es so vehement verbreitet, zu stoppen ist.«
Julian wollte daran glauben, auch weil er sich überhaupt nicht in der Lage sah, selbst dagegen vorzugehen. Nur … »Ich werde nicht mehr so einfach mit Henry zusammen sein können, wenn jeder jede unserer Bewegungen mit Argusaugen verfolgt.« Matt sank er wieder auf die Schulter seines Freundes, ließ sich den Nacken kraulen.
»Gerüchte verstummen, werden ersetzt durch neue, spektakulärere und vielleicht ist es sogar besser weiterhin mit Henry freundschaftlich zu interagieren. Wenn ihr euch plötzlich voneinander fernhaltet, könnte das erst recht verdächtig wirken.«
Nicht nur Andrew Worte auch seine Stimme waren beruhigend.
»Du bist nicht allein, mein Freund. Versuche dich so normal wie möglich zu benehmen, als gäbe es überhaupt nichts besonders Besorgniserregendes. Ein kleines Ärgernis, mehr nicht. Du schaffst das.«
So fest wie es ihm nur möglich war, versuchte sich Julian das Gesagte ins Gedächtnis zu brennen, doch noch war das Entsetzen zu groß, der zu erwartende Verlust zu schmerzhaft. »Ich wollte doch nur glücklich sein.« Er verbarg sein Gesicht und seine Tränen.
Andrew stich ihm beruhigend über den Rücken, rieb seine Wange an seinem Haar und küsste ihn schließlich darauf. »Das wirst du.«