Die Fahrt zurück, genau wie die folgenden Tage verliefen eher ruhig. Beiden, Julian als auch Andrew, hatten die Geschehnisse einen gehörigen Schrecken eingejagt. Ob man ihnen etwas anmerkte, konnte Julian nicht genau sagen. Möglich, dass sie stiller waren als sonst. Seine Anspannung, die aus der Sorge um Henry resultierte, versuchte er fest in sich zu verbergen.
Es waren nur einige unaufregende Einladungen abzuarbeiten. Einen Tiefpunkt stellte der Besuch des abdankenden Pfarrers in Begleitung seines Nachfolgers dar. Um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, begann der scheidende Gottesmann beim Abendessen eine flammende Ansprache über Sünden, insbesondere die der fleischlichen Begierde, zu halten.
Dem jüngeren Mann in seiner Begleitung, der mit engelsgleichen blonden Locken und großen himmelblauen Augen aufwarten konnte, stand der Mund vor Bestürzung offen.
Familie Wendridge war die Neigung des alten Mannes bekannt und die Empfindlichkeit, insbesondere der Damen des Hauses, hatte nachgelassen.
Julian verging der Appetit. Er widerstand dem Drang sich seufzend die Schläfen zu massieren. Es war so ziemlich das Letzte, was er gerade gebrauchen konnte - eine Predigt über seine fehlgeleiteten Gefühle und Gelüste.
In einer Atempause des Pfarrers, die auch durchaus als Abschluss gesehen werden konnte, da er sich begann zu wiederholen, warf Lord Wendridge ein handfestest »Amen« hinein.
»All das Laster auf unserer schönen Erde, soll uns dennoch nicht davon abhalten, Mrs. Collins Respekt zu zollen, in dem wir ihren hervorragenden Apfelkuchen probieren.«
Es war keine Geheimnis, wie sehr der Pfarrer diesem Kuchen zugetan war und einigen Gerüchten nach, der Erschafferin dieser Süßspeise ebenso.
Der Abend war schon weit fortgeschritten, eigentlich war es sogar schon Nacht, da wanderte Julian mit einer Auswahl von vier Büchern aus der Bibliothek zurück in sein Zimmer. Er vermutete keines davon zu lesen, weil sein Augen vor Müdigkeit brannten, ihm der Schlaf durch seine aufwühlenden Gedanken jedoch bisher fern geblieben war. So viele Dinge bereiteten ihm Unbehagen, allen voran das Wohlbefinden seines Liebsten. Eine Nachricht von ihm, hätte Julian beruhigen können, nur brauchte die Postkutsche ihre Zeit, vorausgesetzt Henry schrieb ihm noch einmal. Immerhin war er nicht zu seinem Vergnügen unterwegs und hatte sicher zu tun. Jetzt gestattet er es sich tief zu seufzen.
Ein Dienstmädchen rannte in seine Richtung. Überrascht von der Tatsache, dass sie sich derart stürmisch fortbewegte mit schiefem Häubchen und losen Strähnen, blieb er stehen und erkannte zu spät, wie sie ihn gar nicht wahrnahm. Er schaffte es nicht mehr ihr den Weg freizumachen. So ließ er den Stapel Bücher fallen und bremste das laufende Mädchen an den Armen fassend ein wenig ab, bevor sie gegen ihn prallte.
Sie sah zu ihm auf als wäre er eine nicht einzuschätzende Erscheinung.
»Was ist passiert?«, fragte er nach.
Jetzt fiel es ihr wieder ein. »Das Baby. Das Baby kommt. Die Hebamme ... Der Arzt ...«
»Dann lauf.« Schnell ließ Julian sie wieder frei.
Sie sah auf die herabgefallenden Bücher und zögerte.
»Geh, Mädchen. Die hebe ich auf«, beschwor er sie noch einmal.
Endlich setzte sie mit wehenden Röcken ihren Weg fort.
