Schnell drehte er den freundlichen Blicken von Lord und Lady Evans den Rücken zu. Vor Scham wurde ihm wärmer. Abwesend nestelte er an seinem Kragen herum und versuchte sich erfolglos auf ein nettes, und vor allem harmloses, Landschaftsgemälde zu konzentrieren. Im Normalfall war er wenig prüde, doch hier im Haus von Freunden seiner Eltern auf so ungehörige Weise an eines der Familienmitglieder zu denken, noch dazu zu an den verführerischen Sohn mit diesem entwaffnenden Lächeln, den sanften Händen, dem leichten Duft nach Zitronen ...
»Julian?«
Er zuckte zusammen. Obwohl Henry am anderen Ende des Raumes stand, hatte er das Gefühl berührt worden zu sein.
»Du kann dich auch gern in einen der anderen Salons zurückziehen, wenn du etwas Ruhe haben möchtest.« Unschlüssig kam Henry näher, seine schönen braunen Augen geradewegs fragend auf Julian gerichtet.
Abgelenkt, brauchte dieser lange für eine Erwiderung. In der Zwischenzeit stand Henry vor ihm. »Danke. Ich denke es geht schon.« Diese Behauptung war komplett aus der Luft gegriffen. Er ging überhaupt nicht. Wie gebannt war er den Bewegungen des schlanken Körpers gefolgt und er hoffte, ihm würde verziehen, doch er konnte gerade nicht mehr so tun, als würde ihn die Anwesenheit dieses Mannes kalt lassen. Wieder allein mit ihm, ließ Erinnerungen und Wünsche gleichermaßen in ihm aufsteigen.
Sie standen voreinander, suchten nach Worten. Denn dass ihnen beiden die Sprache abhanden gekommen war, bildete sich Julian ganz sicher nicht ein.
Es gelang Henry sich als Erstes zu fangen. »Ich ...«, dabei drehte er sich ein wenig weg.
»Warte«, unterbrach ihn Julian in der Befürchtung, allein gelassen zu werden. Um sein Anliegen weiter zu verdeutlichen, berührte er Henrys Oberarm. Selbst überrascht und völlig im Unklaren, was er als Erklärung für das geforderte Bleiben liefern sollte, sank seine Hand wieder herunter.
Was auch immer Henry dazu veranlasste, er hob seinen Arm. So glitten Julians Fingerspitzen über den Stoff hinab und trafen, zum Entzücken seiner niederen Instinkte, auf unbedeckte Haut.
Mit einer gewissen Anspannung sahen sie hinunter auf ihre Hände. Vorsichtig blickte Julian auf, Henry folgte seinem Beispiel. Ihre Finger zuckten verräterischen, gefolgt von zögernden Bewegungen, bis sie schließlich einander an den Händen hielten.
Julians Lächeln war schüchtern, das von Henry verlegen, als wären sie noch nicht einmal 16 und begannen gerade erst das aufregende Gefühl zu entdecken, das das Berühren des Liebsten so mit sich brachte.
Es war fatal, wie unwichtig plötzlich alles andere war, wie jede Vorsicht vergessen wurde. Allein das Wissen, um entgegengebrachter Zuneigung, hatte Bedeutung.
Ein Geräusch von Schritten brachte sie zumindest so weit ins Hier zurück, als dass sie sich umsahen. Es kam von der einen Tür und noch war niemand zu sehen.
»Komm«, flüsterte Julian aufgeregt und zog Henry hin zu der anderen Tür.
Sich bei den Händen haltend, liefen sie hinaus, einen Flur entlang, bei dem sich Julian nicht sicher war, wohin er führte.
Ein Kichern ließ ihn anhalten und sich umdrehen. Hinter dem übermütigen Glitzern in Henrys Augen verbarg sich etwas Warmes, Größeres, Bedeutsameres. Es war nichts, was Julian bewusst an Mimik und Gestik festmachen konnte und trotzdem reagierten all seine Instinkte darauf. Auf dies und diese latente Sinnlichkeit, die Henry für ihn ausstrahlte.
Zu gern hätte er mit einem Ziehen an dessen Hand den Abstand zwischen ihnen verringert, da schob sich ein in den Hintergrund geratender Gedanke wieder nach vorn.
»Henry?« Selbst der fragende Blick daraufhin, ließ Julians Sinne anspringen. Wann war er je der Anziehungskraft eines anderen so erlegen? Um so schwerer fiel ihm anzusprechen, was ihn bekümmerte. »Du reist ab?«
Das glückliche Lächeln verlor an Leuchtkraft. »Ja, übermorgen.«
»So bald schon?« Das Entsetzten klang deutlich mit und es kümmerte Julian nicht, ob Henry ihm seine Empfindungen ansah. »Wann werde ich dich wiedersehen.« Seine Stimme war leise, fast verzagt.
