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Glücklicherweise wurde Bahe schon einen Tag später entlassen. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass er sich vorläufig schonen würde.
„Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass du heute Nacht schon wieder in dieses Computersystem steigen willst“, meinte seine Stiefmutter Sulin, als Bahe neben ihr in der U-Bahn Platz nahm.
„Má, mir hat doch sogar die Ärztin das Ok gegeben“, seufzte Bahe. „Solange ich nicht unter Schwindel leide und meine Kopfschmerzen nicht zu heftig sind, soll keine Gefahr bestehen.“
„Dennoch“, schüttelte Sulin den Kopf. „Einen weiteren Tag Pause einzulegen würde dir wohl kaum schaden.“
„Aber ich habe es dir doch erklärt“, erzählte Bahe. „Sobald ich diese Kristalle im Spiel abgeerntet habe, kann ich das erste Mal mit Raoie Geld verdienen.“
„Und ich habe dir schon ein paar Mal erklärt, dass es nicht mehr nötig ist!“, schimpfte Sulin. „Meine Reha verläuft gut, bald werde ich wieder arbeiten können und dein Großvater hat auch einen Job. Du hingegen, bist noch ein Schüler und solltest deine Zeit vielmehr damit verbringen für die Jahesabschlussprüfungen zu lernen, wenn du im letzten Schuljahr auch nur irgendeine Chance haben willst.“
„Ich weiß, Má“, stöhnte Bahe. „Aber ich habe doch noch ein paar Monate…“
„Wenn deine Leistungen so bleiben wie bisher, Bahe, dann kannst du die Gaokao[i] vergessen!“, meinte seine Mutter streng.
„Ich werde in den nächsten Wochen noch intensiver lernen, ok?“, versuchte sich Bahe in einem Kompromiss.
„Wehe, wenn nicht“, seufzte nun auch seine Mutter. „Deine beste Punktzahl lag bisher nur bei vierundfünfzig. Bei den nächsten Zwischentests musst du zumindest zwei Fächer bestehen, verstanden? Lass die Mühen deines Großvaters nicht umsonst gewesen sein.“[ii]
„Hmm…“, nickte Bahe und blickte niedergeschlagen drein. Die nächsten Wochen würden anstrengend werden…
Zu Hause angekommen, verbrachte er den restlichen Nachmittag teilweise mit seinen kleinen Geschwistern, bis ihn die strengen Blicke seiner Mutter schließlich zum Lernen zwangen. Nicht das seine immer noch leichten Kopfschmerzen dabei geholfen hätten.
Sport und die künstlerischen Fächer waren reines Auswendiglernen. Biologie und Physik fielen ihm relativ leicht und selbst in Mathe kam er allmählich wieder zurecht. Aber für Englisch und Chinesisch musste er wirklich pauken. Die fehlende Übung über die vergangenen Monate, hatte ihn hier arg zurückgeworfen. Wobei genau genommen Chinesisch am schwersten war, mit all den Doppelbedeutungen alter Sprichworte, sowie den altchinesischen und poetischen Gedichten.
„Hah…“, seufzte er, als er die Bücher am Ende zuklappte und sich mit den Händen übers Gesicht fuhr.
Sechzig Punkte würde er wohl am ehesten im naturwissenschaftlichen Bereich erzielen. Aber ob ihm das auch in Mathe gelang? Puh…
In Englisch und Chinesisch hatte er bei seinen letzten Tests gerade mal 31 und 14 Punkte erzielt. So wie es aussah würde er dort vorläufig seine unterirdischen Punkte beibehalten.
Vom lernen erschöpft aß er wenige Minuten später mit seiner Familie zu Abend und legte sich dann in sein Dimensional Leap-System.
Während des Einloggens überlegte er, wie wohl die Anderen in Raoie wohl auf sein verspätetes Erscheinen reagieren würden. Feiying hatte er anfangs nur über WeChat angeschrieben, um ihn über seine Situation aufzuklären, da er ihn telefonisch nie erreicht hatte.
Doch dann rief dieser ihn wenig später zurück. Wie sich herausstellte, wollte sich Feiying ursprünglich an Bahe dafür zu rächen, dass dieser ihm bislang nichts von seinen Abenteuern rund um die Schlacht im Belungagebirge erzählt hatte. Als er jedoch von Bahes Verletzung erfuhr, meldete er sich sofort und verwickelte Bahe geschlagene vierzig Minuten in ein Gespräch, indem er Feiying Rede und Antwort stehen musste.
Andererseits erfuhr Bahe nun auch endlich, worauf Feiying am Ende der letzten Spielzeit angespielt hatte. Es war ein skurriles Gefühl plötzlich zwei Hardcore-Fans zu haben, die sich bei ihrer nächsten Begegnung womöglich gänzlich anders verhalten würden, als zuvor.
Er hatte Feiying im Videochat noch breit grinsen sehen, als dieser anmerkte, dass die Beiden vor Neugier regelrecht wahnsinnig werden würden, jetzt, wo sie noch einen Tag länger auf ein Gespräch mit ihm warten müssten.
Als der übliche Countdown zum Login in seinem Helminterface erschien, schob Bahe seine Gedanken zur Seite und ließ den Übergangsprozess entspannt über sich geschehen.
Kaum einen Moment später fand er sich im Innern der bekannten Höhle wieder.
