Was immer Driftwood House ursprünglich gewesen war, jetzt stellte es ein zusammengewürfeltes Arrangement dar, zu dem jeder der vergangenen Besitzer ein Stück hinzugefügt hatte. Die Langleys zeigten damit deutlich ihre Vorliebe für bauliche Veränderungen. Ästhetik und Geschmack waren hingegen nicht ganz ihre Stärke.
Endlich hielten die Kutschen vor der halbrunden mit Säulen bewehrten und Balkon überdachten Treppen. Julian sprang aus dem Gefährt, so wie der Kutscher die Tür öffnete und hielt Josi seine Hand entgegen. Wenn er von dem Aussehen seiner Mitreisenden auf seines schloss, musste er reichlich derangiert aussehen. Nichtsdestotrotz wurden sie empfangen, wie man es bei der Familie eines Dukes erwarten konnte . Es begrüßte sie die quirlige Lady Langley mit ihrer ältesten Tochter. Bekanntermaßen war ihr Ehemann genau das Gegenteil, doch er bevorzugte temperamentvolle Frauen und so hatte er, nach dem Verlust seiner ersten Gemahlin, deren genauso aufgeweckte Schwester geheiratet. Eben jene, die gerade den Anschein erweckte, jeder der eintreffenden Gäste wäre die größte Bereicherung der kommenden Veranstaltung.
Weil sie Andrews Mitkommen frühzeitig angemeldet hatten, schaffte es Lady Langley es einzurichten, ihm ein Zimmer neben Julians zur Verfügung zu stellen.
So kam es, dass Andrew mit Leidensmiene in der Verbindungstür stand, während hinter ihm sein Kammerdiener Timothy sich über den unsachgemäßen Transport des Gepäcks seines Dinstherren echauffierte.
Selbst Giles zuckte es um die Mundwinkel bei der herübergetragenen Empörung.
»Ich bin außerordentlich froh über die Weitsicht deiner Mutter.«, seufzte Andrew.
Julian konnte sich denken, worum es ging. Die Duchess hatte darauf bestanden einen Tag vor dem Ball anzureisen. In dem desolaten Zustand, in dem er sich gerade befand, brauchte er nur am Champagner zu riechen, um einzunicken.
»Sie hat eindeutig mehr Erfahrung. Ich bin schon froh, wenn ich halbwegs aufrecht, das Abendessen hinter mich bringe.« Zur Bestätigung gähnte er hinter vorgehaltener Hand.
»Wie recht du hast. Ich habe mir noch nicht einmal getraut, einen Blick in den Spiegel zu werfen.« Andrew lehnte sich am Türrahmen an und sah eigentlich ganz gut auch, mit den immer noch geröteten Wangen, dem offenstehenden Hemd und den in die Stirn gefallenen Locken.
»Hat Timothy noch gar nichts gesagt?«, fragte Julian scheinheilig nach.
»So schlimm also? Das hatte ich schon befürchtet, so grauenvoll wie ich mich fühle.« Missmutig verzog er sein Gesicht. »Sind irgendwelche interessanten Leute geladen?«
»Aus dem, was ich bis jetzt erfahren habe, schließe ich auf viele Heiratswütige und nach Unterhaltung lechtzende Senioren.« Endlich hatte Julian alle Knöpfe geöffnet und konnte seine Weste loswerden.
»Dann halte ich mich an die Senioren. Da wird man immer wieder von mangelnder Zurückhaltung überrascht und kann unter Umständen noch etwas lernen.« Andrew war nur mäßig begeistert.
»Wenn es dich nicht zu sehr bei deiner Tratscherei einschränkt, könntest du zusätzlich ein Auge auf Josi haben? Coverstone wird ebenfalls anwesend sein.« Julian biss sich auf die Zungenspitze, um nicht zu lachen. Etwas das gleich noch schwerer wurde, als Andrew empört nach Luft schnappte.
»Wenn du es so abwertest, überlege ich es mir demnächst sehr genau, ob ich dich an meiner frisch erworbenen Weisheit teilhaben lasse. Ganz zu schweigen von den neusten Gerüchten. Und ja, natürlich werde ich Josi im Blick behalten«, gab er etwas verschnupft zurück.
»Verzeih. Als Entschädigung bekommst du erneut meinen Nachtisch.« Julian lächelte lieb zur Versöhnung.