»Eingeplant sind zwei Wochen.« Nach anfänglicher Betrübnis, erhellte sich Henrys Gesicht. »Indes hoffe ich, alles in einer Woche abarbeiten zu können.«
Julians Herz jubelte. Zwei Wochen waren eine überschaubare Zeit. Die Sehnsucht nach Henry würde ihm zwar selbst bei einer Woche Wartezeit zusetzten, war doch erträglich bei der Aussicht, ihn dann wiedersehen zu können. Ihm kam es vor, als wäre er wieder so jung, dass er naiv genug war, nur auf den Moment hinauszufiebern, seinen Auserwählten endlich nah sein zu können. Der Rest der Welt wurde zweitrangig. Was für eine betörende Empfindung, in diesem, von zärtlicher Verbundenheit durchtränkten, Kokon, fühlte er sich unverwundbar.
Er konnte nicht anders, berührte zart Henrys Wange. Fast sofort schmiegte sich dieser, mit seligem Lächeln, in die Handfläche. Dann schloss er die Augen, drehte ein wenig sein Gesicht und berührte mit seinen Lippen Julians Haut.
Verloren in dem Anblick, stand Julian still. So offen, wie er gerade seine Interesse bekundete, hatte Henry etwas Verletzliches an sich. Das änderte sich, als er scheinbar eine Eingebung hatte, seine sich öffnenden Augen über Julian glitten und an dessen Lippen bedeutungsvoll verweilten.
Unvermittlelt benötigte Julian mehr Luft. Er befeuchtete seine leicht geöffneten Lippen und Henry imitierte ihn gebannt.
Da war kein Platz mehr für Zweifel, dafür hatte Julian genug Erfahrung.
Jetzt zog er ihn doch zu sich, kam dabei auf ihn zu. Auch wenn er sich ihren ersten gemeinsamen Kuss schmerzlich herbeisehnte, nahm er diesen unwiderstehlichen Mann vorerst nur in den Arm. Er meinte sein Herz würde ihm vor Aufregung aus der Brust springen, da war es gut, Henry gegen sich drücken zu können. Warm und fest und doch nachgiebig fühlte sich sein Liebster so dicht bei ihm an. Tief sog er dessen betörenden Duft ein und glaubte, sein gesamter Körper sei damit durchdrungen.
Henry legte seinen Kopf gegen den seinen. Auch wenn Julian mit dieser Art von Vertraulichkeiten schon Bekanntschaft gemacht hatte, war es mit Henry neu. Vor Allem jedoch außergewöhnlicher als je zuvor. Er kannte ihn schon so lange und wusste erschreckend wenig über ihn.
Den engen Kontakt genießend, streichelte er ihn über den Rücken.
Zaghaft bewegte Henry seinen Kopf, warmer Atem, gefolgt von weichen Lippen strichen über Julians Wange. Henry wusste worauf er hinauswollte und wer war Julian schon, ihm dies zu verweigern.
Furchtbar nervös, tastete sich Julian zu diesem süßen Mund vor.
Es war nur ein schlichtes Aufeinanderpressen ihrer beiden Lippen und gleichzeitig Ziel und Erfüllung.
Er musste Henry ansehen, musste wissen, ob es ihn in ähnlicher Weise überwältigte. Zu Julians großer Freude, tat es das. Mit dieser wundervollen Mischung aus Aufregung und Seligkeit, zeigte Henry offen, wie glücklich ihn dieser erste Austausch von Zärtlichkeit gemacht hatte. Wenn Küsse seinem Liebsten Freude bereiteten, dann sollte dieser auch mehr davon bekommen.
Viele kleine dieser zarten Berührungen schenkte Julian ihm, bis Henry vor Entzücken lachte, gefolgt von einem tief berührenden liebevollen Blick. Für einen Moment überlegte sein zauberhafter Nachbarssohn etwas zu sagen. Die Entscheidung fiel zu Gunsten einer nonverbalen Äußerung.
Finger gruben sich in Julians Haar und Henrys Mund zeigte, was Worte kaum so deutlichen hätten können.
Da war so viel Zärtlichkeit durch die langsam intimeres Verlangen schimmerte. Auf das kleinste Anzeichen hin intensivierte Julian den Kuss. Es bedurfte nur ein Vorwagen seiner Zungenspitze und Henry antwortete in gleicher Weise.