Nun, das klang für Bahe zunächst einmal einleuchtend, dennoch fragte er: „Und was ist mit den Augen und Ohren?“
„Gute Frage“, nickte Huilan. „Natürlich gehören die Augen und Ohren ebenfalls zu den sehr angreifbaren Körperstellen, aber beide Bereiche bringen Probleme mit sich. Solltest du jemanden wirklich in einer Auseinandersetzung an den Augen verletzten, kannst du mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass schwerwiegende rechtliche Konsequenzen auf dich zukommen werden. Solange also dein Leben nicht davon abhängt, solltest du niemals die Augenpartie deines Gegners attackieren. Mit den Ohren verhält es sich anders. Sie sind schlicht weg schwerer zu treffen, da sie sich an den Seiten des menschlichen Körpers befinden. Im Gegensatz dazu sind die S.O.N.G.-Körperstellen ein viel leichteres Ziel, da sie sich normalerweise an der dir zugewandten Körperseite befinden. Soweit alles verstanden?“
Stillschweigend nickte Bahe und Huilan bat ihn: „Stelle dich mal so hin, dass du mit dem Rücken zu mir stehst.“
„Ja, genau so“, meinte sie wenig später als Bahe ihrer Bitte nachgekommen war.
„Und jetzt?“, fragte Bahe.
„Warte kurz“, antwortete Huilan und sprang hinter ihn. Anschließend legte sie ihm von hinten locker den Arm um den Hals und erklärte, während sie den Arm um seinen Hals fester anzog: „Stelle dir vor, dass ich dich im Schwitzkasten habe. Wie könntest du dich befreien?“
„Hmm…“, dachte Bahe nach und meinte schließlich: „Ich könnte versuchen dir meinen Ellbogen in den Magen zu rammen…“
„Guter Idee, aber ziele höher und du könntest meinen Solarplexus treffen. Untrainierte Personen würden bei einem Treffer kurzzeitig nicht atmen können, was sie instinktiv dazu veranlassen wird dich loszulassen, wodurch du entkommen kannst“, erklärte Huilan. „Welche Verteidigungsmöglichkeiten hast du noch?“
„Ich könnte versuchen dich über meine Schulter zu werfen?“, versuchte Bahe sein Glück.
„Das sollte dir mit mir leicht fallen, aber was ist mit einem erwachsenen Mann, der vielleicht fünfzig Kilo mehr wiegt wie du?“, stellte Huilan gnadenlos heraus. „Als Anfänger hast du da keine Chance. Denke viel einfacher, erinnere dich an den Song!“
„Ach so…“, nickte Bahe und sagte mit einem Blick nach unten: „Ich könnte dir auf die Zehen treten.“
„Sehr gut“, meinte Huilan. „Weiter…?“
„Hmm… Wenn ich etwas zur Seite ausbreche, müsste ich meine Faust in den Schritt des Gegners rammen können.“
„Gut, was noch?“
„Hmm… was fehlt noch, ach ja, die Nase…“, überlegte Bahe laut und zuckte schließlich hilflos mit den Schultern als er sagte: „Keine Ahnung, da müsste ich irgendwie wahllos um mich schlagen.“
„Und wieder denkst du zu kompliziert“, schüttelte Huilan den Kopf. „In einer Kampfsituation sind die einfachen Lösungen immer die besseren. Zumindest solange deine Kampfkunstkenntnisse noch nicht so ausgereift sind.“
Dann ließ sie ihn los und demonstrierte: „Nutze doch einfach deinen Kopf und stoße ihn nach oben oder nach hinten. Je nachdem wo sich das Gesicht deines Gegners befindet. Mache die Bewegung schnell und ruckartig, um deinen Angreifer zu überraschen. Lass ihm nicht die Zeit reflexartig den Kopf abwenden zu können. Klar?“
„Ja“, antwortete Bahe.
„Gut“, gab Huilan zufrieden von sich, ehe sie sich daran machte Bahe noch einige Tipps zur richtigen Ausführung seiner Verteidigungsmaßnahmen zu geben.
So lernte Bahe zum Beispiel, dass er den Solarplexus mit einem gewöhnlichen Ellbogenstoß wohl kaum treffen würde. Stattdessen sollte er sich leicht zu seiner starken Seite drehen und gleichzeitig etwas in die Knie gehen, um Platz zu schaffen. Diesen Freiraum konnte er im nächsten Schritt dann nämlich nutzen, um mit dem Ellenbogen seines starken Arms leicht aufwärts den Solarplexus anzuvisieren.
Die ganze Aktion konnte zudem noch verstärkt werden, wenn er mit der Hand des schwachen Arms die Faust seines starken Arms umfasste, bevor er zustieß.
Selbst die Art und Weise seiner Beinstellung spielte eine Rolle. Je nachdem wo sich sein Schwerpunkt befand, konnte er mehr Gewicht und Explosivkraft in seine Aktion legen.
Schon bald schwirrte Bahe auf seltsame Art und Weise dankbar der Kopf, während er sich bemühte all das neue Wissen tiefergehend in seinem Gedächtnis zu verankern. Was ihm natürlich kaum gelang, nach fünf Minuten war ihm klar, dass es eine ganze Weile dauern würde, bis er alle Tipps seiner Trainerin umsetzen können würde.
