Irgendwie war Julian schlecht geworden, und zwar gar nicht lange, nachdem sie losgeritten waren. Dazu kam ein Gefühl, als zittere er, nur schien es eher innerlich. Kurzzeitig hatte er sogar das Gefühl sich übergeben zu müssen. Was, wenn Lord Evans seinerseits den Umgang zwischen Henry und ihm untersagte? Er versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Sein Pferd zum Beispiel und dass er nicht allein unterwegs war. Es half nur bedingt seine Übelkeit zurückzudrängen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er bei Aufregung bisher nicht solch starke körperliche Beschwerden bekommen. Es lag gewiss an den Umständen und der Liebe zu Henry, denn es fehlte ihm noch, sich irgendeine Erkrankung zugezogen zu haben. Eine Schwangerschaft ließ sich glücklicherweise per se durch sein Geschlecht ausschließen.
Allerdings war er nicht der Einzige, der mit seiner Angespanntheit zu kämpfen hatte. Josi und Andrew versuchten sich immer wieder an leichter Konversation, die sich jedoch jedes Mal nach Kurzem in nachdenkliches Schweigen verwandelte.
Als hätten sie sich abgesprochen, verfielen sie, kaum, dass sie in Hörweite von Bediensteten der Evans kamen, in diesem Fall zwei Gärtner, in vorgeblich unbeschwertes Geplänkel. Waren die Blicke der beiden Männer skeptischer als früher? Ihr Gruß weniger freundlich? Das Lächeln zurückhaltender?
Sie ritten gleich zu den Stallungen und dort war der Stallmeister eindeutig im ersten Moment überrascht. Er fing sich schnell und rief einen der Burschen herbei, um die Pferde in Empfang zu nehmen.
Am Haupteingang wurden sie dann schon vom Butler erwartet. Höflich bat er sie nach drinnen und setzte an sie zu dem offiziellen Salon zu begleiten. Schritte von der Treppe her ließen sie zu eben jener aufblicken. Dort stand Henry und hielt, in Anbetracht der auf ihm ruhenden ungeteilten Aufmerksamkeit, inne. Er sah blass aus und müde. Unsicherheit, ob er sich über Julians Anblick freuen durfte, sprach aus seinen Augen. Er hielt sich am Geländer fest und schien nicht mehr in der Lage weitergehen zu können.
»Wir haben Besuch?« Noch bevor sie zu sehen war, hörte man Lady Evans herbeieilen. »Oh, meine Lieben. Wie schon euch zu sehen.« Sie band sich ihre weiße Schürze ab und drücke sie ihrem Butler in die Hand. Dann umarmte sie, angefangen bei Josephine, einen nach dem anderen. »Ich habe Blumen aus dem Garten kommen lassen und war gerade dabei sie zu arrangieren. Lillian ist schon so aufgeregt, dass sie selbst kaum noch weiß, was ihr gefällt. Vielleicht möchtet ihr einmal schauen, welche Komposition euch mehr überzeugt?« Julian wusste nicht so recht um was es ging und da war er nicht der Einzige, deshalb ergänzte Lady Evans: »Wir beschäftigen uns gerade mit der Dekoration für die Hochzeit. Einen Floristen hätten wie auch nicht engagiert, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten. Unsere Ruth, aber auch Bethenny können das genauso gut.« Sie entdeckte Henry. »Was stehst du denn da so geisterhaft auf der Treppe. Deiner Mutter bekommt noch mal einen Herzanfall vor Schreck. Komm und begrüße unsere Gäste. Und dann kannst du auch deine Meinung zu den Blumen zum Besten geben.«
Henry begann zaghaft zu lächeln. »Entschuldige bitte.« Kurz wagte er es Julian in die Augen zu sehen, bevor er endlich die Treppe hinab kam.
»Schön, euch zu sehen.« Alles in allem wirkte Henry beherrscht, wie er so bei ihnen stand.
Zu gern hätte Julian kurz mit ihm allein geredet, sich nach seinem Befinden erkundigt. Er glaubte, ein Flackern von Angst in den schönen, braunen Augen zu erkennen.
Lady Evans führte alle in den Saal, in dessen Mitte man einen langen Tisch gestellt hatte. Es war zu vermuten, dass die beiden Mädchen, die sich eifrig mit Blumengestecken beschäftigten, Ruth und Bethenny waren. Kaum bemerkten sie die Neuankömmlinge, begrüßten sie diese und knicksten vorbildlich.
Natürlich fiel es Julian schwer, sich auf Blumen zu konzentrieren, wenn sein Liebster so nah war, obwohl sie nie nebeneinander standen. Erst stand Josi zwischen ihnen, dann Lady Evans, wobei er es eher als Zufall, denn Absicht betrachtete. Doch genau durch die unbekümmerte Art der zwei Ladys ließ seine Anspannung etwas nach. Er konnte zwar immer noch nicht ungestört mit ihm reden und schon gar nicht in den Arm nehmen, doch er sah ihn, sah wie das blasse Gesicht wieder ein wenig frischer wirkte, wenn sie sich kurz ansahen, ein winziges aufmunterndes Lächeln tauschten. In den Anblick der rosafarbenen Rosen versunken, schwor er, alles in seiner Macht stehende zu versuchen, einen Weg zu finden, um weiterhin zusammen sein zu können.
