Julian war unter die Denker gegangen. Nicht unter die, die über all das Mannigfaltige auf der Welt und im Dasein philosophierten. Er war wohl eher die Richtung verbissen grübelnder Narr, da er es nicht lassen konnte über Henry nachzudenken, ihre Beziehung zueinander, ihre Zuneigung und wie sie diese ausleben konnten. Er war ein unglaublicher Feigling, wenn es darum ging Henry auf dessen Pläne anzusprechen und verflixterweise brachte sein Liebster auch nichts von sich aus zur Sprachen. So versuchte er diese immer wiederkehrenden Überlegungen zu verdrängen, wohl wissend, dass er es vielleicht überstürzte.
Etwas anderes hingegen, und da waren sie sich beide offen einig, wollten sie gleichermaßen. Körperliche Nähe.
Der Sommer schritt unaufhörlich voran und schon stand eines der größten Feste der Saison an. Lord Wistlemore, Earl of Southsby hatte zu seinem 76. Geburtstag geladen. Die Feierlichkeiten hatte er auf drei Tage ausgedehnt und freundlich darauf hingewiesen, dass Angehörige jedes Alters gerngesehen waren. Freunde des alten Mannes, also welche in ähnlich fortgeschrittenen Alter, hatten, mal mehr mal weniger amüsiert, verlauten lassen, dass der Earl keinen gesteigerten Wert darauf legten an seinem Geburtstag mit ähnlich greisenhaften Gesichtern konfrontiert zu werden, wie jeden Morgen vor dem Spiegel.
»Onkel Drewy, Onkel Julian!« Das kleine Mädchen stürzte ungeniert auf die beiden Männer zu.
»Kleine Prinzessin Sophie« Andrew fing das lachende Kind ein und hob es, ungeachtet ihrer staubigen Schuhe, auf seinen Arm.
»Drewy ...«, kam es leise spöttisch von der Seite.
Die anwesenden Familienmitglieder der Willfords als auch der Wendridges drehten zeitgleich die Köpfe und warfen Matthew Coverstone kühle, abschätzende Blicke zu
Lord Coverstone sah diesen indes an, als zweifle er ganz vehement an dem Verstand seines Sohnes.
Andrew wand ich wieder seiner Nichte zu. »Und? Was führt dich an einen abgelegenen Ort wie diesen?«
Gerade noch hatte sie ihn fest umschlungen, da begann sie auch schon vor Freude zu hüpfen oder zumindest etwas zu tun, dass dem sehr nahe kam, da er sie immer noch trug. »Ein Fest! Hier ist ein Fest!«
»Das stimmt. Und du möchtest mitfeiern?« Andrew zog seinen Kopf zurück damit ihm das Mädchen nicht wortwörtlich ins Gesicht sprang.
»Ja!«, rief sie begeistert.
»Komm, Löckchen. Andrew hat sich so schick gemacht, da möchtest du ihn doch nicht mit deinen Schuhen schmutzig machen.« Edward hob Sophie von seinem Bruder und stellte sie auf ihre eigenen Beinchen. Sie sah zu Andrew, dann zu Julian und wieder zu ihrem Vater. »Papa? Wieso bist du nicht so hübsch angezogen wie Onkel Drewy und Onkel Julian?«
Edward, der sich ohne mit der Wimper zu zucken auch auf Diskussionen mit Männern in hohen politischen Ämtern einließ, musste einen Moment innehalten, um passende Worte zu finden. »Ich fühle mich in dieser Art von Kleidung, die Andrew oder Julian tragen, nicht wohl.« Er lächelte seine Tochter entschuldigend an und konnte es gerade noch vermeiden seine, von der Anreise etwas zerknitterte, schlichte, dunkle Kleidung wiederholt glattzustreichen.
»Schade«, seufzte das Mädchen mit tiefsten Bedauern, dann entdeckte sie ihre Mutter, die mit Hilfe ihres Ältesten ausgestiegen war. So erhaben, wie es einem Zehnjähren möglich war, geleitete Brandon seine Mutter hinüber zu dem Rest der Familie. Sophie hüpfte ihnen kichernd entgegen und Brandons Versuch distinguiert zu wirken scheiterte, als er beim Anblick von Andrew verschmitzten Lächeln breit grinsen musste.
Freudig wurden nun auch noch diese beiden von den Wendridge begrüßt.
»Großmutter und Großvater haben nicht vor zu kommen, oder?«, murmelte Andrew seinem Bruder zu.