Seine Elementare und Balu entdeckte er schlafend und zusammen gekuschelt zu seiner Rechten an die Felswand geschmiegt. Von den Anderen fehlte jede Spur, bis plötzlich hinten Stallions Ausruf kam: „Alucard, er ist wieder da!“
Bahe drehte sich um und sah Stallion in der Biegung zur nächsten Höhlenkammer, wie er auf ihn zeigte und einen Moment später auch Alucard, wie er hektisch an Stallion vorbei zurück zur Höhle rannte.
„Hey, hey, Anael“, rief Stallion, während er ebenfalls die Beine in die Hand nahm, um schnellstmöglich zu ihm zu kommen. „Stimmt es, was Gold Digger gesagt hat? Du bist Anael? Also ich meine… der Anael?“
„Genau! Feiying meinte, dass du der Progamer Anael aus Dreamworld bist?“, fragte selbst Alucard noch im Rennen, kurz bevor er zusammen mit Stallion vor ihm ankam. „Wenn ja, wieso hast du nie was gesagt?“
„Beruhigt euch erst einmal“, sagte Bahe beschwichtigend und kratzte sich verhalten am Hinterkopf bevor er murmelte: „Verdammt ist das merkwürdig plötzlich keinen Verband mehr zu tragen…“
„Hä, was?“, fragte Stallion.
„Ach, nichts“, winkte Bahe ab.
„Also?“, ließ Stallion nicht locker und auch Alucard hing an seinen Lippen.
„Also, ja, ich bin wahrscheinlich der Anael aus Dreamworld, von dem ihr sprecht“, erklärte Bahe schließlich und zuckte nonchalant mit den Schultern. „Aber wieso sollte ich das groß rum erzählen?“
„Verdammt!“, stieß Stallion mit großen Augen hervor, ehe er die Hände in die Hüfte stemmte und lachend hinzufügte: „Und ich hab dich für einen Noob gehalten, weil du ein abgemagerter Ausländer bist!“
„Nett…“, bemerkte Bahe trocken
„Haha, sorry“, merkte Stallion nur bedingt reuig an. „Aber ist doch wahr.“
Alucard war unterdessen kaum zu halten und musterte Bahe mit Argusaugen von allen Seiten, während er um ihn herum ging.
„Äh, Alucard…? Was soll das?“, hakte Bahe nach.
„Du bist wirklich… der Anael?“, fragte dieser, scheinbar noch nicht gänzlich überzeugt.
„Ich kann es nicht beweisen, wenn es das ist was du willst“, zuckte Bahe ein weiteres Mal mit den Schultern.
„Doch kannst du“, meinte Alucard und ergänzte: „An wen hast du deinen Account aus Dreamworld verkauft?“
„Hmm…“, überlegte Bahe, bis es ihm auf einmal wie Schuppen von den Augen fiel und er ungläubig drauf los plapperte: „Warte mal… Bist du etwa der gleiche Alucard, dem ich meinen Account verkauft habe?“
„Verdammt“, hauchte Alucard, ehe er rückwärtsgehend hysterisch aufschrie: „Du… du… du… bist es echt!“
„Ähm, ja?“, gab Bahe belustigt von sich.
„Hat er das nicht gerade gesagt?“, blaffte auch Stallion irritiert über Alucards Geschrei.
Doch Alucard schien ihr Gerede gar nicht mehr wahrzunehmen, als sich seine Augen nach hinten verdrehten und er ohnmächtig nach hinten umkippte.
„…“
„…“
„Ähm… ist das gerade wirklich passiert?“, räusperte sich Bahe, der immer noch verblüfft auf den ohnmächtigen Alucard starrte.
„Was fragst du mich das?“, sagte Stallion und rieb sich nachdenklich sein Kinn. „Ich meine, ich wusste, dass mein Boss ein Perversling ist und in Anbetracht seines Alters wohl noch nicht dazu stehen kann, aber dass er auch ein Stalker ist oder wie auch immer man diese Menschen nennt, die bei der Begegnung mit dem Objekt ihrer Begierde in Ohnmacht fallen, ist mir neu.“
„Ein Perversling?“, meinte Bahe und zog amüsiert die Augenbrauen hoch.
Stallion wollte gerade antworten, als Feiying sich unweit von ihnen materialisierte und einen Moment brauchte, um sich zurechtzufinden.
Dann fragte er verwirrt: „Wieso liegt Alucard am Boden?“
„…“
„…“
[i] Gaokao = Nach der zwölften Klasse gibt es in China eine Prüfung, die für alle chinesischen Schüler gleich ist. Diese Prüfung heißt Gaokao. Wer bei diesem Test eine hohe Punktezahl erreicht, kann an einer Hochschule studieren. Für viele Familien ist das sehr wichtig. Zudem entscheidet diese Prüfung darüber, an welcher Art von Hochschule die Jugendlichen studieren dürfen. Hier gibt es enorme Unterschiede im Ansehen und dem daraus resultierenden späteren beruflichen Erfolg der Schüler. Zwei Tage dauern diese Prüfungen und zu dieser Zeit herrscht Ausnahmezustand im Land. Die Schüler bereiten sich lange Zeit darauf vor. Der Druck, der auf den Kindern lastet, ist sehr groß. Manche werden davon richtig krank.
[ii] In China gibt es keine Noten, sondern Punkte. Pro Fach sind 100 Punkte die beste Leistung. Erst ab 60 Punkten ist ein Test bestanden. Nach den Tests werden die Ergebnisse übrigens auch im Klassenzimmer aufgehängt. Wer eine gute Punktzahl erhalten hat, freut sich wahrscheinlich darüber, alle anderen eher weniger.
Teil 3/7!
RiBBoN