Selbst in seiner Aufregung fiel Julian auf, wie ruhig Andrew war. Wobei ruhig es nicht vollständig traf. Eher war er abwesend. Seine Gedanken waren irgendwo, nur nicht im Hier. Julian ließ ihn, bis ihm in den Sinn kam, dieses Nachdenklichkeit könne an ihrem Ausflug liegen.
»Andrew?« Überrascht registrierte er, dass sein Freund ihn nicht zu hören schien, was recht ungewöhnlich für Andrew war. Er sprach ihn noch einmal etwas lauter an.
»Ja?« kam es dann doch zurück.
Allerdings vermisste Julian immer noch das obligatorische Lächeln.
»Ist alles in Ordnung bei dir?«
»Natürlich.«
»Lüg nicht. Oder wenn, dann lüg besser.« Julian machte sich Sorgen. Sollte es Andrew schlecht gehen, konnte er sich nicht guten Gewissens mit Henry amüsieren.
Doch sein Freund kicherte. »Also gut«, gab dieser zu. »Vielleicht mache ich mir ein ganz klein wenig Gedanken darüber, dass Josi der Wahrheit etwas zu nahe kommt.«
»Ich weiß, was du meinst«, stimmte Julian sofort zu. »Allerdings denke ich auch, sie wird ihre Vermutungen, wenn sie denn welche hat, nicht in die weite Welt hinaustragen.«
»Oh, nein. Ich wollte deiner Schwester nicht unterstellen, eine Tratsche zu sein. Ich … Möglich, dass ich mich einfach unwohl bei der Überlegung fühle, was Josi denken könnte.«
Natürlich war es völlig nachvollziehbar. Julian ging es nicht anders. Dass Andrew sich neuerdings recht offen so viele Gedanken machte, war jedoch ungewöhnlich. »Ich denke, deine Sorgen sind unbegründet. Josi kennt dich schon so lange und mag dich so wie du bist – spitzzüngig und überheblich.« Er grinste breit.
»Bitte?« Andrew war nicht wirklich empört. »Du konntest auch schon besser Trost spenden.«
»Trost spenden? Wegen des möglichen Verlustes der Zuneigung meiner Schwester? Andrew Willfort, möchtest du mir irgendetwas mitteilen?«, kam es streng zurück.
»Nein, ich möchte dir in Bezug auf deine Schwester nichts mitteilen«, erwiderte Andrew bestimmt.
»Nicht in Bezug auf meine Schwester, aber etwas anderes? Oder jemanden?« Da war so ein unbestimmtes Gefühl und es bestätigte sich als Andrew kurz zögerte.
»Nein, da ist nichts«, behauptete er.
Julian zügelte sein Pferd. Sie waren fast bei den Evans. Das Haus war schon zu sehen. »Warte.«
Sein Freund blieb ebenfalls stehen.
»Wenn dich irgendetwas bedrückt … Du weißt, dass du zu mir kommen kannst, oder?« Es war Julian ernst.
Überrascht sah Andrew ihn an, dann lächelte er dieses hinreißend ungekünstelte Lächeln. »Kein Grund zur Sorge. Wirklich. Und danke. Es ist schön, noch einmal deine Freundschaft bestätigt zu bekommen.«
Henry war herzallerliebst in seiner Aufregung. Erst versuchte er betont langsam die Treppe hinabzukommen, wobei er eher hölzern eine Stufe nach der anderen mit Bedacht nahm. Danach schien er beim Verabschieden von seinen Eltern mit der Kontrolle über seine Mundwinkel auf Kriegsfuß zustehen. Als hätten sie ein unberechenbares Eigenleben entwickelt, ließen sie ihn immer wieder erfreut strahlend lächeln. Kaum zur Tür hinaus, gab er seinen Kampf auf.
So wie sich Julian unbeobachtet fühlte, gestattete er sich seinen Liebsten anzuhimmeln, bewunderte seinen energiegeladenen Gang hin zu den Ställen und wusste, als bei Aufsteigen Henrys Kleidung sich an verschiedenen Stellen an dessen ansehnlichen Körpers presste, dass er noch nie derart vernarrt in irgendwen gewesen war.
Dies blieb jedoch nicht gänzlich unbemerkt.
»Worauf habe ich mich da nur eingelassen?« Es folgte ein dramatisch Seufzen, bevor sich Andrew elegant auf sein Pferd schwang.
Genau darauf bedacht, keine unliebsamen Zuhörer in der Nähe zu haben, flüsterte Henry zurück: »Auf das am schlimmsten verliebte Paar in ganz England würde ich sagen.« Er schenkte seinem Gegenüber einen unschuldigen Augenaufschlag und brachte diesen dazu, schlecht unterdrückt lachen zu müssen.