»Also meiner persönlichen Meinung nach, wäre das Gesteck mit den rosa Tönen sehr passend«, meldete sich gerade Andrew zu Wort.
»Denke ich auch.« Josi tippte auf eine der blühenden Schönheiten. »Sie sind nicht so aufdringlich, wie die roten und sie spiegeln besser Lillians Art wider. Sie ist so liebreizende, fröhlich und unbekümmert. Das Rot dagegen wirkt irgendwie so … schwer.«
Überrascht sah Lady Evans Josi an und wiederholte mit kaum verhohlener Resignation: »Unbekümmert.« Doch schon fand sie ihr herzliches Lächeln wieder. »Dann sollen es die hellen Rosen sein. Ich finde sie auch hübscher. Außerdem haben wir von denen so viel mehr als von den roten.« Sie vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, dass die Dienstmädchen die Entscheidung mitbekommen hatte. An die Gäste gewandt meinte sie: »Wollen wir uns in den Salon zurückziehen? Ihr seid ja sicher nicht aus Neugier über den Fortschritt der Hochzeitsvorbereitungen hier.«
Die Wahrheit zu sagen stand außerhalb der Möglichkeiten, also öffnete Julian zwar den Mund, war aber mit seinen Gedanken noch nicht so weit, sich sinnvoll äußern zu können.
»Eigentlich hatten wir vor zu fragen, ob Henry Lust hätte, mit uns wieder auszureiten«, sprang Andrew ein.
Ein Schatten ihrer Bedenken huschte über das Gesicht der Baroness, bevor sie sich wieder ganz unter Kontrolle hatte. »Wie nett.« Sie ließ ihren Blick über alle gleiten, um zu einer Entscheidung zu gelangen. »Ist denn nicht bald Mittagszeit? Ihr könntet hier essen und vielleicht danach ausreiten.«
Da sich die Begeisterung recht offensichtlich in Grenzen hielt bei ihrem Vorschlag, teilte sie eine weitere Idee mit. »Oder ihr nehmt etwas zu essen mit und macht ein Picknick. Das Wetter ist so schön heute, wenn ihr euch etwas Schatten sucht … Habt ihr denn ein Ziel?«
Julian hoffte, die anderen waren einverstanden. »Die alte Abtei.« Gerade so bekam er es hin, es nicht als Frage klingen zu lassen.
»Oh, die Abtei wie ro… schön. Ein wirklich nettes Plätzchen für ein Picknick.« Henrys Mutter bekam rote Wange, was kaum verwunderlich war, bei ihrem ersten Gedanken, um diesen Ort zu beschreiben.
»Ein Picknick?« Lord Evans kam herein, sah die Gäste und begrüßte sie.
»Ja.« Seine Frau lachte erfreut, als wäre sie mit von der Partie. »Die Kinder wollen bei den Ruinen ein Picknick machen.«
Zermürbende Momente lang sah Lord Evans seinen Sohn an, die Augen etwas schmaler als sonst, die Stirn leicht gefurcht. Nur einen Augenblick presste er seine Lippen aufeinander, bevor sich sein väterliches Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete und er mit einem Nicken seine Zustimmung erteilte. »Dann wünsche ich euch viel Spaß.«
Auf dem Weg zur alten Abtei brachte Julian kaum ein Wort heraus. Der einzige klare Gedanke in seinem Kopf drehte sich darum, mit Henry zu sprechen – allein. So wie es die Gegebenheiten zuließen, ritten sie nebeneinander. Er warf Henry ein unsicheres Lächeln zu und bekam ein trauriges zurück.
Die wenigen verbliebenen, bröckeligen Mauern und Säulen versprachen eine kurze Zuflucht. Bedachte man die ursprüngliche Bedeutung dieses Ortes, hätte man von einem absurden Scherz sprechen können. Zuflucht ja, für unverheiratete Liebende eher nicht und schon gar nicht, wenn beide das gleiche Geschlecht hatten. Doch hier war niemand mehr, der sie zurechtweisen konnte und vom Blitz waren sie schließlich auch nicht getroffen worden, als sie sich hier geküsst hatten.
»Schau, Andrew. Dort hinten wachsen so schöne Kornblumen und Magaritten.« Josephine wies zu einer Stelle am anderen Ende und außerhalb der Ruine.
»Ja, wirklich hübsch.« Sie waren gerade erst angekommen und Andrew zog sich seine Kleidung glatt.
»Ich würde zu gern welche pflücken.« Erwartungsvoll sah sie zu ihm auf.
»Und mir wäre es eine Freude dich begleiten zu dürfen.« Er hielt ihr seinen Arm hin und ohne auch nur einen Blick zurück, gingen sie davon.
»Wollen wir?« Julian wies unbestimmt auf die steinernen Überreste.