»Vielleicht möchte ich ja etwas anderes an Stelle des Nachtischs«, kam es schnippisch mit schiefem Grinsen zurück.
Julian runzelte nachdenklich die Stirn, ein bestimmter Gedanke brach sich verwirrenderweise Bahn und er riss die Augen erschrocken auf.
Mit dieser Reaktion verwirrte er Andrew. Als dieser dann glaubte, zu verstehen, schüttelte er nachdrücklich den Kopf, genauso erschrocken wie Julian selbst.
So selten Julian errötete, jetzt tat er es. Wie war er nur auf solch eine Idee gekommen, Andrew könnte ausgerechnet das von ihm wollen?
»Und was möchtest du stattdessen?« Er versuchte an den leichten Tonfall von eben anzuknüpfen, da sie nicht allein waren.
Im Grübeln verlor sich der Blick seines Freundes. »Mir fällt gerade nichts sinnvolles ein. Also lass dich überraschen.«
Da klopfte es an der Tür und Giles nahm einen Brief für seinen Herren entgegen.
So wie er das Schreiben in den Händen hielt, erkannte er das vereinfachte Wappen der Evans im Siegelwachs. Henry musste ihm geschrieben haben, kaum das er angekommen war. Sicher hatte sein Liebster nichts Eindeutiges erwähnt, dennoch zögerte er mit dem Öffnen, bis Giles unter einem fadenscheinigen Vorwand das Zimmer verließ.
»Möchtest du allein sein?«, fragte Andrew nach.
»Nein, bleib ruhig.« Er hatte ihm schon einen groben Überblick über Henrys ersten Brief zuteil werden lassen. Da konnte er jetzt auch anwesend bleiben.
Sein Freund schloss die Tür hinter sich und kam hinüber. »Er ist viel zu lieb für dich.«
Gerade dabei das Siegel zu brechen, hielt Julian mitten in der Bewegung inne. Sein Freund äußerte da etwas, dass ihm selbst schon durch den Kopf gegangen war. Er selbst, ein Lebemann und Künstler mit losen Affären und wenig Verantwortung, fühlte sich in seinen dunklen Stunden, nicht ansatzweise gut genug, um von jemandem Aufrichtigen wie Henry Evans geliebt zu werden.
»Das war ein Scherz. Er mag zwar lieb sein, nur seh ich auch seinen Blick, mit dem er dich betrachtet. Und ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn er dich einmal unbeobachtet in die Finger bekommt. Oder doch? Nein, es wäre unhöflich mir das zu wünschen.« Mit seiner besten Unschuldsmiene sah Andrew ihn an.
Es war Julian nicht möglich, das Lächeln zurückzuhalten. »Ich mag ihn wirklich sehr.«, gab er leise zu.
»Ich weiß. Und jetzt öffne diesen verdammten Brief.«
Henry teilte ihm in harmlosen Worten mit, dass er gut angekommen war und zu seinem Bedauern berichten musste, die vollen zwei Wochen zu benötigen, weil ein wichtiger Gesprächspartner sich verspätete.
Es war fast lächerlich, wie sehr sich Julian, trotz der eher schlechten Nachricht, darüber freute von ihm zu hören. Allein, dass Henry an ihn dachte und nicht im Unklaren ließ, über die Dauer seiner Abwesenheit, machte Julian glücklich.
»Ich sollte ihm auch schreiben«, beschloss er.
»Das solltest du unbedingt. Und wenn es nur dafür ist, ihn von dieser grau-tristen Politik, oder was auch immer er so treibt, abzulenken«, stimmte Andrew zu.
Noch am selben Abend versuchte Julian trotz Müdigkeit Henry zu schreiben. Er saß vor dem leeren Papier und konnte nicht aufhören daran zu denken, wie gern er ihn jetzt bei sich gehabt hätte. Es würde genügen ihn zu sehen, seine Stimme zu hören. Gerade brauchte er wirklich nicht mehr. Das Wissen um seine Anwesenheit würde reichen.
Obwohl er wusste, dass er solcherlei Worte Henry niemals schicken konnte, schrieb er sie auf. Schrieb sich all die Sehnsucht von der Seele, bis er sich leichter fühlte. Er verstaute seine schriftlich festgehaltenen Gedanken bei Henrys ersten Brief und ging zu Bett. An eine Nachricht, die er Henry auch zusenden konnte, würde er sich morgen setzten, wenn seine Erschöpfung seine Einsamkeit nicht noch vergrößerte.