Bahe ließ sich das nicht zweimal sagen und rannte schnell nach oben. Er schnappte sich eine einfache Attrappe mit Lederharnisch und begann seine Trainingsreihe.
Wie war es noch gleich gewesen?
Zunächst die Schrittstellung, danach das Schwert hoch führen, anschließend als Erstes das Schwert in Bewegung setzen und unmittelbar darauf die richtige Schrittabfolge zur Unterstützung des Oberhaus.
Bahe schwang sein Schwert dabei leicht schräg nach unten und traf die Übungsattrappe ziemlich genau da, wo sich im Normalfall das Schlüsselbein befunden hätte. Im Gegensatz, zu den Kreaturen im Tutorial, durchschnitt sein Schwert das Hindernis diesmal nicht. Stattdessen spürte er den Aufprall in seinen Handgelenken. Beinahe hätte er sein Schwert sogar fallen gelassen. Die starken Vibrationen des Schwertes in den Fingern trafen ihn völlig unerwartet. Es war, als ob sich ein taubes Gefühl in seinen Fingergliedern ausbreiten würde, nicht unähnlich der Prellung des Ellenbogens. Denn auf das Taubheitsgefühl folgte schnell ein unangenehmes Kribbeln von den Fingerspitzen bis hin zu den Handflächen.
Mit etwas Mühe hob er sein Schwert von der Attrappe, ließ es nach unten sinken und schüttelte sich die Hände aus. War das normal?
Nun, er würde es gleich heraus finden…
Doch nach den nächsten Schlägen musste Bahe sich eingestehen, dass er den Schwertkampf wohl unterschätzt hatte. Selbst mit reduzierter Wucht blieben die Vibrationen des Heftes bestehen. Es dauerte nur nicht solange, bis das Taubheitsgefühl verschwunden war.
Hoffentlich gewöhnte er sich schnell daran, dachte er zerknirscht.
Wie sich heraus gestellt hatte, musste er den Oberhau nämlich mit voller Wucht durchführen, um die dreihundert richtigen Ausführungen zu erreichen. Der Questeintrag in seinem Charakterprofil hatte nur Hiebe gezählt, die er mit voller Kraft absolviert hatte.
Seufzend hob er erneut sein Schwert und machte sich daran die Schläge umzusetzen. Die ersten zehn, zwanzig Hiebe ließen seine Hände, Handgelenke und Unterarme aber bereits so stark brennen, dass er eine Pause einlegen musste.
Mit einem Blick in sein Charakterprofil kontrollierte er währenddessen seine Fortschritte.
„Haa… erst zwölf richtige Ausführungen?“, rief er aus. Scheinbar hatte er sich bei den anderen Hieben nicht richtig konzentriert.
Widerwillig hob er sein Schwert erneut über den Kopf und brachte sich in Ausgangsstellung.
„Wie bin ich nur darauf gekommen, dass es leichter als das Bogenschießtraining sein würde…“, murmelte Bahe.
Dann legte er von vorne los.
Sein Dimensional Leap-System war noch im Begriff sich vollständig zu öffnen, da war Bahe schon hell wach. Ein Wunder, wenn er die Uhrzeit auf seinem Smartphone in Betracht zog. Verdammte fünf Uhr morgens!
Schnell eilte er ins Badezimmer, machte sich frisch, schlüpfte in Trainingsklamotten und ging leise in die Küche. Schließlich waren zu dieser Uhrzeit selbst seine Großeltern noch nicht wach. Mit ein paar schnellen Handgriffen kochte er sich seinen Congee zusammen, süßte ihn noch mit Honig und schnitt sich eine Pluot[i] in zwei Hälften auf und entfernte den Kern.
Nüsse hatte er noch keine zu Hause, die würde er sich heute nach der Schule kaufen müssen.
Mit seiner schnellen Mahlzeit setzte er sich an den Frühstückstisch und schaufelte sich das Essen in den Mund.
Es schmeckte ihm schon, etwas Besonderes war es allerdings auch nicht. Zumal Bahe sich nicht sicher war, wie er in ein paar Wochen über dieses Essen denken würde… Mehrere Wochen nur Reisbrei… bäh… irgendwann musste ihm das doch zum Hals raushängen…
Nun ja… noch war es nicht soweit.
Die Pluot schmeckte ihm gut und für einen kurzen Moment genoss er richtig die fruchtige Süße auf der Zunge.
Danach rang er für einen Augenblick mit sich, ob er spülen sollte oder nicht. Schließlich entschied er sich dafür. Schlechte Angewohnheiten kamen viel zu schnell zurück, wie er sich selbst eingestehen musste. Also verpasste er sich kurzerhand einen geistigen Arschtritt und säuberte sein Frühstücksgeschirr, ehe er alles wieder weg räumte, Schuhe und Jacke anzog und die Wohnung verließ.
Den Weg zur U-Bahn legte er noch im Dunkeln zurück, es waren aber schon die ersten Pendler überall auf den Straßen und den Fußgängerwegen zu sehen. Im morgendlichen Gewirr schlängelte er sich schnellstmöglich zur U-Bahn-Station und verpasste natürlich gerade so seine Bahn.
„Der Tag fängt ja schon gut an…“, brummte Bahe und ließ sich auf einer nahegelegenen Bank nieder. Die nächste Bahn würde erst in zehn Minuten kommen. Wenn er später von der Station zum Park etwas zügiger ging, würde er immer noch pünktlich am Treffpunkt sein.
Für ein paar Minuten beobachtete er das rege morgendliche Treiben in der U-Bahnstation. All die Pendler, die zur Arbeit fuhren, um ihren Familien ein gutes Leben zu ermöglichen. Ihr Anblick brachte ihn in Gedanken unweigerlich zur Situation seiner eigenen Familie. Ja, das Schlimmste war überstanden, aber eben noch nicht alles.
