»Komm zu mir, Julian.« Seine Mutter streckte die Hand nach ihm aus, zog ihn leicht am Arm fassend zu sich. »Du kann dich sicher noch an Lillian erinnern.«
Aus seinen eigentlichen Gedanken herausgerissen, musste er kurz überlegen. »Natürlich.« Sie war die Jüngste von fünf Geschwistern eines benachbarten Barons. »Es freut mich sehr. Bezaubernd wie immer, jedoch jetzt erwachsen«, stellte er mit einem charmanten Lächeln fest, ergriff ihre Hand und deutete einen Kuss auf ihre schlanken Finger an. Zufrieden nickend ließ seine Mutter, dem Gruß einer Nachbarin folgend, beide allein miteinander.
Lillian lachte verlegen auf. »Erwachsen bin ich schon eine ganze Weile.«
»Dann bist du bereits verheiratet?« Es war nur leeres Geschwätz, weil ihm nichts Vernünftiges einfallen wollte.
»Noch nicht. Doch bereits verlobt. Er ist der Sohn eines Kaufmanns«, meinte sie entschuldigend und fügte sofort hinzu: »Aber seine Familie ist sehr wohlhabend.«
»Schön zu sehen, dass du deinen zukünftigen Gemahl in Schutz nimmst. Doch unnötig, von meiner Seite aus.« Ihm fiel kaum noch etwas ein, was er sagen konnte. Es war so belanglos, dennoch lächelte er freundlich.
»Er konnte leider nicht mitkommen. Die Geschäfte, du verstehst sicher. Genau wie Henry. Also bei ihm sind es natürlich nicht die Geschäfte.« Sie sah ihn lieb mit ihren braunen Augen an.
»Henry?« Mit seiner Konzentration war es heute nicht weit her.
»Mein Bruder.«
»Natürlich.«
»Er ist erst heute zurückgekehrt und musste sich etwas ausruhen.«
»Wo war er denn?«
»Oh.« Für einen Moment machte sie den Eindruck, enttäuscht zu sein. »Er war in den letzten Jahren auf dem Kontinent.«
»Ach, verzeih. Ich hörte davon. Wie geht es ihm denn?« Möglich, dass ihn seine Mutter darüber unterrichtet hatte, nur war das keine besonders bedeutsame Information. Er hatte Henry das letzte Mal gesehen, da war er selbst vielleicht siebzehn oder achtzehn und Henry entsprechend zwei Jahre jünger. Sie hatten keinen engeren Kontakt gepflegt, auch weil dieser dürre Nachbarsjunge Julian ständig ernst und durchdringend mit seinen dunkeln Augen angeschaut hatte, als könnte er all seine Geheimnisse mit Blicken enthüllen.
Zwei Tage später überreichte Murry Julian beim Frühstück eine Nachricht. Neugierig nahm er sie an sich. Er erkannte die Handschrift und beim Überfliegen des Inhalts musste er lächeln.
»Gute Neuigkeiten?« Josi nippte an ihrem Tee.
Auch heute hatte Julian seiner Schwester einen gemeinsamen Ausritt versprochen.
»Ja. Andrew kommt uns besuchen. Ich hatte ihn eingeladen, doch er war sich noch nicht sicher, ob er abkömmlich sein würde. Bis jetzt.« Julian war die Erleichterung anzusehen. Sein Freund war ein Lichtblick. Seit ihrer Schulzeit waren sie befreundet. Doch erst danach hatten sie von einander erfahren, dass sie sich ähnlicher waren, als angenommen. Sie begegneten sich damals zufällig in einem halbwegs geheimen Club. Julian erkannte ihn trotz Maskerade recht schnell. Zwar waren sie sich von der Figur her recht ähnlich, beide groß und schlank und auch die Farbe des Haares war von ähnlichem Braun. Nur das Julians eher glatt war, während das von Andrew ein wirrgelocktes Eigenleben führte, was ihn, also Andrew, meist länger vor dem Spiegel fesselte.
Bis zu dem Punkt hätte es immer noch jeder andere Mann sein können, der dort mit aufgestütztem Ellenbogen in dem Sessel saß. Schließlich jedoch tat Andrew etwas, bei dem sich Julian sicher war, es musste sich um seinen Schulfreund handeln.
Wie so oft sah Andrew etwas herablassend aus, wie er den Kopf leicht in den Nacken gelegt hatte, als blickte er alle grundsätzlich von oben herab an.
Er prostete dem jungen Mann vor sich zu und hob sein Glas an die Lippen, stellte es danach in einer lässigen Geste auf dem Beistelltisch ab. Dann hatte er mit der Außenseite seines Zeigefingers seinen Unterkiefer nachgezeichnet, vom Ohr bis zum Kinn. Dort verweilte die Hand, während er den Kopf nach vorn neigte und sich seine Mundwinkel kräuselten. Dabei blitzten seine Augen verheißungsvoll auf.
Bis zu diesem Moment war Julian nie aufgefallen, wie sinnlich diese Geste sein konnte. Genauso wenig, wie er nicht bemerkt hatte, dass sie beide Männer bevorzugten.
