Sie hatten schon begonnen Pläne zu schmieden, da waren sie noch nicht einmal zurück in Seashell Castle. Als sie es dann endlich waren, schien das Wetter ihnen einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen.
Entgeistert stand Julian vor den Terrassentüren im großen Saal. Böiger Wind trieb den strömenden Regen immer wieder laut gegen das Glas. Man konnte kaum ausmachen, welche Tageszeit es gerade war, so sehr schluckten die dunklen Wolken das Licht. Es war der bis dato Höhepunkt eines drei Tage anhaltenden Unwetters.
»Hier steckst du also.«
In seinen trübsinnigen Gedanken versunken, hatte er Andrew nicht hereinkommen gehört und erschrak.
»Du solltest hier nicht im Dunkeln herumstehen. Das wirkt äußerst seltsam.« Sein Freund trat an seine Seite, sah wie er in den grau-tristen Garten hinaus.
»Ich bin Künstler. Ich darf mich seltsam verhalten«, gab Julian matt zurück.
»Ich würde ja behaupten, Melancholie steht Dichtern besser. Aber was weiß ich schon.«
»Ist es dumm, mich derart darauf gefreut zu haben, dass die Enttäuschung mich jetzt fast auffrisst?« Julian versuchte nicht allzu leidend auszusehen.
»Dumm? Nein.« Dabei sah ihn sein Freund auf eine Art an, der man entnehmen konnte, dass Julians rastloses Leiden eher primitiver Natur war. »Hilft es dir, wenn ich verrate, dass Tom meint, ab morgen wird das Wetter bestens?«
»Tom?« Gerade wusste Julian mit diesem Namen überhaupt nichts anzufangen.
»Mein Stallbursche«
»Ach.« Nun da Andrew ihm auf die Sprünge geholfen hatte, wagte Julian wieder zu hoffen. Tom und seine Wetterprognosen waren der Grund für das seltene Nasswerden seines Freundes. »Und mit morgen ist er sich sicher?«
»Ganz sicher. Und vielleicht könnten wir jetzt diesen Saal verlassen. Ich finde ihn in seinem jetzigen Zustand etwas … ungemütlich.« Schon wand sich Andrew zum Gehen.
Julian kicherte. »Du meintest nicht zufällig unheimlich?«
»Natürlich meinte ich unheimlich. Schau dir mal die dunklen Ecken an.«
»Du bist so ein Kind.«
»Und du hast keine Fantasie.«
Diese frevelhaften Bemerkung musste gerächt werden und so ließ Julian seine Finger an Andrews Seiten hin zu den Achseln wandern.
Ein Geräusch zwischen quietschen und kichern machend, wand sich dieser und sprang von Julian weg.
»Das habe ich dir als Freund unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut«, empörte sich Andrew pikiert.
»Und ich habe es niemanden weitererzählt.«
»Aber du nutzt meine Schwachstelle aus.«
»Ja, das tue ich«, erwiderte Julian übermütig.
»Mistkerl.« Andrew schaffte es überzeugend beleidigt auszusehen, als sie endlich in den, wenn auch schwach, beleuchtete Flur traten. »Dann muss ich dir ja auch nicht verraten, dass ich gleich, nachdem ich mit Tom gesprochen habe, dem jüngsten Sohn der Familie Evans eine Nachricht zukommen ließ und soeben die Antwort erhalten habe.«
Die Fülle an Informationen ließ Julian einige Momente sprachlos werden. Er brauchte sich nicht nur keine unverfängliche Nachricht an seinen Liebsten aus den Fingern zu saugen, es ersparte ihm auch Geduld aufbringen zu müssen bei dem Warten auf eine Antwort. »Du bist ein Schatz.« Er hätte Andrew küssen mögen, wenigstens auf die Wange, doch ein Zimmermädchen eilte mit Putzutensilien gerade den Gang entlang und ließ das auf keinen Fall zu. »Was schreibt er?«
Mit einem kleinen Grinsen griff sein Freund in die Tasche, zog besagte Nachricht heraus und reichte das gefaltete Blatt zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt an Julian weiter.
Erfreut schnappte Julian danach und überflog die Zeilen.
Andrew hatte geschrieben, er wüsste aus zuverlässiger Quelle, dass sich das Wetter bessern würde, wobei er den Ursprung seiner Information sogar namentlich erwähnte und fragte höflichst, ob Henry es schon am kommenden Tag einrichten konnte, den Ausflug zu unternehmen.
Die Antwort war, bei aller Liebe, kaum lesbar, so schnell hatte Henry geschrieben. Seine Worte besagten, er freue sich das zu hören, vertraue voll und ganz Andrews Urteil was die Wettervorhersage betraft und würde die nötigen Vorkehrungen treffen, um sie am nächsten Vormittag zu erwarten.
Was für eine Erleichterung. Julian strahlte, heimgesucht von einem Hochgefühl, was seinen Trübsinn völlig in Vergessenheit geraten ließ.