Auf Henrys Zustimmung hin, setzte er sich in Bewegung, stieg über herabgefallene Gesteinsbrocken und ging an einer übriggebliebenen Mauer entlang. Sein Ziel war eine Ecke, in der man verhältnismäßig gut von allen Seiten abgeschirmt war. Sicherheitshalber sah er sich noch einmal gründlich um. Sein Liebster, der ihm dicht gefolgt war, tat es ihm gleich. So wie sie sich sicher waren, unbeobachtet sein zu können, sah Henry ihn an ohne sich zu verstellen. Nun konnte man seine Fassungslosigkeit sehen und seine Angst. Kurz hatte Julian den Eindruck den jüngeren Henry vor sich zu sehen, verzagt, unsicher, allein gelassen mit seinen starken Gefühlen. Er ergriff die Hände seines Liebsten und zog ihn zu sich. Er selbst hatte Andrew, der ihm beistand. Henry blieb diese Unterstützung verwehrt.
Eng umschlungen hielt Julian ihn an sich gedrückt. Sofort schmiegte Henry seinen Kopf an. »Wie konnte das nur geschehen?«, wisperte er. »Das habe ich nicht gewollt. Ich fühle mich so schuldig.«
Der Körper in seinen Armen spannte sich an und Julian streichelte, hoffentlich beruhigend über den Rücken. Schuldgefühle wegen dem, was er tat, was er war, waren ihm nicht fremd, allgegenwärtig schwelten sie am Rande seines Bewusstseins.
»Wenn ich mich zurückgehalten hätte, nicht versucht hätte, dich zu verführen …«, begann Henry zitternd.
Julian unterbrach ihn, in dem er ihn etwas von sich drückte. »Ich gebe dir bestimmt keine Schuld. Ganz im Gegenteil. Oder bereust du, was zwischen uns ist?«
Henry schüttelte den Kopf immer noch diesen unsicheren Ausdruck in den Augen. Da begriff Julian, dass Henry Vorwürfe fürchtete.
Er umfasste dieses schöne und traurige Gesicht vor sich, »Ich liebe dich, Henry Evans« und küsste ihn fest.
Zögernd schnitt er nun das unschöne Thema, das sie umwölkte, dieses kleine Bisschen Unbeschwertheit zwischen ihnen zerstört hatte, an. Berichtete kurz, wie er von dem Dilemma erfahren hatte und fragte bei seinem Liebsten nach.
»Mein Vater kam zu mir. Er fühlte sich einfach nur unwohl, mit mir darüber sprechen zu müssen. Er versuchte so nüchtern wie möglich mir die Fakten zu vermitteln und fragte mich im Anschluss, ob ich immer noch die Absicht hätte hier zu bleiben. Ich bejahte und ich konnte ihm ansehen, dass er sich seinen Teil dachte. Oh Gott, Julian, ich bin mir sicher, sie wissen das die Gerüchte auf einer gewissen Wahrheit fußen. Verzeih mir, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich war wie paralysiert. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.«
Diese schönen braunen Augen flehten ihn an und obwohl sich Julian immer noch vor möglichen Konsequenzen fürchtete, wollte er für Henry stark sein, der ihm unfassbar verloren vorkam. Er hielt ihn so lange wie es ihnen möglich war, beteuerte wieder und wieder seine Liebe und versuchte ihm Hoffnung zu geben, in dem er die Macht und Hartnäckigkeit seines Vaters versicherte.
»Egal, was passiert, ich werde dich nicht verlassen.« Julian hatte seinen Liebsten bei den Schultern gefasst, schaute ihm in die Augen und hoffte ihm etwas von seiner Angst nehmen zu können. »So lange wie du mich an deiner Seite haben möchtest, werde ich es sein. Wir werden Wege und Möglichkeiten finden, Zeit miteinander zu verbringen.« Julian schaffte es überzeugend zu lächeln und fühlte sich überraschenderweise dadurch auch ein wenig so. Sicher, die Angst lauerte immer noch irgendwo in ihm, verbreitete ihr diffuses Gefühl von Beklemmung, doch allein Henry sehen zu können, gab ihm Mut und ließ einen Funken Hoffnung aufblühen.
Er wischte Henry die einzelne Träne von der Wange, die sich bei seinen Worten hervorgewagt hatte und küsste ihn. Dieses Mal vorsichtig und zart.
Jetzt bemerkte er die Stimmen in der Nähe. »Wir sollten wieder zu den beiden gehen.« Und noch einmal fanden sich ihre Lippen.
Henrys Finger hatten sich halt suchend in Julians Kleidung gegraben.
»Schaffst du es?«, frage Julian deshalb leise nach.
Tief durchatmend nickte Henry, doch konnte er sich nicht durchringen loszulassen. »Ich vermisse dich so sehr«, gestand er traurig.
Julian konnte nicht anders, als sie wieder nahe zueinander zu bringen. »Und ich vermisse dich.« Seine Augen brannten verräterisch. Er kniff sie zusammen und sog so viel Luft ein wie er konnte, um sich zu beruhigen. Fatal nur, dass Henrys wundervoller Duft ihn berauschte, ihm Erinnerungen zurückbrachte und Sehnsüchte weckte.