Wenige Minuten zuvor trat Rui Ju Fan in der Realität mit guter Laune in den rot markierten Kreis unmittelbar vor der Sicherheitstür zum Arbeitsbereich seines besten Freundes.
„Irisabgleich und 3D-Scan wird initiiert“, hallte wie immer die weiblich klingende Stimme durch den grell beleuchteten Gang.
„Identifizierung abgeschlossen: Rui Ju Fan. Zutrittsanfrage wird weitergeleitet“, erklang die Stimme wenig später erneut und Fan wartete geduldig.
„Zutritt wird gestattet. Tür wird geöffnet.“
Wie immer wurde die Sicherheitstür mit einem mechanischen Summen und leisen abschließenden Klicken in die Wand eingezogen.
„Ning, wieso musst du hier immer alles so abdunkeln“, beschwerte sich Fan, als er den Raum betrat und hörte seinen Freund lachen.
„Du kommst nur immer dazu, wenn ich mir gerade Szenen aus Raoie anschaue“, meinte dieser schmunzelnd.
„Als ob“, schüttelte Fan grinsend den Kopf.
„Aoie, bitte besorg Fan doch eine Sitzmöglichkeit“, bat sein Freund die künstliche Intelligenz, die nicht nur diesen Raum überwachte.
„Natürlich“, kam die schlichte Antwort Aoies, während bereits ein neuer Sessel aus dem Boden fuhr.
„Hach… diese Dinger sind aber auch sowas von bequem. Wieso habe ich eigentlich nicht so ein Ding in meinem Büro, Ning?“, sagte Fan, als er sich seufzend niederließ.
„Du kannst jederzeit einen beantragen“, zuckte Ning mit den Schultern.
„Und? Wie sieht es aus?“, konnte Fan seine Neugier schließlich nicht mehr bremsen.
„Du meinst das erste größere Auftreten der dämonischen Kräfte?“, fragte sein Kumpel Ning und zog die Brauen hoch.
„Nein, ich interessiere mich dafür, wer heute das Tutorial besonders gut abgeschnitten hat… Natürlich meine ich die Dämonenfraktion! Was sonst?“, spottete Fan.
„Schon gut“, sagte Ning ein Lachen unterdrückend. „Wenn du endlich die Klappe hältst, kann Aoie mit der Projizierung fortfahren.“
„Bin ja schon ruhig.“
„Aoie?“
„Bin schon dabei, Ning“, erklang Aoies weibliche Stimme und kaum eine Sekunde später wurde das Geschehen rund um die Schlacht im Belungagebirge gezeigt.
„Ist das gerade live?“, fragte Fan.
„Ja, Fan“, antwortete Aoie.
„Bisher sieht es so aus, als ob sich die Verteidiger ganz gut halten, oder?“, wurde Fan von seinem Freund gefragt.
„Hmm… sieht bisher danach aus“, musste Fan zustimmen. „Sind am Anfang viele Spieler geflohen?“
„Mann könnte sagen Drei…“, antwortete Ning geheimnisvoll.
„Boar, Ning ich hasse das…“, meinte Fan genervt. „Was meinst du mit, man könnte sagen? Und wirklich nur so Wenige?“
„Nun, anfangs wollten drei Spielerinnen fliehen und viele Andere waren schon in den Startlöchern. Aber eine Spielerin von Spirits of Dawn hat es verhindert“, erklärte Ning schließlich ausführlicher.
„Ah… ich nehme an, sie kam auf die Lösung mit dem Selbstmord… Aber wie hat sie die Anderen so schnell überzeugen können?“, überlegte Fan leicht enttäuscht.
„Nun… sie hat die drei flüchtenden Spielerinnen getötet und sich damit genug Aufmerksamkeit verschafft“, fügte Ning noch hinzu.
„Typisch kaltschnäuzige Progamer“, rümpfte Fan die Nase.
„Aber trotz allem effektiv“, gab Ning zu bedenken.