Der Weg war länger als Julian erwartet hatte. Anfangs aufgeregt, mit wild klopfendem Herzen, stellte sich eine unruhige Langeweile auf halber Strecken ein. Da auch Henry angespannt war, kamen keine wirklichen Gespräche zustande und Andrew ritt völlig in seinen Gedanken versunken hinter ihnen her.
Julian lauschte auf die Geräusche des Waldes und der Pferde, lenkte sich ab in dem er sich umsah, auch wenn es nicht viel zu sehen gab. Als Kind war er in den Ferien mit Regi und Josi neugierig durch die Wälder gestromert, eine faszinierende Welt, die es an der sicheren Seite seines großen Bruders zu entdecken gab. Es kam ihm vor wie ein anderes Leben. Er war naiv gewesen und frei.
»Es ist nicht mehr weit«, versprach Henry plötzlich, was diesem einen verwunderten Blick bescherte.
»Ich habe doch gar nichts gesagt.«
»Du hast geseufzt. Und du siehst etwas unzufrieden aus.« Aufmunternd, mit einer Spur Unsicherheit, lächelte Henry ihn an.
»Ich bin nur ungeduldig. Also nichts, was in irgendeiner Weise beunruhigend wäre.« Er fühlte sich ertappt.
»Es geht mir ähnlich«, meinte Henry ein wenig verlegen.
»Ich freue mich wirklich auf unsere gemeinsame Zeit. Bitte verzeih mir meine missmutige Stimmung. Ich mache es wieder gut, versprochen.« Ein Kribbeln floss über Julians Körper als er Gänsehaut bekam, bei dem Gedanken, in welcher Form er Abbitte leisten würde.
»Sieh nur. Da vorn kann man es schon sehen.« Unbeschwert wies Henry in die entsprechende Richtung. »Ich hoffe, es wird Euren Ansprüchen genügen, Mylord.« Mit einem Zwinkern trieb er sein Pferd an.
Neugierig trat Julian hinter Henry in das Holzhaus. In einem großen Hauptraum, der als Küche und zum Aufenthalt gleichermaßen diente, stellte Milo gerade ein paar einfache Holzstühle an den Tisch.
»Willkommen«, begrüßte er sie herzlich. »Ich bin sofort fertig. Es stehen Betten in einer Schlafkammer und auf dem Dachboden zur Verfügung. Wir haben uns erlaubt, Vorräte bereitzustellen. Da nur ein Kleiderschrank …«
Julian sah sich um, hörte kaum, was der gewissenhafte Diener ihnen miteilte. Man hatte alles geputzt und sogar hübsch hergerichtet, mit weichen Kissen auf den Stühlen, Vasen voller Blumen und einer Obstschale, die das Überleben von doppelt so vielen Menschen sichergestellt hätte.
Er musste sich das Lachen verkneifen. Hätte er nicht schon im Vorfeld gewusst, dass man sie, zumindest Andrew und ihn, für ausgemachte Dandys hielt, wäre er nun sicher zu dieser Einsicht gelangt.
Zum Lüften hatte man die beiden Flügel des kleinen Fensters weit geöffnet. Er stützte sich auf das schmale Fensterbrett und sah hinaus auf etwas in der Art eines kleinen Vorhofs aus festgetretener Erde, auf dem sich nun nach und nach wieder begannen Pflanzen anzusiedeln.
Andrew, der noch einen Moment länger bei den Pferden geblieben war, kam vorbeigeschlendert und winkte ihm grinsend mit einem Buch.
Tief sog Julian die klare, kühlere Luft des Waldes ein. Eines musste er zugeben, die Gerüche hier waren um Längen besser als in der Stadt, immer vorausgesetzt man machte einen großen Bogen um Schafherden und ähnlichem. Für eine Weile gestattete er sich die Vorstellung länger hierbleiben zu können, zusammen mit Henry, an diesem halbwegs abgelegenenOrt. Keine Kompromisse mehr, kein Versteckspiel – sie beide zusammen als das, was sie waren: ein Liebespaar.
Es war still geworden und er sah sich um. Milo ging gerade zur Tür hinaus. So in Gedanken hatte Julian überhaupt nicht auf dessen Verabschiedung reagiert. Als der Kammerdiener das Fenster passierte, wünschte er ihm gesondert noch einmal einen angenehmen Aufenthalt.
»Dein Milo ist wirklich zu freundlich«, erklärte Julian Henry lachend, ungeachtet dessen, dass ihn besagter Mann noch hören konnte. Die Behauptung, Bedienstete würden anmaßend und überheblich werden, wenn man sie lobte, empfand Julian bisher als haltlos.
