In den folgenden Tagen gerieten die unschönen Ereignisse mehr und mehr in Vergessenheit. Coverstone war vorerst von der Bildfläche verschwunden und ohne ihn waren die anderen seiner vermeintlichen Freunde umgänglicher. Stattdessen begegneten sich Henry und Julian bei vielerlei Gelegenheiten. Es wurde zu einem morgendlichen Ritual auf halber Strecke ihres Ausrittes Henry mitzunehmen. Julian war in keiner Weise mehr verstimmt, an allen Einladungen teilnehmen zu müssen. Sein Liebster hatte den schlichten Vorwand in seiner Position Kontakte knüpfen und pflegen zu wollen. Wenn sie nicht zu gemeinsamen Spaziergängen, vorgeblich, um ihre begonnenen Gespräche zu vertiefen, aufbrachen, trafen sie, wie zufällig, an abgelegenen, ruhigen, schlecht einsehbaren Orten aufeinander, um sich glücklich in den Armen zu liegen und mal mehr, mal weniger intensiv Küsse auszutauschen. In einem Erker des mittelalterlichen Turms auf der Burg von
Lord Kearlight waren sie ein wenig zu weit gegangen und Garderobe und Haar waren in Mitleidenschaft gezogen worden. Andrew hatte weitere neugierige Besucher so lange abgelenkt bis sich Henry und Julian wieder einigermaßen gerichtet hatten und man ihnen nicht ihre Aktivitäten zu deutlich ansah. Die geröteten Gesichter konnten sie auch gut auf das Treppen steigen schieben.
Es war nicht so, dass Julian ihre kleinen heimlichen Treffen nicht genoss, nur hatte er in den letzten Jahren wesentlich intimere Beisammensein kennengelernt, was ihn nun verhängnisvoll stark nach mehr verlangen ließ. So wäre es auch nicht ansatzweise in dem Maße drängend, kämen diese Wünsche nur von seiner Seite. Er hätte sich zurückhalten können. Doch es war eindeutig. Henry wollte ebenso mehr und von mal zu mal wurde es schwerer wieder voneinander zu lassen ohne Erlösung durch und mit dem anderen gefunden zu haben.
»Wollen wir uns in den Garten setzten oder doch lieber in den Salon?« Lady Wendridge geleitete die Gäste durch die Halle, langsam genug, um nach der Antwort den entsprechenden Weg einzuschlagen.
»Der Garten hört sich ganz bezaubernd an, nicht wahr?«, wandte sich Lady Evans an ihren Gatten.
»Ganz wunderbar.« Es war ihm sichtlich egal, wo er saß und sich die Sandwiche schmecken ließ.
Julian kam langsam die Treppe herunter. Ein Blick von Henry genügte und er verfluchte, wie so oft zuvor, die Anwesenheit aller anderen Personen. Diese starke Anziehung zwischen ihnen trieb ihn noch in den Irrsinn. Um nicht allzu deutlich auf Henry zu reagieren, sah er sich gezwungen, sich
wesentlich öfter mit sich zu beschäftigen als sonst. Das letzte Mal als er das in diesem Ausmaß getan hatte, war zu der Zeit, als er herausgefunden hatte, welch wunderbaren Gefühle er für sich selbst heraufbeschwören konnte.
Auf der gepflasterten Fläche in Mitten von duftenden Rosensträuchern unter einem schattenspendenden Baldachin saß Julian neben Andrew auf einer hübschen, verschnörkelten Gartenbank, Henry vor ihm auf einem Stuhl gleicher Machart. Das kleine, runde Tischchen zwischen ihnen trennte sie nicht wirklich. Julian unterdrückte ein enerviertes Seufzen, da er keinem einzigen Gespräch vernünftig folgen konnten. Ständig wurden sie zu einem Hintergrundgeräusch für seine schrecklich schlichten Gedanken.
Beim Bedienen am köstlichen Zitronenkuchen berührte er versehentlich Henrys Finger. Das Prickeln kroch unerwartet schnell seinen Arm hinauf und er zuckte leicht, drückte dabei aus seinem Kuchenstück einige große Krümel heraus. Er begann auf Henrys Lippen zu starren als dieser sich,
nach dem ersten Bissen, darüber leckte. Und als sich sein Liebster etwas zurechtsetzte, danach wieder seine schlanken Beine übereinanderschlug, musste er tief durchatmen.