Weiter vorn öffnete sich eine Tür und Andrew sah sich übermüdet mit wirren Haaren um.
»Ist etwas passiert?«, fragte er skeptisch als Julian neben sich und vor den auf dem Boden liegenden Büchern stand.
Das Nicken kam vor den Worten, da Julian die eben erhaltende Information nur langsam verarbeitete. »Das Baby kommt.«
»Oh.« In Andrews Gesicht zeichnete sich Freude ab. »Ob Reginald Beistand braucht?«
»Bestimmt.« Julian verstand nicht wieso, aber er war plötzlich furchtbar aufgeregt.
Die bevorstehende Geburt machte die Nacht zum Tag im Hause Wendridge. Ein Großteil der Bediensteten, die auf Seashell Castle lebten, waren wach, ob sie gebraucht wurden oder nicht. Die männlichen Familienmitglieder inklusive Andrew harrten in einem Salon aus, Gläser mit Brandy unangetastet neben sich. Reginald wechselte die Gesichtsfarbe von blass zu blasser, stand auf lief ziellos umher, setzte sich wieder, als ihm auffiel, was er tat.
Anfangs hatten sie versucht sich zu unterhalten. Selbst Lord Wendridges Versuche seinen Ältesten zu beruhigen, schlugen fehl.
»Wie hast du das nur drei Mal durchstehen können?« Reginald machte sich nicht einmal mehr die Mühe, seinen Verzweiflung zu verbergen.
»Wenn du das Kind das erst Mal in den Armen hällst, ist alles davor vergessen«, prophezeite sein Vater.
Es kam nur ein tiefes, bekümmertes Seufzen als Antwort.
Julian sah, wie sehr die Hand seines Bruders zitterte, als sich dieser die Stirn massierte. Er selbst war nervös, ohne Frage, wie es sein musste der Ehemann und Vater zu sein, einen Teil der Verantwortung für all das, was Vivianne jetzt durchmachte, zu tragen, konnte er bei aller Anstrengung dann doch nicht erfassen. Dinge zu sagen, wie: »Sie wird es schon schaffen« oder »Alles wird gut« erschienen lächerlich, also schwieg er.
Nach einer weiteren Stunde schlug Andrew leise ein Kartenspiel vor. Lord Wendridge Zustimmung duldete keinen Widerspruch, was im Sinne aller war.
Irgendwann begann sie um sinnlose Kleinigkeiten zu spielen, vom einzelnen Manschettenknopf bis zur Übernahme eines lästigen Gesprächspartners auf einer der kommenden Veranstaltungen, war alles dabei.
Das Spiel an sich hatte sie nicht mitreißen können, das Ausdenken der Einsätze, tat es dann ausgesprochen gut.
Julian gewann unter anderem eine leere Sherrykaraffe von seinem Vater, ein veilchenfarbendes Haarband aus Andrews Besitz und das schrecklichste Parfum aller Zeiten von seinem Bruder. Dieser hatte es sich in sehr jungen Jahren von einem aufdringlichen Verkäufer aufschwatzen lassen. Er hatte es sich behalten, um sich selbst daran zu erinnern, auf seinen Instinkt zu hören und weil es ihn und andere amüsierte. Abgesehen davon, war er überzeugt davon, es helfe Mücken abzuwehren.
Etwas erstaunt war Julian, dass er genötigt wurde, mehrfach eine Zeichnung nach Wunsch einzusetzen. Familie und Freunde brauchten eigentlich nur an ihn herantreten und ihre Vorstellungen zu äußern. Das dachte er zumindest. Vielleicht gefiel es ihnen auch einfach nur, die alleinige Befehlsgewalt über sein Schaffen zu haben.
Andrew grinste breit als er es gewann und Julian ahnte Unheilvolles. Er würde ihn hoffentlich nicht dazu bezirzen, ihm etwas in der Art eines großformatigen Gemäldes von einer Ansammlung wollüstiger Pane zu malen.
