Als Han Ning zu Hause ankam, hieß ihn sofort der leckere Geruch des Abendessens willkommen.
Gedämpftes Rindfleisch, wenn er sich nicht irrte…
Allein beim Gedanken daran lief ihm schon das Wasser im Mund zusammen.
Schnell zog er seine Schuhe aus und begab sich ins Schlafzimmer um sein Jackett abzulegen. Anschließend betrat er noch kurz sein Arbeitszimmer und klappte seine Aktentasche auf. Ganz oben auf, lag das Empfehlungsschreiben der Chen Law Firm und Han Ning konnte einfach nicht anders, als es sich noch einmal anzusehen.
Wie es wohl wäre, seine Frau damit zu überraschen?
Mit einem Grinsen packte er die offene Mappe, in der sich das Dokument befand und machte sich auf zur Küche. Doch kaum an der Tür angekommen, segelten plötzlich zwei Zettel aus der Mappe. Genervt bückte sich Han Ning und griff nach den Blättern, ehe er sich erhob.
„Wieso waren die denn nicht eingeheftet…?“, murmelte er vor sich hin, ehe er plötzlich in der Bewegung verharrte.
Beide Blätter zeigten Fotos, die er nur zu gut kannte… Wenn auch aus anderer Perspektive…
Es waren Aufnahmen von Überwachungskameras. Auf dem einen Zettel war Bahe in seiner Auseinandersetzung mit Bei En Rui zu sehen und der andere Zettel zeigte Han Ning selbst, wie er gerade das Empfehlungsschreiben seines Chefs entgegen nahm.
Auf dem zweiten Blatt stand zudem eine kurze getippte Notiz:
Wenn Sie genau darüber nachdenken, bringt es niemanden Vorteile, die Aufnahme zu veröffentlichen. Ich hoffe, wir verstehen uns.
„Scheiße“, stieß Han Ning frustriert aus.
Allmählich machte alles Sinn.
Er hatte sich schon gewundert, wie er sich die Empfehlung verdient hatte. Aber scheinbar war sie einfach ein Mittel mit dem Zweck gewesen, ihn ruhig zu stellen.
Sicher, Bahe und er konnten Bei En Rui zweifellos bloßstellen, aber was wären die Konsequenzen?
Der Junge hatte durchaus richtig gehandelt, als er ihm das Video schickte. Im WE-Chat hatte er ihn außerdem noch seiner Meinung gefragt, wie er am besten damit verfahren sollte.
Tja, damit war Han Ning sich selbst nicht so sicher…
Auf der einen Seite vermutete er zwar, dass die Drohungen Bei En Ruis nur heiße Luft waren, aber wirklich sicher war er da nicht. Der Trick, Bei En Rui quasi an Mai Ping Lun ausgeliefert zu haben, ging jetzt nach hinten los.
Der Typ war alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse und Han Ning wollte lieber nicht riskieren, sich diesen Mann mehr als notwendig zum Feind zu machen.
Und dann war da jetzt auch noch Ma Wenlan, der ihm dieses ach so tolle Empfehlungsschreiben zugesteckt hatte und Aufnahmen darüber besaß, wie dankbar er es doch angenommen hatte.
Abgesehen davon, dass er sich beim Veröffentlichen des Videos nicht nur die gesamte Chen Law Firm zum Feind machen würde, hätte Ma Wenlan sogar noch die Möglichkeit ihn auf Erpressung zu verklagen. Wieso sonst, hätte er aus heiterem Himmel ein Empfehlungsschreiben vom stellvertretenden Boss persönlich überreicht bekommen, wenn er doch sonst nie etwas mit ihm zu tun hatte?
„Ah…“, seufzte Han Ning resigniert.
Wieso hatte er nicht nachgedacht, als ihm die Empfehlung angeboten wurde? Vermutlich weil er einfach mal Glück haben wollte…
Dabei war der Wink seines ehemaligen Chefs nur zu deutlich gewesen.
Er hatte ihm mit diesen Zetteln zu verstehen gegeben, dass er über alle Sachverhalte Bescheid wusste und ihm gleichzeitig indirekt gedroht, ohne sich jedoch die Finger schmutzig zu machen. Schließlich gab es nichts, was sich zu ihm zurück verfolgen ließ…
Dieser Kerl war nicht umsonst schon so lange im Geschäft…
„Na ja… gänzlich negativ ist die Situation jetzt auch wieder nicht“, redete er mit sich selbst. Immerhin hatte Ma Wenlan es für nötig befunden, sich mit ihm über Umwege in Verbindung zu setzen. Im Umkehrschluss bedeutete dies auch, dass er sich wahrscheinlich längst um Bei En Rui gekümmert hatte.
Han Nings ehemaliger Chef war bekannt dafür niemals lose Enden zu hinterlassen, egal ob vor Gericht oder in der Firma. Wenn er etwas in die Hand nahm, dann wurde auch ein Endergebnis erzielt.
Letztlich war das Video also eine Art Versicherung. Solange Bahe und er es besaßen und nicht veröffentlichten, hatten alle anderen Parteien viel zu viel zu verlieren. Sollten sie es aber veröffentlichen, würde es eine Vielzahl unangenehmer Folgen mit sich bringen, die schwer abzuschätzen waren.
Alles im allen waren sie besser damit beraten das Video geheim zu halten. Er hatte ein Empfehlungsschreiben einer angesehenen Kanzlei und Bahe und seine Familie konnten davon ausgehen nicht behelligt zu werden.
Das auch nicht einmal etwas einfach sein konnte, wenn es diesen Jungen betraf…
Über die ganze Situation konnte Han Ning nur den Kopf schütteln.