Er konnte nicht anders, ließ seinen Blick über den ansehnlichen Körper vor sich gleiten. So wie ihm bewusst wurde, was er da gerade tat, sah er Henry ins Gesicht. Dieser hatte ihn dabei beobachtet. Sein Lächeln verriet, dass er sich gleichfalls geschmeichelt als auch in Verlegenheit gebracht fühlte.
Julian ermahnte sich besser aufzupassen. Es war zu heikel, Henrys Anziehung auf ihn, wenn auch nur mit Abstand, Ausdruck zu verleihen.
Für Ablenkung sorgte Vivianne. Sie kam heraus, das Baby auf dem Arm. Reginald erhob sich und bot ihr seinen Platz an.
»Ich störe nur für einen Moment«, entschuldigte sie sich. »Mir kam in den Sinn, der kleinen Lady könne es gefallen, unsere guten Freunde kennenzulernen.« Sie setzte sich und drehte das Kind etwas, um alle den Neuankömmling sehen zu lassen.
Reginald beugte sich vor, griff kurz und sacht nach einem der Händchen. Er drehte sein Gesicht Vivianne zu und Julian war sich sicher, sein Bruder hätte sie gern geküsst.
»Was für ein wundervolles kleines Ding. Gut gemacht, ihr beiden.« Lady Evans lehnte sich ein wenig über ihren Mann hinzu den glücklichen Eltern.
Auch die restlichen Angehörigen ihrer Familie gratulierten.
»Kann es sein, dass sie dir ähnlich sieht?«, fragte Lillian Reginald.
Dieser sah nachdenklich auf seine Tochter hinab. »Ich bin sehr schlecht darin eventuelle Ähnlichkeiten von Personen zu erkennen.«
»Findet ihr nicht?« Sie wand sich an die anderen, die ihr alle in verschiedenen Maß zustimmten.
»Da kann sie sich ja glücklich schätzen, dass ihr Vater gutaussehend ist«, grinste Andrew.
Überrascht zog Reginald die Augenbrauen hoch und meinte daraufhin lächelnd: »Dann ist es wohl egal nach wem unsere Kinder kommen.«
Es wurde gelacht und gekichert und Andrew hob anerkennend seine Teetasse zu einem Prost.
»Habt ihr euch schon für einen Namen entschieden?« Das war wieder Lady Evans, hingerissen wie eh und je von Babys.
»Ja, tatsächlich haben wir das.« Vivianne sah zu Reginald auf.
»Wir haben uns dazu beschlossen unsere Tochter Brianna zu nennen, nach Viviannes Mutter«, verkündete dieser.
»Wie wunderschön. Ganz bezaubernd. Findest du nicht?« Die Baroness drehte sich zu ihrer Tochter.
Lillian wich kaum merklich zurück. Sie ahnte wohl, in welche Richtung die Gedanken ihrer Mutter gingen. »Wirklich bezaubernd«, presste sie hervor. »Ein außergewöhnlich schöner Name.« Zu guter Letzt warf sie ihrer Mutter noch einen bösen Blick zu.
Der Sekretär von Lord Wendridge kam zügig auf die Gesellschaft zu. In weiser Voraussicht ging Reginald ihm entgegen. Mr. Murry murmelte ihm etwas zu, kaum dass er bei ihm war.
»Natürlich.« Reginald nickte. Zu allen anderen gewandt, meinte er. »Ich muss mich leider entschuldigen. Mein Vater verlangt nach mir. Ich wünsche euch noch einen angenehmen Nachmittag.«
Mit weit ausholenden Schritten machten sich beide zurück auf den Weg ins Haus.
»Manchmal kommt die Arbeit gar nicht gelegen. Wie vorteilhaft, wenn man sich nicht im eigenen Haus aufhält«, grinste Lord Evans, nahm sich noch ein übrig gebliebenes Sandwich und biss voller Genuss hinein.