Es war schwer die Aufregung und Freude auf ein geziemtes Maß herabzudrücken. Wie gern wollte Julian auf sein Zimmer laufen, lachend, als wäre er wieder ein Kind. Zu schade eigentlich, dass man glaubte, Gefühlsregungen unterdrücken zu müssen, um als zurechnungsfähiges Mitglied der Gesellschaft zu gelten. Wenn man es allerdings genau nahm, war der Grund für seine Freude auch nicht so ganz hinnehmbar.
»Ich danke dir vielmals, Giles.« Sein Kammerdiener hatte ihm soeben in die Jacke geholfen. Doch sein Dank galt allem, was Giles in den letzten Stunden, ja schon am Vorabend, getan hatte. Gemeinsam hatten sie überlegt, welche Kleidung benötigt werden würde. Da Julian in seinem bisherigen Leben noch keine solche Unternehmung getätigt hatte, war seine Vorstellung von der ganzen Angelegenheit recht vage. Verwöhnt, wie er war, fand er es angenehm, dass sein Kammerdiener etwas gluckenhaft in Bezug auf seine Kleidung alle Eventualitäten abdecken wollte. Er würde zwar nicht unbedingt für einen plötzlichen Wintereinbruch gerüstet sein, wohl aber für Unwetter, die, wie er sich noch zu gut erinnerte, recht unvermittelt auftreten konnten.
Tom war dann schon am Morgen mit dem Gepäck von Andrew und Julian zu den Evans aufgebrochen, um sich doch anderen Bediensteten anzuschließen. Zusammen waren sie noch vor ihren Herrschaften aufgebrochen, um das Jagdhaus herzurichten.
Julian stand vor dem Spiegel und grinste sich selbst an bei dem Gedanken daran. Soviel dazu einige Tage spartanisch zu leben. Lord Evans setzte, kaum das sie zurück waren, alle erdenklichen Hebel in Bewegung, damit es die Jungs, wie er sie wohl für den Rest seines Lebens nennen würde, so gemütlich wie möglich hatten. Des Weiteren bestand er darauf, wenigstens einmal einen Bediensteten mit Vorräten vorbeizuschicken. Hätte Julian nicht gewusst, dass es schon immer die Art des Vaters seines Liebsten war, wäre er davon ausgegangen, der Herr traute weder seinem Sohn, noch seinen Freunden ein paar Tage Überleben ohne Dienerschaft zu.
»Ich denke, ich bin bereit«, meinte Julian und sah sich kurz um.
Giles hielt ihm die Mappe mit seinen Zeichenmaterialien entgegen.
»Danke.« Das hatte er fast vergessen. Seine Gedanken waren zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Er tat, als hätte er nur darauf gewartet, es gereicht zu bekommen und sein Diener tat es ihm gleich und ließ sich nicht anmerken, ihn durchschaut zu haben.
Noch auf dem Flur traf er Josi.
»Ich wünsche dir viel Spaß.« Ihr Lächeln war so erzwungen, wie ihre Haltung steif.
»Wir sind nur vier Tage fort und nicht ein ganzes Leben«
Sie zuckte mit den Schultern und ließ ihre Maske fallen. Gequält fragte sie: »Kannst du nicht wenigstens Andrew hier lassen?«
»Damit du ihm die Zügel seines Tilbury wieder aus den Fingern schwatzen kannst? Bestimmt nicht.« Er ergriff ihre Hand und lächelte aufmunternd. »Die Zeit wird schnell vergehen, versprochen.« Denn genau das war seine Befürchtung.
Eine weitere Zimmertür öffnete sich.
»Danke Timothy, aber nein. Der Mantel bleibt hier.« Andrew kam rückwärts aus seinem Zimmer.
»Und was werdet ihr anziehen?«, kam die empörte Stimme des Kammerdieners aus dem Raum.
»Ich hatte vor nackt durch den Wald zu laufen und mich mit dem Blut erlegter Tiere bemalen zu lassen«, konterte Andrew spitz.
Zurück kam beleidigt ein affektiertes »Tss«.
»Auf Wiedersehen, Timothy.« Andrew schloss die Tür und seufzte. Er drehte sich um und zuckte kaum merklich zusammen.
»Hallo Josi. Hallo Julian, wir sehen uns unten.« Zügig ging er mit freundlichem Lächeln an seinen Freunden vorbei, das Gesicht dabei leicht rosa überhaucht.
»Was denkst du?«, fragte Josi unschuldig. »Bereitet Timothy Andrew auf eine Ehefrau vor oder sich selbst eine zu sein?« Ihr Versuch ernst zu bleiben, gelang ihr recht gut.
Julian öffnete zwar den Mund, bekam dann aber doch kein Wort heraus, zu sehr musste er sich das Lachen verkneifen, besonders als Andrew sich noch gerader aufrichtete und hocherhobenen Hauptes die Treppe zügig hinabschritt.
Ein letztes Mal drückte er die Hand seiner Schwester, »Wir sind bald wieder hier« und warf ihr einen liebevollen Blick zu. Er schätzte ihre Intelligenz, die sie so vieles verstehen ließ. Wenn sie nun auch noch so viel Mitgefühl aufbringen konnte, um nicht vorschnell über Menschen wie Andrew, Timothy oder ihn selbst zu urteilen, wäre er sehr dankbar.