»Nein.« Auch Edward war die Erleichterung anzumerken. »Der Weg wäre zu beschwerlich für so einen Firlefanz, meinte Großvater.«
Julian, der nah bei den beiden stand, warf Andrew einen Blick zu und hatte das Gefühl, sein Freund genoss im Augenblick das Bewusstsein von der Anwesenheit seinen Großeltern verschont worden zu sein.
Da ging es Julian nicht wirklich anders. Diese beiden alten Leute konnten es nicht bleiben lassen an jedem herumzupiesacken, der nicht in ihr Bild vom frommen Mitmenschen passte und so eng wie ihre Grenzen gesteckt waren, kam mit Mühe der Sohn Gottes an diesen Maßstab heran. Und natürlich die beiden selbst.
Als jemand, der sich der Malerei verschrieben hatte, war Julian sofort in Visier der beiden geraten. Ihm waren die Worte im Hals stecken geblieben bei ihrem herablassenden Gebaren. Sie hatten es tatsächlich sogar gewagt die Fähigkeiten seiner Eltern in Zweifel zu ziehen. In dem Moment war allerdings Lord Willford dazugekommen und hatte seine Schwiegereltern mit einer Julian völlig unbekannten Strenge darauf hingewiesen, über wen sie sich da gerade echauffierten. Sie ließen sich danach noch trotzig über die Verwahrlosung des Adels im allgemeinen aus, bevor sie verbittert schweigend ihren Tee weiterschlürften.
Nein, Andrews Großeltern waren hier so unpassend wie nur möglich. Schon am Ankunftstag war es laut, bunt und vor allem ausgelassen und fröhlich. Der Hausherr hinkte zwischen seinen ankommenden Gästen umher, das hagere Gesicht in unzählige Falten gelegt bei seinem breiten Lächeln. Sein Leibdiener folgte ihm aufmerksam, gehüllt in eine Aura aus Freude und Besorgnis. Der Earl ließ es sich nicht nehmen alle persönlich zu begrüßen, herzlich und recht unkonventionell, egal ob er denjenigen schon kannte oder es sich um ein neues Gesicht handelte.
Zu einem gewissen Teil fühlten sich die Feierlichkeiten wie ein großes Familientreffen an, was auf den zweiten Blick wohl gar nicht so verwunderlich war, da der Gastgeber kaum noch nahe Angehörige hatte. Seine Familie war noch niemals groß gewesen und zu allem Übel waren viele von den Wenigen auch noch durch unglückliche Umstände verstorben. Entfernt war er noch mit dem einen oder anderen hier verwandt, wobei ein Sehr vor dem Entfernt keine Übertreibung darstellte. Über die Jahre hinweg begannen die Leute zu tuscheln, dass diese ganzen Schicksalsschläge doch kein Zufall sein konnten. Nur ausgesprochen esoterisch angehauchte Mitmenschen munkelten so etwas wie Familienfluch. Das war wohl auch der Grund, warum der Sohn der Earls bis zu seinem Tod vor einigen Jahren keine neue Frau mehr finden konnte, was wiederum bedeutete, dass seine einzige Tochter nun nur noch ihren Großvater hatte. Die großen bernsteinfarbenen Augen der 13jährigen waren eines der traurigsten Dinge, die Julian je gesehen hatte, als das Mädchen so verloren zwischen all den fröhlichen Menschen stand und angespannt versuchte, die ihr entgegengebrachten Grüße mit ähnlicher Freundlichkeit zu erwidern.
Bei einer Scharade vor dem Dinner in kleiner Runde, vor der sich Julian eigentlich hatte drücken wollen, möglicherweise mit dem Hintergedanken, sich auf die Suche nach Henry zu begeben, der irgendwo nur nicht hier war, fand er sich plötzlich, durch Verkettung von Umständen, die sich willensstarke Kinder nannten, mit besagter junger Lady in einem Team zusammen mit Sophie und Andrew wieder. Brandon, dessen Enttäuschung darüber sich nicht gegen seine Schwester durchsetzten zu können, um mit seinem Onkel zusammen spielen, in schlecht unterdrückter Wut mündete, meinte daraufhin bockig mit in die Luft gereckter Nase: »Da brauch ich mir ja gar keine Mühe geben. Gegen Mädchen kann man ja gar nicht verlieren.«
Tief durchatmend griff Edward von hinten seinen Sohn am Ärmel und zog ihn zu sich. »Wir haben uns über das Verhalten gegenüber von Frauen unterhalten«, murmelte er ihm zu.
»Sophie ist aber keine Frau«, beharrte Brandon mit sinkendem Übermut.
