Nur noch schemenhaft konnte sich Julian daran erinnern, wie er den restlichen Abend verbracht hatte. Da Andrew verschwunden schien, blieb er anfangs noch bei den Evans. Leider war er immer noch kein guter Gesprächspartner und ehe er den Eindruck erweckte, ihm wäre ihre Gesellschaft langweilig, ging er. Abgesehen davon, konnte es verhängnisvoll werden vor aller Augen in Henrys Nähe. Die Anziehungskraft, die er auf Julian ausübte, hatte sich, wenn überhaupt möglich, noch gesteigert. So wanderte er herum bis er sich endlich, ohne Aufsehen zu erregen, verabschieden konnte. Es ärgerte ihn maßlos, dass er es nicht schaffte, bei dem letzten Aufeinandertreffen an diesen Tag, Henry ins Gesicht zu sehen, doch war er sich sicher damit seine Gefühle zu verraten.
In seinem Zimmer hatte Giles auf ihn gewartet, was er nicht hätte machen müssen. Er schwieg, während er seinem müden und verstörten Dienstherren beim Auskleiden half, gab ihm einfach nur das Gefühl, für ihn da zu sein.
Irgendwann kam dann doch der Moment, in dem Julian allein war. Er brachte es nicht über sich das Licht zu löschen. Starrte und grübelte, rief sich all die Worte und Gesten in Erinnerung. Wenn er es auf Andrews Art deutete, wenn er glaubte, Henry hatte von dem gesprochen, was er dachte ... Besonders die letzten Wort waren außerordentlich tückisch. Henry hatte jemand anderen im Arm halten wollen. Julian gestattete sich nicht einmal daran zu denken, wer dieser Andere sein könnte, denn er spürte diesen Hoffnungsschimmer, der tatsächlich ein Fegefeuer sein würde, wenn er ihn zuließ. Und genauso entsetzlich schmerzhaft wäre die Enttäuschung, sollte es sich um irgendwen Anderes handeln.
Es wäre ein Wunder gewesen, wenn er nicht den Rest der Nacht wachliegen würde.
Ein Klopfen ließ ihn aufschrecken. Barfuß lief er zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Ihm war jede Ablenkung recht.
»Leider nur ich.« Andrews graublaue Augen funkelten verwegen. »Darf ich?«
»Natürlich. Und überhaupt nicht leider.« Julian trat einen Schritt zurück und machte den Weg in sein Zimmer frei.
»Oh je. Keinen Erfolg gehabt?« Ganz selbstverständlich wählte Andrew als Sitzplatz das aufgeschlagene Bett.
»Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Wirklich sicherer bin ich durch unsere Unterhaltung nicht geworden«, seufzte Julian und gab so präzise wie nur möglich die jüngsten Ereignisse wieder.
Gebannt lauschte sein Freund, begann hingerissen zu lächeln, ergriff dann Julians Hand. »Deine Besorgnis verstehe ich nur zu gut, genau wie deine Verwirrung. Ich denke jedoch, du hast den Stein ins Rollen gebracht und musst jetzt etwas Geduld haben.«
Zu Julians Verwunderung drückte Andrew ihm einen Kuss auf die Fingerknöchel. »Wieso küsst du auf einmal meine Hand? Das hast du noch nie getan.«
»Du warst auch noch nie so unbeschreiblich entzückend verliebt. Außerdem habe ich etwas zu viel getrunken«, lachte Andrew. »Nun aber noch ein weiter Grund für meinen nächtlichen Besuch.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche.
Es war nicht schwer zu erkennen, um was es ich handelte, nachdem er es Julian hingehalten hatte. »Ein Schuldschein? Du hast mit Coverstone gespielt?«
Sein Freund zuckte mit den Schultern. »Ich hatte die Wahl. Das oder ihn zusammenzuschlagen. Wobei ... zusammenschlagen zu lassen wahrscheinlich richtiger wäre. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das so effektiv, wie ich es gern hätte, Zustande bringen würde. Du siehst, ihm die Taschen durch ein kleines Spiel zu leeren, war die bessere Alternative.«
»Rache für das Fehlverhalten gegenüber Josi? Nicht besonders Gentleman-like, aber ausgesprochen lieb von dir.« Julian war gerührt.
»Nicht nur für Josi. Coverstone ist eine kleine Ratte. Er muss ganz gehörig gestutzt werden, bevor er den Platz im Parlament übernimmt. Ich unterstütze indirekt und auf meine Weise nur unsere werten Brüder, die sich mit diesem Idioten bei gegebener Zeit herumschlagen müssen.«
Trotz Andrews affektiertem Gebaren sah Julian die Ernsthaftigkeit dahinter. »Dir ist schon klar, dass du einer von den Guten bist?«, neckte er seinen Freund.
»Sag das mal dem da oben.« Andrew nickte in Richtung Decke. »Egal wie viele Jungfrauen ich errette oder Drachen erschlage, sobald ich dem Drang nachgebe, die Laken meines Bettes mit einem Mann in Unordnung bringen zu wollen, bin ich verdammt.« Sehr selten gestattete es sich Andrew in Gegenwart anderer melancholisch zu sein. Um so mehr schätzte Julian das entgegengebrachte Vertrauen.
»Wie dem auch sei«, fuhr Andrew wieder fröhlich fort. »Was mache ich denn nur mit dem ganzen Geld? Es ist im übrigen nicht das Einzige.« Er holte noch zwei weitere hervor.
»Ausgeben? Anlegen?« Was hatte sein Freund nur in seiner Abwesenheit getrieben?
»Ich weiß nicht so recht. Eigentlich sollte ich es nicht laut sagen, aber meine Familie schwimmt geradezu in Geld.« Angewidert verzog Andrew sein Gesicht, um gleich darauf schlemisch zu grinsen. »Ich werde mir wohl etwas überlegen müssen.« Er erhob sich. »Und jetzt würde ich mich für heute endgültig von dir verabschieden, denn wir brauchen beide ganz dringend unseren Schlaf.« Er griff Julian kurz unter das Kinn und hob dessen Gesicht etwas an. »Nun denn, gehabt Euch wohl, liebster Freund. Ich wünsche Euch allersüßeste Träume.« Er schlug die Hacken zusammen, neigte seine Kopf und schritt dann kokett aus dem Zimmer.
Julian kichert noch nachdem die Tür wieder geschlossen war. Zuversichtlicherer als noch vor wenigen Minuten, schob er seine Beine unter die Decke. Er streckte sich aus und in der aufkommenden Müdigkeit gestattete er es sich voller Zärtlichkeit an Henry zu denken. Seinen Zweifeln konnte er genauso gut auch noch morgen nachgehen.