Was sich Julian so gar nicht überlegt hatte, er würde Henry überhaupt nicht sofort sehen können oder eine Nachricht bei seiner Ankunft erhalten. Weder für das eine noch das andere gab es plausible Gründe.
Er grübelte verbissen und fast unentwegt. Es konnte doch nicht angehen, dass er ihn erst irgendwann zu Gesicht bekommen würde. Kaum ausgeruht, schlug er schließlich am Montagmorgen vor, zu den Evans zu reiten. Vielleicht hatte Henry ja wieder Lust sie zu begleiten.
»Oh, Henry ist noch nicht zurück.« Lady Evans lächelte voller Bedauern. »Möglicherweise gab es Probleme mit der Kutsche oder das Wetter war zu schlecht. Es tut mir wirklich leid. Wollt ihr noch auf einen Tee bleiben? Dann seid ihr nicht ganz umsonst gekommen.«
Da sich Julian wie vor den Kopf gestoßen fühlte, übernahm Andrew das Reden und sagte zu.
Sie hatten es sich gerade im Salon gemütlich gemacht und warteten auf den Tee, da kam Lillian. Sie bemerkte die Gäste nicht und sprach mit ihrer Mutter, die noch an der Tür stand.
»Ich bin fast mit allen Einladungen fertig und Tim kam mit einer Nachricht vom Pfarrer zurück. Der den Termin für die Trauung bestätigt.«
Ihre Mutter räusperte sich. »Willst du nicht zuerst unsere Besuch begrüßen?«
»Oh, sicher.« Sie eilte in den Salon. »Schön euch zu sehen.«
»Geht es um deine Hochzeit? Ihr wollt schon eher heiraten?«, fragte Josi in freudiger Unschuld, nach dem sich alle begrüßt hatten.
»Ähm, ja.« Lillians Wangen wurden röter und röter.
»Die jungen Leute haben es manchmal so eilig.« Im Lächeln der Baroness mischten sich Resignation mit Verzweiflung.
Da verstand Josi es auch. »Das ist doch schön. Ich freue mich. Sind wir denn auch eingeladen?«, versuchte sie sie heikle Situation zu überspielen.
»Aber natürlich. Eure Einladung war eine der ersten die ich geschrieben habe.« Sie lächelte lieb. »Jetzt werde ich mich aber beeilen. Die Schneiderin wird bald kommen. Da sollte ich bestenfalls schon mit dem Schreiben fertig sein. Auf wiedersehen.« Und schon eilte sie wieder davon.
»Möchtet ihr auch etwas Kuchen? Meg hat ganz frisch Pflaumenkuchen gebacken. Ich sag Bescheid, dass man euch welchen bringt.« Künstlich lachend floh Lady Evans vor eventuellen unangenehmen Fragen.
»Glaubt ihr, Lillian ist schwanger?«, flüsterte Josi aufgeregt.
»Vielleicht besteht auch nur der Verdacht, es könnte dazu gekommen sein«, schmunzelte Andrew.
Sie verfolgte den Gedanken weiter, dabei ersetzte langsam Betrübnis ihr Lächeln. Bevor Julian sie darauf ansprechen konnte, besann sie sich. »So oder so ist es besser für die beiden.«
Er hatte sie nie darauf direkt angesprochen, ob sie sich Mann und Kind wünschte, also nicht nur, weil es so sein sollte in den Augen der Gesellschaft. Auch setzte er es nicht voraus. Aber vielleicht war er einfach zu feige. Er wollte keine Wunden aufreißen, die zu heilen er nicht in der Lage war.
Bei den Überlegungen über Liebe, Ehe und Sehnsüchte, kehrten sich seine Gedanken irgendwann wieder dem eigenen Dilemma zu. Er fragte sich, was Henrys Verspätung verursacht haben könnte und schwankte zwischen Sorge und Enttäuschung. Auf dem Ritt hierher war er so voller Vorfreude gewesen, womit er sein Pferd angesteckt hatte, denn es war ständig schneller geworden. Sein Herz hatte viel zu heftig geschlagen, seine Hände waren feucht gewesen in der freudigen Erwartung seinen Liebsten wieder zusehen. Und nun saß er hier, ohne Henry.