Noch genügte der warnende Blick seines Vaters. Widerwillig drehte Brandon sich zu seiner Schwester. »Entschuldige.«
»Du hast damit nicht nur deine Schwester beleidigt«, erinnerte ihn sein Vater.
Wirklich bewusst war das dem Jungen nicht gewesen. Er erstarrte bei einem kurzen Blick auf Lady Jane. In kürzester Zeit glühten seine Ohren dunkelrot. Die Stimme leise, bat er das ältere Mädchen um Verzeihung.
Gerade noch konnte Andrew verhindern, das Sophie ihren Bruder aufzog. Empört sah sie ihren Onkel an, der sie schnell zu sich gedreht hatte, weg von Brandon und Jane, und mit einem festen Blick in ihre Augen leicht den Kopf schüttelte. Voller Widerspruchsgeist öffnete sie ihren Mund.
»Mir zu liebe?«, fragte Andrew leise.
Enttäuscht über die verpasste Gelegenheit, ließ sie die Schultern hängen.
»Du hast etwas gut bei mir«, versprach er.
Sie sah zu ihm auf und es arbeitete sichtbar in ihrem Kopf, dann erschien das freche willfordsche Grinsen. »Einen Tanz«, gab sie fest von sich.
Es amüsierte Andrew mehr als es ihn überraschte. »Wie ihr wünscht, Mylady.«
Julian kam nicht umhin seinen Freund für seinen geschickten Umgang mit den Kindern zu bewundern. Er würde sich das eine oder andere abschauen können.
Sophie und Andrew stellten sich als erstaunlich kompatibel heraus als es um das Erraten der Begriffe ging. Ganz im Gegensatz zu Julien selbst oder Jane. Aufmunternd drückte die kleine Sophie Jane die Hand, wenn diese mal wieder bekümmert über ihre Schüchternheit die Stirn runzelte. So wie die Jüngere zu Jane aufsah, war Julian sich sicher, Sophie hätte liebend gern ihren Bruder mit dieser jungen Lady ersetzt.
Lady Jane fiel es immer noch schwer sich in der Gesellschaft zu bewegen und dann auch noch in einem Spiel, dass Spontanität erforderte. Vielleicht war auch gerade das der Grund, weshalb ihr Großvater sie zu der Teilnahme an der Scharade gedrängt hatte. Sie schaffte es wirklich nicht sich zu entspannen, doch jeder war taktvoll genug, sich jegliche Bemerkung dies bezüglich zu ersparen, obwohl es so gut wie unmöglich war, herauszufinden, was sie mit ihren kleinen Bewegungen darstellen wollte.
Gerade war sie wieder an der Reihe und Julian hätte es ihr zu gern erspart. Alle bemühte sich sie schnellstmöglich zu erlösen.
»Tee«, rief Edward, die Augen dabei zusammengekniffen als wäre er stark kurzsichtig.
»Ein Geschenk«, versuchte es nun auch Andrew.
Julian probierte sich irgendeinen Reim auf das gezeigte zu machen. Da das allgemeine Anstarren Jane noch nervöser machte, sah er, ihre Bewegungen sich ins Gedächtnis rufend, irgendwo neben sie auf den Boden.
Sie wurden kurz abgelenkt als ein Teil der Familie Evans den Salon betrat. Julian war bewusst, dass seine Augen bei Henrys Auftauchen aufleuchteten. Er lächelte ein wenig. Das konnte er einfach nicht lassen. Eine beruhigende Wärme stieg in ihm auf sobald Henry es erwiderte.
Ehe es noch jemand mitbekam, wand sich Julian wieder dem Spiel zu. Jane war immer noch verzweifelt dabei ihren gezogenen Begriff darzustellen und er hatte immer noch keinen Anhaltspunkt.
Nun begannen sich schon rote Flecken vor Unbehagen auf ihrem kleinen, hellen Gesicht zu bilden. Jemand musste sie erlösen. Nur wie?
Sein Blick huschte wieder zu Henry. Es war ihm ja kaum möglich es nicht zu tun. Sein Liebster schien nur darauf gewartet zu haben. Er grinste und sein Mund formte tonlos ein Wort. Julian verstand nicht. Schnell sah Henry sich um und zeigte unauffällig auf ein Tischchen in der Nähe. Seine Schwester und deren Verlobter neben ihm kicherten.
Und da hatte Julian endlich eine Eingebung. »Blume«, meldete er sich zu Wort.
Janes Augen wurden feucht vor Erleichterung. »Ja.«