Sein Liebster kicherte. »Für dich wird er immer Nachsicht haben. Das macht seine Schwäche für Kunst und die dazugehörigen Künstler.«
»Ach, wie nett.« Er hätte lügen müssen, um zu behaupten, es würde ihm nicht schmeicheln.
»Das vertraue ich dir nur an, da ich mir sicher bin, du wirst ihn mir nicht abwerben.«
»Als ob ich so etwas je tun würde.« Es war absurd. Nicht nur das Julian sehr zufrieden mit Giles war, gehörte es sich einfach nicht.
»Eben.« Henrys Lächeln war verschmitzt, seine Augen glitzerten.
»Ohne mich zu sehr in den Vordergrund drängen zu wollen«, meldete sich Andrew zu Wort. »Ist es euch lieber, wenn ich gleich spazieren gehe, oder machen wir noch irgendetwas gemeinsam, bevor ihr das tut, für das ihr hier seid.«
Hätte Andrew ihnen nicht so deutlich vor Augen geführt, was sie eigentlich geplant hatten, wäre Julian zurückhaltender gewesen. Gerade seinem Freund gegenüber empfand er es unhöflich, ihn gleich nach der Ankunft allein zu lassen, um sich diesen ganz speziellen Vergnügungen hinzugeben.
Doch so spazierte Andrew gut gelaunt, nach nur einem Blick in die Gesichter seiner Freunde, die Hände hinter sich verschränkt, dabei in der einen sein Buch haltend, aus der Tür, durch die er eben erst eingetreten war, wieder hinaus.
Von einer plötzlichen Unsicherheit ergriffen, sahen sich Henry und Julian schüchtern an. Zeitgleich begannen sie über diese Absurdität zu lachen und gingen aufeinander zu. Sie umarmten sich, hielten sich völlig unbefangen, froh endlich ungestört beieinander sein zu können. Doch da war mehr als das und anfangs konnte Julian die Herkunft seiner Gefühle nicht benennen. In der Zwischenzeit hatte Henry begonnen ihm den Rücken entlangzustreicheln, schmiegte sich fester an ihn.
Obwohl es eigentlich als Jagdhaus gedacht war, wurde es die letzten Jahre nicht als solches genutzt. Es war noch immer größtenteils wie ein Wohnhaus eingerichtet, wie ein Zuhause. Bis zu diesem Moment hatte er nicht das Bedürfnis verspürt, mit jemanden einen Hausstand zu gründen. Es war ihm schließlich auch nicht möglich, das mit einem Geliebten zu tun, genauso wenig wie er den Menschen, den er auf diese besondere Weise liebte, heiraten konnte. Und doch war diese Sehnsucht nach mehr nun so schmerzlich präsent. Er seufzte tief.
»Was hast du nur?« Henry zog seinen Kopf zurück, sah ihn besorgt an, legte zart seine Hand auf dessen Wange.
Lächelnd legte Julian seinen Kopf schräg, weiter in die liebevolle Berührung. »Ich liebe dich. So sehr, dass mir vernünftiges Denken hin und wieder schwerfällt.«
»Und das lässt dich seufzen?«
»Nein. Das waren gewisse Wünsche.« Julian stahl sich einen kurzen Kuss.
Das kleine Lächeln auf Henrys Lippen war voller Verlegenheit. Nachdem er sich kurz und kräftig auf die Unterlippe gebissen hatte, beugte er sich dicht an Julians Ohr und wisperte ihm »Ich will dich« zu.
Das Bett knarrte leise unter Henrys Gewicht. Er hatte sich gesetzt und hielt Julian dabei an den Händen.
Sie waren unerwartet wieder in ihre Schüchternheit zurückgefallen, als sie sich kurz zuvor ihrer Kleidung entledigt hatten. Seinen Geliebten hier in dieser Abgeschiedenheit so gänzlich unbekleidet zu sehen, ging Julian erstaunlich nahe.
»Lass uns ein wenig beieinander sein«, bat Henry, das Gesicht vor Aufregung errötet, die Augen schon dunkel vor Verlangen.
Noch einmal gab das Bett dieses kleine Knarzen von sich als Julian sich zu ihm gesellte. Er legte sich hin und streckte seinem Liebsten seine Arme entgegen, als Aufforderung es ihm gleich zu tun.
So dicht wie es ihre Körper zuließen, drängte sich Henry an ihn und Julian fiel auf, dass warme Haut an warmer Haut seit Neustem ein außergewöhnlich berauschendes Gefühl für ihn war.