Die Baroness kam wieder, hinter ihr ein Mädchen mit dem besagten Kuchen. Er bekam ein Stück und wusste überhaupt nicht, was er damit sollte. Wie konnte er etwas essen, wenn sich bei der Frage, nach dem Verbleib seines Liebsten, sein Magen auf schmerzhafte verspannte.
Die Schulden, die sich auf seinem Konto gegenüber Andrew anhäuften, wurden von Tag zu Tag größer, denn dieser lenkte ihre Gastgeberin genug ab, um ihr den Anblick seines nervösen Lächelns zu ersparen.
Kaum gedacht, rückte Andrew ihn dann doch kurzzeitig in den Mittelpunkt. »Ich hoffe, Ihr seht es nicht als Unhöflichkeit Euch und Eurer lieben Meg gegenüber, nur ist Julian heute etwas auf den Magen geschlagen und er bekommt kaum einen Bissen herunter«. Er nahm ihm den Kuchen ab und teilte ihn sich mit Josi.
Kaum hatte seine Schwester den letzten Krümel mit sichtlichem Genuss verspeist, da meldete der Butler die Ankunft der Schneiderin.
»Oh, meine Lieben. Ich muss euch jetzt leider verlassen.« Lady Evans erhob sich.
»Dann wollen wir auch nicht weiter stören. Nicht, dass Ihr Euch noch gezwungen fühlt, uns zum Mittag zu verköstigen.« Andrew erhob sich und mit ihm die Geschwister.
»Nicht doch, Kinder. Bleibt so lange ihr wollt.« Mütterlich strich die Baroness Andrew über den Arm. »Ich muss nur ein Auge auf die Wünsche meiner Tochter haben und ihre Vorstellungen ein wenig ins Machbare rücken. Möchtest du denn mit dabei sein, Josephine? Lillian hätte bestimmt nichts dagegen. Ihre Freundinnen sind alle recht weit weg und ehrlich gesagt, bin ich darüber nicht traurig. Diese Mädchen haben nur Männer im Kopf. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Oh ...«, sie warf Andrew und Julian einen entschuldigenden Blick zu.
»Ganz Ihrer Meinung, Mylady«, lachte Andrew.
Im Eingangsbereich wurde die Tür geöffnet und Stimmen war zu hören.
Seinen aufgeregten Herzschlag bis in die Fingerspitzen spürend, musste sich Julian zügeln, nicht sofort loszulaufen.
Lady Evans eilte ihnen voraus. Nur wenige Schritte und er hatte einen freien Blick auf die immer noch offenstehende Tür, die einen müden, zerknitterten und trotz allem schrecklich attraktiven Henry einrahmte. Julian blieb stehen. Noch ein Stück weiter und er bezweifelte der verhementen Anziehungs standhalten zu können. Jetzt schon war es schwer, an sich zu halten, um nicht Henry entgegenzueilen und ihn erleichtert in die Arme zu schließen.
»Willkommen zurück, mein Schatz.« Die Baroness konnte ganz ungehemmt ihren Sohn umarmen. »Was ist passiert?«
Erfreut stellte Julian fest, dass es Henry ähnlich wie ihm selbst ging. Er hatte Schwierigkeiten seine viel zu freudige Überraschung für sich zu behalten und schaffte es kaum einen Blick auf jemand anderen als auf Julian zu richten. »Ich freu mich auch wieder hier zu sein. Schön euch alle zu sehen.« Kurz drückte er seine Mutter. »Zwei unsinnige Pannen haben meine Ankunft verzögert. Kurz nach dem wir gestern morgen losfuhren, gab es Probleme mit dem Rad der Kutsche. Wir fuhren zurück nach Shanby, um es reparieren zu lassen. Ich lieh mir ein Pferd und wollte vorausreiten. Nur verlor das gute Tier auf halber Strecke ein Eisen und hinkte so stark, dass ich dachte, es wäre besser zu laufen. Also führte ich das Pferd zu diesem kleinen Wirtshaus an der Straße nach Northpike, wo kurz nach mir auch die Kutsche eintraf. Wir blieben über Nacht und nun sind wir hier.«
Zu gern hätte Julian etwas gesagt, mehr als nur eine Begrüßung. Vielleicht etwas, das Henry gezeigt hätte, wie er sich über das Wiedersehen freute, wie sehr er ihn vermisst hatte. Leider fielen ihm keine anderen Worte dafür ein als genau diese.