Ohne viel nachzudenken, war er zu seinem Freund gegangen, setzte sich auf die Armlehne und grinste ihn an. Als Andrew ihn erkannte und verstand, war sein Lächeln so aufrichtig und warm gewesen, dass es Julian fast zu Tränen gerührt hatte.
»Dann werde ich die Ausritte wohl demnächst mit einem der Stallburschen machen müssen.« Um von ihrer Enttäuschung abzulenken knabberte Josi an ihrem Toast.
»Wir können auch zu dritt ausreiten«, schlug Julian vor und hoffte insgeheim, die Anwesenheit seines Freundes würde das unbändige Reitverhalten seiner Schwerster etwas zügeln.
»Mit Andrew?« Sie sah ihn zweifelnd an.
»Ja, natürlich.«
»Andrew Willfort, der eigentlich schon auf seinem Tilbury festgewachsen scheint?«, spöttelte sie während in ihren Augen der Schalk aufblitzte.
»Andrew reitet genauso gut wie ich«, verteidigte Julian ihn.
Josi sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an und konnte sich ihr Grinsen kaum verkneifen.
»Oder genauso schlecht wie ich«, gab er zu.
Beide kicherten immer noch als Vivianne das Esszimmer betrat.
»Einen guten Morgen, meine Lieben. Ihr seid ja vergnügt heute.«, strahlte sie die beiden an. Trotz ihrer Leibesfülle schaffte sie es fast leichtfüßig zu wirken als sie zum Buffet ging.
»Josi amüsiert sich über meine bescheidenen Reitkünste. Und ich wohl auch.« Julian lehnte sich zurück. »Wie geht es dir? Du siehst blendend aus.« Und das entsprach der Wahrheit.
»Korpulent«, lachte sie. Dann verzog sie kurz das Gesicht und legte ihre Hand auf die obere Rundung ihres Bauches. »Was auch immer es wird. Es bekommt starke Beine.« Sie häufte weiter ihren Teller voll und setzte sich zu den Geschwistern.
Julian glaubte einen unauffälligen Blick auf den überfüllten Teller werfen zu können.
»Kein Wort, Julian«, ertappe ihn Vivianne . »Ich habe seit Monaten wieder Appetit und das nutze ich jetzt aus.«
»Ich hatte nicht vor etwas zu sagen.« Er hob, sich ergebend, die Hände.
»Aber du hast geschaut«, warf sie ihm mit gespielter Strenge vor, belud ihre Gabel mit Rührei und biss gleichzeitig in einen Toast.
»Dir ist Ei vom Teller gefallen.« Er trank einen Schluck Tee und sah sie unschuldig über den Rand hinweg an.
Kauend inspizierte sie den Tisch vor sich, sah sich kurz um, gabelte das heruntergefallene Essen auf und ließ es, wenig elegant, in ihrem vollen Mund verschwinden. Als sie heruntergeschluckt hatte, seufzte sie selig. »Wir sind übrigens heute zum Tee bei den Evans eingeladen. Versucht bitte nicht zu verschwinden.«
»Wir sind doch keine Kinder mehr«, empörte sich Julian lachend.
»Warum sollten wir? Sie haben großartige Pferde« Für Josephine eine völlig absurde Vorstellung sich das freiwillig entgehen lassen zu wollen.
Das Wir hatte Vivianne gar nicht mit eingeschlossen, wie es sich später am Tag herausstellte. Arzt und Hebamme rieten ihr davon ab, weite Strecken herumzufahren.
Welch ein Glück für sie, dachte Julian, obwohl eine Schwangerschaft vermutlich weit beschwerlicher war als ein langatmiges Zusammensein mit den Nachbarn.
Er sah hinaus aus dem Fenster der Kutsche hin zu Reginald, der nebenherritt. Als hätte er den Blick seines Bruders gespürt, schaute er zu ihm.
Julian legte seine Hand flach an die Scheibe und blickte ihn mit seinem besten flehenden Blick an. Schließlich schob er auch seine Unterlippe ein wenig vor und ließ sein Kinn beben.
Reginald schloss kurz die Augen, um seinen gesetzten Gesichtsausdruck beizubehalten. Allerdings zuckte es verräterisch um seine Mundwinkel. Er versuchte Julian streng anzusehen, trotz seines offensichtlichen Vergnügens. Stumm formten seine Lippen ein paar Worte und Julian grinste, da er sie genau kannte.
»Du bist unmöglich«, hatte Reginald gemeint.
Julian setzte sich wieder zurück. Es war ein wenig wie früher als er noch naiv genug war, seinen älteren Bruder hemmungslos zu ärgern.
Seine Eltern und Josi hatten die Szene beobachten können. Der Duke lächelte in einer Mischung aus Belustigung und Zufriedenheit. Seine Frau verbarg fast ihr gesamtes Gesicht hinter ihrem Fächer, in dem Versuch nicht laut aufzulachen, während Josi ganz offen kicherte.