„Schatz, wo bleibst du denn?“, rief seine Frau aus der Küche und Han Ning beeilte sich zu antworten: „Ich komme sofort!“
Hastig verstaute er die Empfehlung, samt der anderen Zettel wieder in seiner Aktentasche und begab sich zu seiner Familie.
Bahe konnte er auch nach dem Essen noch kontaktieren und dann… dann hätte er diesen unmöglichen Fall endlich abgeschlossen.
„Bahe! Ich weiß, dass du da bist! Mach auf!“, rief Kaiwen energisch als sie stürmisch gegen die alte Haustür schlug.
Doch die Tür blieb geschlossen.
„Verdammt!“, stieß sie frustriert aus und drehte sich hilflos im Kreis, während sie fieberhaft überlegte, wo der Junge sonst noch sein könnte.
Da es nach der Pressekonferenz bereits später Nachmittag gewesen war, war sie davon ausgegangen, dass der Junge zu seiner Wohnung zurückkehren würde, doch inzwischen hatten sie zwanzig Uhr und der Mistkerl war immer noch nicht aufgetaucht.
Ans Telefon ging der kleine Idiot natürlich auch nicht.
So eine Scheiße aber auch!
„Arg!“, schrie sie wütend und schoss, vor Frust, einen herum liegenden Stein über den alten Hinterhof.
„Was machen Sie denn hier für einen Radau?“, erklang plötzlich eine zarte und fast schon gebrechliche Stimme.
„Wa...“, zuckte Kaiwen überrascht zusammen und entdeckte die alte Dame, die sie damals bei ihrer ersten Begegnung doch netter Weise in Bahes Wohnung gelassen hatte.
Schuldbewusst fuhr Kaiwen such durch die Haare und antwortete: „Tut mir Leid, Frau Ma. Ich muss nur so dringend mit Bahe sprechen und warte jetzt schon seit Stunden.“
„Ah, Sie sind die Reporterin vom letzten Mal“, erkannte die alte Dame Kaiwen und sagte: „Wenn Sie Bahe suchen, muss ich Sie enttäuschen. Er wohnt nicht mehr hier.“
„Was?!“, rief Kaiwen vor Schreck viel lauter aus als gewollt und entschuldigte sich sofort.
„Ist schon in Ordnung“, meinte die Frau Ma. „Bahe hat mir gesagt, dass er wieder zu seiner Familie zieht. Mehr weiß ich aber nicht. Ich habe mich auf jeden Fall für ihn gefreut. Er hat mir erzählt, dass er einiges an Geld verdient hat und deswegen wieder mit seiner Familie zusammen leben könnte. Scheinbar hat ihm Ihr Interview genug Geld eingebracht. Dafür wollte ich Ihnen noch danken.“
„Äh… aber sicher, kein Problem“, sagte Kaiwen schnell und dachte nach. Jetzt, wo die alte Dame es angesprochen hatte. Bahe hatte ihr damals noch vor dem Interview mitgeteilt, dass er seine Wohnung kündigte… Sie hatte es nur schlicht weg vergessen.
Zerknirscht tat sie so, als ob wirklich sie für Bahes Geldregen verantwortlich wäre, setzte ihr Pokerface auf und fragte: „Sie haben also keine neue Adresse von ihm?“
„Leider nein“, sagte die alte Dame. „Dabei war er ein so netter junger Mann.“
„Oh man…“, seufzte Kaiwen.
„Nur nicht verzagen, Sie finden ihn schon. Darf ich Ihnen als Dankeschön für die Hilfe, die Sie ihm und seiner Familie zukommen lassen haben, eine Tasse Tee anbieten?“
„Ah… ehm… nein, danke“, lehnte Kaiwen unangenehm berührt schnell ab. „Ich muss dann jetzt leider weiter. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“
„Ich Ihnen auch, mein Kind“, lächelte Frau Ma verständnisvoll und Kaiwen nahm nur noch schleunigst die Beine in die Hand.
Die Situation war ihr wirklich mehr als unangenehm gewesen.
Kurz vor dem Eingang der nächsten U-Bahn-Station blieb sie stehen und überlegte, wie sie den Jungen finden konnte. Musste aber für sich feststellen, dass sie tatsächlich so ziemlich keinen Anhaltspunkt hatte, wo sie ihn suchen sollte…
„Mist!“, fluchte sie leise und stemmte die Hände in die Hüften.
Was sollte sie bloß tun?
Resigniert schaute sie in der Umgebung umher, bis ihr Blick plötzlich an der aufgesprühten Werbung eines Busses hängen blieb. Mit fantastischen Bildern wurde für Raoie und die Dimensional Leap-Systeme geworben.
Das war es!
In Raoie war sie ihm schon einmal begegnet. Das konnte ihr wieder gelingen.
„Ha, ich finde dich schon noch, Bahe Dragon!“, redete sie sich selbstbewusst zu und lief die Treppe zur U-Bahn hinab.
Bahe war gerade dabei in sein Dimensional Leap-System zu steigen, als er so heftig nießen musste, dass er sich fast den Kopf gestoßen hätte.
Redete etwa gerade jemand über ihm?
Man sagte doch, dass man nur so heftig nießen musste, wenn jemand hinterrücks über einen sprach…
Aus irgendeinem Grund wanderten seine Gedanken an die Frau, die wie eine Wahnsinnige auf ihn zugestürmt war, als er aus dem Gebäude der Chen Law Firm getreten war. Mit all den Haaren im Gesicht und dem hysterischem Geschrei hatte sie wie eine Irre auf Freigang gewirkt und er hatte lieber schleunigst das Weite gesucht…
„Ach was soll‘s…“, zuckte Bahe schließlich mit den Schultern und begann sich einzuloggen.
Teil 3/2! Haha!
Hier ist also schon das erste Bonuskapitel der Woche!
RiBBoN