„Da hast du wohl recht“, pflichtete Fan seinem langjährigen Freund und Kollegen bei.
„Hmmm…“, gab Ning nur von sich, als er die Schlacht weiter mit verfolgte.
„Der Ethikausschuss hat immer noch nicht endgültig entschieden, wie weit wir gehen können“, bemerkte Fan nachdem er eine Weile die Schlacht beobachtet hatte. „Für die ist es im Grunde schon schlimm genug, wenn die Spielerinnen und Spieler demnächst nackt im Netz landen könnten… Und ständig ist die Rede von der Möglichkeit zur Folter und Vergewaltigungen, wenn wir die Fähigkeiten der Dämonenfraktion so belassen.“
„Das bereitet mir leider auch immer noch Kopfschmerzen“, seufzte Ning und strich sich über seine weißen Barthaare. „Da hat man Visionen und die Idioten legen einem ständig Steine in den Weg.“
„Soll ich mich darum kümmern, Ning?“, fragte Aoie.
„Nein“, sagte Ning bestimmt und schüttelte den Kopf.
„Schade…“, lamentierte die KI.
„Du weißt doch, Aoie, leben und leben lassen“, zwinkerte er schelmisch der schwebenden und mobilen Kameraeinheit vor ihnen zu.
„Meh… du kannst mich mal kreuzweise, Fan“, äußerte sich Aoie genervt.
„Hey, bitte was? Seit wann hast du solch eine Ausdrucksweise drauf?“
„Ning hat mir Nachhilfeunterricht im menschlich sein gegeben.“
„Ning…?“, wandte Fan sich entgeistert an seinen Freund.
„Ja, was denn? Fluchen gehört genauso wie Höflichkeit zum Menschsein dazu“, grinste Ning ihn an. „Vor allem, wenn man so seinen besten Freund ärgern kann.“
„…“, Fan war für einen Moment sprachlos, musste dann aber auch grinsen.
„Also heißt das, dass ich mich gut geschlagen habe, Ning?“, fragte Aoie eifrig.
„Ja, ja, du kriegst die volle Punktzahl für Klugscheißerei!“, schimpfte Fan, mehr belustigt als wirklich getroffen.
„Großartig!“, freute sich Aoie offensichtlich. „Möchtest du etwas zu trinken, Fan?“
„Ja, ein Litschisaft wäre großartig“, sagte Fan sofort erfreut darüber, nicht aufstehen zu müssen.
„Dann solltest du deinen Arsch in Bewegung setzen. Ich glaube die Cafeteria schließt gleich“, kam prompt Aoies harsche Antwort.
„…“, abermals war Fan sprachlos.
Das Ning sich vor Lachen kaum in seinem Sessel halten konnte, hob Fans Laune auch nicht wirklich.
„War… das zu viel?“, fragte Aoie leicht zögerlich.
„Nein…“, brachte Ning hervor und lachte schallend weiter.
„Es war definitiv zu viel!“, hielt Fan es nicht mehr aus und widersprach Ning vehement. Konnte aber letztlich nur zusehen, wie dieser sich eine Weile weiter vor Lachen krümmte.
„Oh man… so habe ich lange nicht mehr gelacht“, meinte dieser schließlich.
„Schön, dass du Spaß auf meine Kosten hattest“, antwortete Fan mürrisch und widmete sich lieber der Schlacht, die in vier unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt wurde.
„Hey, Moment mal… ist das da nicht dieser Junge, der die legendäre Klasse der Elementflüsterer erspielt hat? Und was zum Henker…“, verlor sich seine Stimme plötzlich, als er verblüfft das Geschehen hinter diesem Spieler betrachtete.
„Hmmm… jetzt wird es wohl doch noch mal interessant“, meinte Ning wissend.
„Es wird aber nicht ausreichen…“, schüttelte Fan den Kopf, nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte. „Dieser Makara trägt ein Artefakt der Smaragdklasse mit sich herum… Dagegen kommt niemand von den Anwesenden an. Nicht mal dieser Magnifus, obwohl er mir gut gefällt.“
„Oh, du magst Magnifus?“, fragte Ning überrascht.