Seine Frau zwinkerte überrascht, tat die Aussage dann mit einem Schulterzucken ab. »Lady Wendridge findet Ihr es nicht auch eigenartig jetzt Großmutter zu sein. Als Thomas das erste Mal Vater wurde, konnte ich es lange gar nicht recht begreifen. Eben war er noch mein kleiner Junge und auf einmal hatte er selbst ein Kind. Dabei kam ich mir noch nicht einmal alt vor. Aber meine grauen Haare sprechen ihre eigene Sprache.«
Die Duchess berührte kurz ihr eigenes Haar, dass in dem sich langsam aber sicher immer mehr graue Strähnen vermehrten. »Wie wahr. Andererseits macht es mich glücklich zu sehen, wie sich die Familie vergrößert. In jeder Hinsicht.« Sie schenkte Vivianne ein warmherziges Lächeln.
»Einzig unser Julian fällt es noch etwas schwer, sich in seiner neuen Rolle zurechtzufinden. Mehr als einen Meter traut er sich noch nicht heran.«
Julian schaffte es nicht, seine Empörung zu verbergen. »Sie ist eben noch sehr klein. Kannst du mir garantieren, dass ich keinen Schaden anrichte?«
Amüsiert lächelnd erhob sich Vivianne. »Ach komm, Julian. Du willst doch sicher nicht deiner jüngeren Schwester in einer solchen Kleinigkeit nachstehen?« Sie ging auf ihn zu.
»Denkst du wirklich, ich würde mich bei so etwas herausfordern lassen?« Sie war gerissen, stellte Julian etwas bang fest. Natürlich würde er nicht feige den Rückzug antreten, wenn Vivianne ernst machte und ihm die kleine Brianna in den Arm legte. Dumm nur, dass sie immer noch so winzig,
zerbrechlich und vollkommen hilflos war.
Vorsichtig übergab Vivianne ihm das kleine Mädchen, dabei versuchte er so gewissenhaft wie nur möglich die Haltung, die er bei anderen babytragenden Leuten gesehen hatte, nachzuahmen.
Die Kleine fühlte sich schwerer an als erwartet, wobei sie immer noch leicht war.
Er sah sie an und eigenartige Gefühle bemächtigten sich bei dem Anblick dieses kleine Menschen seiner. Ein recht ursprünglicher Instinkt rief Fürsorglichkeit in ihm hervor, gepaart mit einer Art Glück. Doch, er konnte verstehen, was einen an Babys in den Bann zog. Das Lächeln auf seinem
Gesicht erschien von ganz allein, trotz seines ungewohnten Gastes, trotz der Sorge, er könne etwas falsch machen.
Schon nach kurzem wurde Brianna unruhig.
»Ich glaube, sie fühlt sich nicht ganz wohl, Vivianne?« Julian sah bittend zu seiner Schwägerin auf.
Solange seine Nichte ruhig in seinem Arm gelegen hatte, konnte er einigermaßen damit umgehen.
Beim Gedanken daran, sie könne zu weinen beginnen, war es allerdings mit seinem letzten bisschen Gelassenheit dahin.
»Ich nehme sie dir ab«, beruhigte ihn Vivianne, was ihn maßlos erleichtert, da die Kleine schon eigenartige Geräusche von sich gab.
Noch ehe ihre Mutter Brianna wieder an sich nehmen konnte, begann sie zu quengeln, drehte das Köpfchen und spuckte Julian einen Teil ihrer letzten Mahlzeit über die Sachen.
»Das tut mir furchtbar leid.« Schnell hob Vivianne das Baby zu sich.
Henry reichte ihm ein Taschentuch.
»Danke. Und kein Grund für Entschuldigungen.« Er versuchte notdürftig das Missgeschick zu beseitigen. Die Kleine hatte ganz Arbeit geleistet. Frack, Weste und Hose waren in Mitleidenschaft gezogen worden.
»Jetzt hat sie dich markiert, mein Junge«, rief Lord Evans fröhlich. »Sie wird dich um den Finger wickeln, das ist dir doch klar, oder?«
»Daran hatte ich noch nie gezweifelt«, schmunzelte Julian. »Ihr entschuldigt mich? Ich werde mich besser umziehen gehen.«