Mitten in einer Partie um einen Rosenstrauch, den Lady Lincolnshire eigentlich Lord Wendridge versprochen hatte, kam ein junges Dienstmädchen hereingestürmt.
»Das Baby ist da«, rief sie euphorisch und drehte wieder um.
Alle sprangen auf.
»Geht es meiner Frau gut? Und dem Kind?«
Mehr als ein koboldgleiches Kichern war von dem davoneilenen Mädchen nicht zu hören.
»Ich denke, das bedeutet Ja.« Andrew stahlte.
»Die Rosen gehören dir, mein Freund.« Reginald schlug ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. Seine aufgedeckt auf dem Tisch liegenden Karten, wiesen ihn als Gewinner dieser Runde aus.
Langsamer folgten die anderem dem frischgebackenen Vater.
Selbst überrascht, wie nervös er war, griff Julian unauffällig nach Andrews Hand und drückte sie. Dieser erwiderte die Geste, bevor sie sich wieder losließen.
Erst nach dem vierten Fenster, an dem sie vorbeikamen, nahm er wahr, dass bereits der neue Tag angebrochen war. Da sie im Salon die Vorhänge geschlossen gehalten hatten und Blicke auf die Uhr vermieden, war ihnen das Fortschreiten der Zeit völlig entgangen.
Aus dem Zimmer, in dem sich Vivianne und das Neugeborene befanden, kamen kaum Geräusche. Reginald war schon hineingegangen. Nach ihm betrat der stolze Großvater den Raum. Andrew blieb bei Julian, bis dieser herein durfte und damit seinen Vater ablöste.
»Ich warte auf dich«, beschloss Andrew.
»Du bist neugierig, nicht wahr?«, kicherte Julian albern.
»Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß. Und jetzt geh, du hast jetzt ein neues Amt zu bekleiden.« Andrew drehte ihn zur Tür und gab ihm unauffällig einen Klaps auf den Hintern.
Mit ehrfurchtsvollem Staunen betrat Julian das Zimmer.
Bevor man die Männer geholt hatte, war Vivianne umgebettet worden, das Kind gewaschen und überhaupt alle Spuren der Geburt weitestgehend beseitigt. Hebamme und Arzt wurden dankbar in einem Salon verköstigt.
Seine Schwägerin lag etwas aufgerichtet im Bett, das Baby auf ihr. Sein Bruder kniete neben ihr auf dem Boden in stiller Anbetung, die Wimpern feucht und dunkel. Auf einer Chaiselongue lag zusammengerollt Josi und schlief. Auf allem schien eine friedliche Glückseligkeit zu liegen.
»Möchtest du nicht deine Nichte begrüßen?« Sein Bruder streckte die Hand nach ihm aus.
Zaghaft ging Julian näher, mit einem Gefühl, er könne dieses winzige Menschlein mit seiner Anwesenheit erschrecken.
Das kleine Mädchen war nicht im eigentlichen Sinne hübsch, aber wer wäre das schon, nach so einer Tortour. Und es war auch überhaupt nicht wichtig, so wie sie alle Liebe allein mit ihrer Anwesenheit auf sich zog.
Julian erfasste die Hand seines Bruders und zog ihn auf die Beine.
»Meinen Glückwunsch.« Er umarmte ihn.
Reginald drückte ihn in seiner unbändigen Freude schmerzhaft fest an sich und Julian ächzte als er losgelassen wurde.
Gemeinsam sahen sie hinab auf das neuste Familienmitglied. Da wurde Julian bewusst, dass er das vermutlich nie für sich selbst erleben würde. Er empfand dabei, verblüffemderweise kein Bedauern. Es kam ihm vor, als sein das Vatersein für ihn nicht vorgesehen. Möglich, dass er später in seinem Leben betrübt über die verpasste Gelegenheit sein würde. Nur irgendetwas in ihm sagte, er wäre trotzdem mit sich im Reinen. Ein Onkel für die Kinder seiner Geschwister zu sein, genügte vollkommen.