Zurzeit verdiente nur Bahes Großvater Geld, seine Mutter würde noch einige Zeit ausfallen, ehe überhaupt an Arbeit zu denken war. So gute Fortschritte sie in ihrer Erholung auch machte.
Er selbst war in Raoie bisher auch noch völlig unbrauchbar… Es wurde Zeit, dass er endlich mal auf Monsterjagd ging und Artefakte fand, die er an spendable Spieler oder gar Sammler verkaufen konnte.
Seine letzte Spielzeit hatte er zum Großteil für das Schwertkampftraining und das Erspüren des eigenen Manas genutzt. Der Rest des Tages war für das Jagen von Wildwurzelkaninchen, dem Zubereiten einer Mahlzeit als auch für einen erneuten Besuch der Bibliothek drauf gegangen.
Training schön und gut… aber langsam hatte er das Gefühl auf der Stelle zu treten. Er musste schneller voran kommen, wenn er seiner Familie helfen wollte… und zwar dringend!
Mit einem metallenen Quietschen fuhr in diesem Moment endlich seine Bahn in die Station und Bahe stieg hastig ein, um möglichst noch einen Sitzplatz zu ergattern.
„So ist es gut“, bemerkte Huilan, nachdem Bahe seine Beine ein Wenig mehr durchgestreckt hatte. „Denke immer dran, es gibt hier keinen Wettkampf. Wenn du schummelst, schadest du nur dir selbst.“
Bahe nickte und atmete gepresst, während er sich soweit er konnte in der Grätsche befand und versuchte die Hände am Boden abzustützen.
Er war gerade noch rechtzeitig gekommen zum Treffpunkt im Park gekommen. Die Sonne ging gerade erst auf und die Wiesen des Parks waren teilweise noch in leichtem Dunst und Nebelschwaden gehüllt gewesen.
Huilan hatte sich für ihr gestriges Benehmen entschuldigt, was Bahe gelinde gesagt ziemlich überrascht hatte. Das Image einer harten Trainerin war für ihn seit jeher mit asiatischer Kampfkunst verbunden gewesen.
Scheinbar war das nur ein Klischee vom Feinsten, was?
Im Anschluss sie ihn erneut bei all seinen Dehnübungen angeleitet. Diesmal jedoch wesentlich entspannter und ausführlicher.
„Wenn du dich demnächst zu Hause dehnst, halte deine Übungen immer mindestens dreißig Sekunden. Ansonsten haben Dehnübungen nämlich keinen Effekt“, erklärte sie gerade. „Besser sind natürlich fünfundvierzig Sekunden oder eine Minute.“
„Alles klar“, antwortete Bahe, der gerade mit leichtem nach vorn Wippen versuchte, seine Handflächen auf den Boden zu bekommen.
„Oh und lass das vor und zurück Wippen sein!“, ermahnte sie ihn streng. „Das ist gefährlich für deine Bänder. Du holst dir eher eine Zerrung als das es dir nützt. Geh auch nie über dein Limit hinaus. Was du heute nicht schaffst, wird Morgen vielleicht schon anders sein. Aber wenn du dich überlastest, kann es passieren, dass dein Körper seine Bänder noch weiter zusammenzieht und du noch stärkere Verkürzungen deiner Muskeln davon trägst.“
„Echt jetzt?“
„Jep, der Körper merkt irgendwann, wenn die Muskeln kurz vor dem Zerreißen stehen“, sagte Huilan. „Für solch einen Notfall sorgt er für einen kurzen Moment der totalen Entspannung, ehe er sie dann mit aller Gewalt noch viel fester zusammenzieht, um eine größere Verletzung zu vermeiden. Und genau deswegen ist das Wippen beim Dehnen so gefährlich. Ok, kannst hoch kommen.“
„Endlich!“, sagte Bahe erleichtert und kämpfte sich aus der Grätsche heraus. „Es wird noch ewig dauern, bis ich meinen Fuß mit ausgestrecktem Bein über Kopfhöhe heben kann.“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Ja, muss ich das nicht für Kung Fu können?“
Huilan lachte laut auf, während Bahe seine Beine ausschlackerte.
„Nein… also schon… aber Kung Fu kann man auch mit weniger Dehnbarkeit lernen. Fürs Erste reichen deine kleinen Fortschritte völlig aus“, meinte sie beruhigend. „Die Dehnübungen machen wir aus gesundheitlichen Gründen. Ja, Dehnbarkeit hilft bei jedem Kampfsport und jeder Verteidigungstechnik. Aber es geht vor allem auch darum, dass du dich demnächst beim Training nicht so leicht verletzt. Verkürzte Bänder und Muskeln sorgen dafür, dass du viel verletzungsanfälliger bist. Sind die Sehnen und Muskeln in deinen Beinen verkürzt, kannst du dir viel schneller Knieverletzungen zuziehen und das Gleiche gilt auch für alle anderen Gelenke im menschlichen Körper.“
„…“, Bahe nickte nur knapp. Unfassbar, was dieses Mädchen alles in ihrem Köpfchen hatte…
„Worauf wartest du noch? Ab in die nächste Übung! Leg dich auf den Boden und spreize die Arme ab, anschließend versuchst du mit einem Fuß deine Hände zu berühren.“
„Ich mache ja schon…“, brummte Bahe und begab sich auf den Boden. Er musste noch vierzig Minuten von dieser Quälerei aushalten… Und das Schlimmste war, er hatte es sich selbst auferlegt…
[i] Pluots sind Früchte des Pluotbaumes. Eine Kreuzung aus japanischer Pflaume und der Aprikose. Pluots sind schmackhaft, aromatisch und sehr, sehr süß.
Teil 2/2! :)
RiBBoN