Letzten Endes bestand Huilan dann doch noch darauf, dass Bahe einige Konditions- und Kraftübungen absolvierte und da es inzwischen schon recht spät war, musste Bahe sich extrem anstrengen, um die Aufgaben seiner Trainingsmeisterin noch rechtzeitig erfüllen zu könne, ehe er nach Hause musste.
Vollkommen fertig kam er eine Stunde später wieder zu Hause an und duschte schnell. Er trocknete sich gerade ab und wickelte das Handtuch um seine Hüfte, als er vor dem Badezimmerspiegel stehen blieb und sich seit langer Zeit mal wieder im Detail musterte.
Tatsächlich traten seine Wangenknochen bei weitem nicht mehr so stark hervor wie noch vor einigen Wochen. Sein ausgezehrtes Aussehen war Geschichte, auch wenn er immer noch spindeldürr war. Doch er wirkte eher auf eine gesunde Weise dünn. Na ja… vielleicht immer noch ein Bisschen sehr sehnig… aber man musste sich ja an den kleinen Erfolgen festhalten, oder?
Wo er gerade so darüber nachdachte, war der Handtuchhalter hinten an der Wand nicht immer über ihm zu sehen gewesen?
Mit einem Blick auf die Uhr raste Bahe schnell ins Wohnzimmer und kramte ein Maßband aus einer Schublade, ehe er zurück ins Bad lief, sich an die Wand stellte, seine Hand auf seinen Scheitel legte und an die Wand stieß. Anschließend brachte er vorsichtig ein Bisschen Abstand zwischen sich und die Wand, ohne dass sich seine Finger bewegten und legte das Maßband straff an der Wand an.
„Ein Meter… und achtundsechzig…“, hauchte er erstaunt und überglücklich kaum einen Moment später. Seitdem er wieder bei seinen Großeltern lebte, war er um ganze sechs Zentimeter gewachsen!
„Hell yes!“, rief er begeistert aus und grinste in den Spiegel.
„Morgen…“, hörte er plötzlich seinen kleinen Bruder gähnen, als er noch vollkommen verschlafen das Bad betrat, um sich die Zähne zu putzen.
„Guten Morgen, Xiao“, trällerte Bahe, der seine gute Laune nur mit Mühe bändigen konnte.
Xiao sah ihn für einen Moment verwirrt an, ehe er sich seinen kleinen Hocker vor das Waschbecken stellte und sich anschließend reckte, um an die Zahnbürste und die Zahnpasta zu kommen.
Bahe lächelte bei seiner noch recht unbeholfenen Art stillschweigend und nahm sich die Zeit seine eigenen Gesichtszüge mit denen von seinem Halbbruder zu vergleichen.
Klar, seine blonden Haare gaben ihm schon ein gänzlich anderes Aussehen. Aber der größte Unterschied war vermutlich seine Nase, die im Vergleich zu Chinesen erheblich größer ausgefallen war. Für einen Deutschen war sie von der Größe her vollkommen im Durchschnitt, aber hier fiel es eben auf. Mittlerweile kamen auch seine Bartstoppeln immer mehr zu Geltung, die seine sonst eher weichen Gesichtszüge etwas kantiger wirken ließen. Worüber er eigentlich ganz dankbar war. Andererseits unterschied ihn dies wieder stärker von der chinesischen Allgemeinheit, die doch eher einen Ticken weichere Gesichtszüge zur Schau trug.
Seinen Bruder konnte er dahingehend kaum zu einem Vergleich hinzuziehen. Sein kindlich rundes Gesicht gab noch keinerlei Ausblick darauf, wie er später vielleicht mal aussehen würde.
Verrückterweise waren Bahes Bartstoppeln eher dunkelblond, bis dunkelbraun und bildeten dadurch einen Kontrast zu seinen Haaren, der Bahe schon immer gefallen hatte. Sein Bruder hingegen hatte die Haare von seiner Mutter geerbt, die in einem dunklen Braun in einem Wirrwarr über seinem Kopf standen. Genauso auch die Augen, die typisch für chinesische Verhältnisse etwas schmaler wirkten. Die braune Augenfarbe hatte Bahe mit seinen Geschwistern jedoch gemein.
Wenn man es irgendwie passend auf den Punkt bringen wollte, so war Bahe eben ein Deutscher, währen sein Bruder zwar europäische Züge aufwies, die asiatischen Wurzeln aber insgesamt noch zu überwiegen schienen.
Geistesabwesend fuhr sich Bahe mit einer Hand über seine etwas länger gewordenen Bartstoppeln. Sie waren wirklich schon wieder recht lang geworden, heute oder morgen würde er sie mal wieder kürzen müssen. Aber wobei er gerade darüber nachdachte, war sein Bartwuchs nicht deutlich dichter geworden?
Vielleicht auch eine Auswirkung seiner gesünderen Lebensweise?
„Bahe, muss du nic losch?“, fragte ihn plötzlich sein Bruder mit dem Mund voller Zahnpasta und Bahe schaute schnell auf die Uhr.
„Oh, Schei…“, wollte er lauthals losfluchen, riss sich aber im letzten Moment in Anwesenheit seines kleinen Bruders noch zusammen. „Du hast recht, ich muss los!“
Hektisch schnappte er sich seine Kleidung und begann sich für die Schule fertig zu machen.
Viel Spaß beim Lesen! :-)
RiBBoN