„Wer mag keine cleveren Spieler?“, zuckte Fan nur die Schultern.
„Hmm… ich weiß nicht“, meinte Ning. „Ich meine, ja, er versteht seine Klasse ganz gut. Aber er ist weitab von allen wirklichen Spitzenspielern.“
„Ach, und dieser Elementflüsterbengel etwa nicht?“, konterte Fan.
„Ach der…“, schüttelte Ning belustigt lächelnd den Kopf. „Ihn schaue ich mir eigentlich nur zur Unterhaltung an.“
Wieso habe ich das Gefühl, dass du mir gerade nicht die ganze Wahrheit sagst, dachte Fan, während er seinen alten Freund aufmerksam musterte.
„Wer sind denn momentan deine Favoriten?“, hakte Fan nach.
„Hmmm… Wirklich schwer zu sagen… Es gibt da diesen Dieb…“
„Meinst du Drakar von der Schattengilde?“, versuchte sich Fan.
„Nein… nicht dieses Kind“, schüttelte Ning geheimnisvoll den Kopf. „Es gibt einen Anderen, der viel erreichen könnte, wenn er denn nur wollte…“
„Gibt es sonst noch jemanden?“, fragte Fan, dem klar war, dass Ning nicht mehr zu diesem Dieb ausspucken würde.
„Hmmm… vielleicht der Berserker Deraka oder dieser Zauberer Tallios“, ergänzte Ning.
„Oh, der Donnergott, ja?“
„Oh man, diese Betitelung ist ja mal sowas von übertrieben zum derzeitigen Stand Raoies“, lachte Ning. „Aber ja, er macht sich bisher ganz gut.“
Fan konnte nur nickend beipflichtend. Eine Affinität von zweiundvierzig Prozent zu einem Element war wahrhaft lächerlich in Anbetracht der Tatsache, dass er diesen riesengroßen Vorteil mit dem Fähigkeitsstatus eines Gesellen noch gar nicht richtig ausspielen konnte…
„Es gibt noch einige Andere…“, überlegte Ning weiter. „Xuexue, eine Heilerin gefällt mir sehr gut, zwei Bogenschützen, ein Schmied oder auch Sin of Birth…“
„Hmm…“, gab Fan von sich, während er das Geschehen der Schlacht aufmerksam beobachtete.
„Möchtest du vielleicht einen Snack, Ning?“, fragte Aoie Fans Freund.
„Hmm… Popkorn wäre nicht schlecht.“
„Kommt sofort“, antwortete Aoie aufmerksam und ließ wenig später eine Schale mit Popkorn zu Nings Linken aus dem Boden fahren.
„Für dich auch irgendetwas, Fan?“, wandte sich die KI anschließend an ihn.
„Ah, Popkorn wäre super.“
„Dürfte ich Sie dann bitten Ihren Podex in Bewegung zu setzen, um die in Ihrem Büro heimische Essensmaschienerie in Gang zu setzten, Herr Rui Ju Fan?“
„…“, nicht wissend, ob er lachen oder weinen sollte, starrte er die Kameraeinheit der KI sprachlos an, während sich sein Kumpel Ning vor Lachen fast an seinem Popkorn verschluckte.
„Hmm… Was das etwa immer noch nicht gut?“, überlegte die KI laut.
„…“
[1] Buff = In Rollenspielen verwendeter Begriff, der eine vorübergehende Erhöhung der Eigenschaftswerte eines Charakters beschreibt. Ein typischer Buff verstärkt durch das Verbrauchen eines Gegenstandes oder Wirken eines Zaubers zum Beispiel den Rüstungsschutz eines Spielers. Aktionen, welche die Eigenschaften einer Spielfigur senken, nennt man Debuff.
Teil 1/7!
RiBBoN