Der Salon der Evans hatte sich überhaupt nicht verändert. Überraschenderweise wirkte nichts abgenutzt, weder Polster noch Teppiche. Amüsiert überlegte Julian, ob die Familie die Möbel mit genau dem gleichen Stoff wieder und wieder beziehen ließ und genau auf die gleichen Teppichmuster bestand, nur um den status quo aufrechtzuerhalten. Allerdings hing auch immer noch das unheimliche Portrait eines Urahns über dem Kamin. Mit kalten Augen starrte ein stattlicher, gutgekleideter Mann, ohne Bart dafür mit sehr strengen Zug um den Mund auf alle Besucher herab. Dass zu seinen Füßen zwei Hunde friedlich dösten, gab dem Gemälde auch nichts Beruhigenderes. Julian hielt sich an seiner Tasse fest und besah sich von Weitem die Porzellanfigürchen auf dem Kaminsims. Als Kind hatten sie ihn fasziniert. Besonders angetan war er von dem eleganten Herren mit dem Blumenstrauß und dem Windhund an der Leine gewesen. Wie hätte es auch anders sein können?
Aber die Uhr war neu, stellte er fest. Sie tickte so laut, dass er es trotz seines Platzes nahe der Tür und den Gesprächen im Raum wahrnahm.
Tapfer Interesse heuchelnd, lauschte er dem Monolog von Lord Evans über sein neustes Reitpferd, wobei die Augen seiner Schwester vor Entzücken leuchteten. Auf eine rein rhetorische Frage über das Aussehens der Flanken, nickte er andeutungsweise und genehmigte sich schnell einen Schluck Tee.
In genau diesem Moment trat jemand in den Salon. Julian wandte sich dem Neuankömmling zu und holte überrascht Luft, leider mitsamt des Tees. Hustend lief er rot an und das nicht nur des fehlgeleiteten Getränkes willen.
Lord Evans schlug ihm hilfsbereit auf den Rücken, so dass er fast vom Stuhl fiel. Derweil nahm ihm Henry die Tasse ab, denn genau dieser war soeben hereingekommen.
Es war nicht die Anwesenheit die Julian überraschte, viel mehr war es das Aussehen. Er hatte mit einer älteren Ausgabe des knochigen Kindes gerechnet und nicht mit einem erschreckend gutaussehenden Mann.
Henry hielt ihm, nachdem Julian wieder einigermaßen atmen konnte, die Hand zur Begrüßung hin. Verwirrt, und durchaus auch verlegen, erhob er sich.
»Julian. Lange nicht gesehen«, wurde er begrüßt.
Der Angesprochene räusperte sich, um sich zu sammeln. Mit dem Gefühl der schlanken Hand in seiner, hallten unverhältnismäßig lange die wenigen Worte in seinem Kopf wieder, gesprochen mit einer Stimme, die genauso samtig warm war, wie die braunen Augen.
»Ja, das kann man wohl sagen«, war das Einzige, was Julian einfiel.
Die Zeit schien plötzlich ihre Geschwindigkeit verändert zu haben. Dieser kurze Moment war so voller Eindrücke, dass es unmöglich sein konnte, sie alle in diesem kleinen Zeitfenster wahrzunehmen, so bewusst und deutlich. Einerseits arbeite Julians Verstand erstaunlich schnell, auf der anderen Seite war er kaum zu einer angemessenen Reaktion fähig. Er sah die langen Wimpern, die Henrys Blick lasziv wirken ließen, die gerade Nase mit der leicht gebogenen Spitze, perfekt um darauf einen Kuss zu hauchen, Lippen, die ein wenig zu voll waren und gleichzeitig Fragen nach ihrer Weichheit aufwarfen, ein leichter Bartschatten auf dem Kinn, der sicher beim Austausch von entsprechenden Zärtlichkeiten leicht kratzte, gut sitzende Kleidung, die erahnen ließ, der Körper darunter würde auf Julian anziehend und reizvoll wirken und wenn er von dem gemäßigt festen Händedruck Rückschlüsse zuließ... Gott möge ihm beistehen. Er war in Schwierigkeiten.
Julian sank zurück auf seinen Platz. Er konnte es kaum glauben. Sein Herz schlug viel zu schnell und dann auch noch bis hinauf zu seinem Hals.
Kaum richtete Henry seine Aufmerksamkeit auf sie, sprang Josi auf. »Henry!«, rief sie offen erfreut. »Oh mein Gott, wie gut du aussiehst.« Sie besann sich und errötete tief. »Entschuldige. Das war unangemessen.«
»Ich freue mich auch dich zu sehen, Josephine.« Henry lächelte strahlend. »Zu gern würde ich das Kompliment zurückgeben, aber ...«, er zwinkerte ihr zu, »das würde deinem bezaubernden Wesen in keinster Weise gerecht werden.«
Josi lachte glockenhell auf und Henrys Blick ruhte liebevoll auf ihr.
Julian zwang sich zu einem freundlichen Gesicht. Ihm wurde wieder einmal vor Augen geführt, wie es sein sollte und es tat wieder einmal weh.
»Sag das bitte Julian. Er meinte erst kürzlich, ich würde zu einem Pferd mutieren«, plapperte Josi aus.
Sofort hob ihr Bruder abwehrend die Hände. Doch ehe er etwas sagen konnte, sprach sie weiter. »Ich glaube, es wurmt ihn, dass ich besser reiten kann als er«, raunte sie.
»Ich kann mich erinnern, dich hin und wieder in einem Rennen geschlagen zu haben. Vielleicht sollte ich ihm Reitstunden erteilen.« Henry grinste Josi an und sah dann zu Jullian, auf eine Art, die diesem durch und durch ging und angenehme Schauer den Rücken hinabsandte. Unmöglich! So etwas durfte nicht passieren. Nicht hier. Nicht mit Henry und schon gar nicht umgeben von Familie und alten Bekannten.