Genervt verfluchte er die Enge der U-Bahn. Wie er es hasste ein jeden Morgen in dem Gedränge zur Arbeit zu fahren. Sitzplätze waren ein Luxus, die er vielleicht einmal im Monat sein eigen nennen konnte. Meistens beschenkten ihn die Himmel aber eher mit bescheidenem Glück.
So auch heute, was zur Folge hatte, dass er dicht an dicht mit den anderen morgendlichen Pendlern in der Bahn stand. Wie üblich hatte er nicht mal genug Platz, um sich an seinem Rücken zu kratzen, geschweige denn sich irgendwo festzuhalten. Wobei ein Festhalten sowieso sinnlos war, es bestand schließlich überhaupt keine Möglichkeit in irgendeine Richtung umzufallen.
Da er noch zwanzig Minuten in der Bahn zu verweilen hatte, schweiften seine Gedanken mit der Zeit nahezu zwangsläufig ab.
Betrübt dachte er an seine Frau und den Zettel, den er gestern bei seiner Lunchbox gefunden hatte. Morgen war es so weit, dass sie mit ihm sprechen wollte. Der dämliche Privatdetektiv hatte ihm die Ergebnisse auch für morgen versprochen. Han Ning konnte nicht anders als innerlich zu seufzen. War er eigentlich wirklich bereit die Wahrheit zu erfahren? Er machte sich keine Illusionen, aber natürlich fragte er sich ständig, was wenn sie doch keine Affäre hatte?
Die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt und mehr als ein Jahrzehnt des Ehelebens ließen sich nicht einfach so vergessen…
Und trotzdem… Morgen dann wirklich vor vollendeten Tatsachen zu stehen… Von Unbehagen im Anbetracht dieser Erwartungen zu sprechen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.
Wann war es eigentlich passiert, dass sie sich so auseinander gelebt hatten? Hatte er etwas falsch gemacht? Wahrscheinlich fragte sich das jeder Mann…
Wütend versuchte er seinen Hass auf seine untreue Ehefrau aufrecht zu erhalten. Sie war es schließlich gewesen, die die augenscheinlich einfache Lösung gesucht hatte. Sich einen Liebhaber zu angeln, war für sie mit Sicherheit nicht schwer gewesen. Dafür sah sie einfach zu gut aus, musste Han Ning zähneknirschend zugeben.
Pah, schüttelte Han Ning den Kopf. Früher war er noch stolz darauf gewesen solch ein Glück gehabt zu haben.
Und während sich dieser schleichende Prozess abzeichnete, ackerte er auf der Arbeit... Seitdem Bei En Rui ihm das Leben zur Hölle machte, hatte er zunehmend mehr Zeit im Büro investieren müssen. War das der Grund? Hätte sie ihm nicht einfach sagen können, dass er sich mehr Zeit für die Familie nehmen sollte?
Morgen Abend würde er erfahren was Sache war… Irgendwie war er erleichtert und zugleich vollkommen niedergeschlagen…
Arg… Seine Gedanken drehten sich nur im Kreis.
Angewidert verzog er das Gesicht und suchte nach einer Ablenkung. Der Junge… ja, dieser ausländische Junge von gestern. Das war doch ein gutes Thema!
Zur Selbstbestätigung nickend, wanderten seine Gedanken zu der gestrigen Begegnung in Dazu. Er erinnerte sich noch genau, mit welcher Kreativität er vor den Schlägern gerettet worden war. Im Gespräch hatte der Junge ihm viel offenbart. Wenn jemand niedergeschlagen sein konnte, dann doch wohl dieser arme Kerl und seine Familie.
Er hatte ihm wirklich helfen wollen, auf die Schnelle aber schlicht weg keine Idee gehabt. Die anschließende Verzweiflung des Jungen war so offensichtlich gewesen… Erst hatte er ihm hinterher rennen wollen, es im Nachhinein dann aber doch gelassen. Was hätte er schon sagen können?
Die ganze Rückfahrt hatte er fieberhaft nach einer Lösung für die Probleme des Jungen gesucht und doch war ihm nichts eingefallen. Es gab einfach keinen legalen Weg etwas zu unternehmen, wenn die Eigentümer selbst sämtliche Rechte bezüglich der Verkaufsbedingungen abgab.
Han Ning verabscheute diese Art von Betrüger, die sich an der ahnungslosen, älteren Generation vergingen.
Mitten in der Nacht hatte er schlaflos im Bett gelegen und auf die Leere zu seiner Linken gestarrt. Seine Frau war noch immer nicht zu Hause gewesen…
Nein! Er durfte nicht schon wieder anfangen!
Jedenfalls war ihm in diesem Moment ein Gedankenblitz gekommen, der ihn vom Trübsal blasen abhielt. Eine regelreche Euphorie hatte von ihm Besitz ergriffen, als er sich selbst über seinen genialen Einfall beglückwünschte. Es war lange her gewesen, dass er sich so gut gefühlt hatte und im Anschluss hatte er so gut geschlafen...
Heute Morgen hatte ihn natürlich die Realität eingeholt. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, wie er den Jungen finden sollte… Gut, er kannte den Namen des Jungen, der würde ihn nur nicht wirklich weiter bringen. Seine Großeltern führten schließlich einen chinesischen Namen, den er nicht kannte… Selbst wenn er alle Krankenhäuser nach Fällen von Gehirntumoren absuchen würde, würde es in Anbetracht der Einwohnerzahl der Stadt einfach ewig dauern. Und woran sollte er die Mutter des Jungen erkennen?
Er hatte dahingehend überhaupt keinen Anhaltspunkt…
Während er sich das Hirn zermarterte wie er den Jungen finden könnte, schwanden die Minuten dahin. Gefühlt keine fünf Minuten später stieg er aus der U-Bahn und erklomm die Treppen auf seiner letzten Etappe seines Arbeitsweges.
Zwei Stunden später saß er an seinem Arbeitsplatz und beendete das Telefonat mit einem Polizisten, der ihm noch einen Gefallen geschuldet hatte. Teilweise hatte er Han Ning weiterhelfen können. Bahes letzter offizieller Wohnsitz war eben jenes Anwesen gewesen, welches verkauft werden sollte. Als Verkäufer wurde offiziell dieser Shang angegeben, durch den der Junge und seine Familie ja gerade erst die Probleme hatten. Der Typ würde ihm bestimmt keine Infos über Bahes Familie geben…
Allerdings war auch noch Bahes Stiefmutter dort gemeldet. Sie hatte zwar den Namen ihres Mannes angenommen, aber mit ein wenig Recherche hatte sein Kontakt schließlich ihren vollständigen Namen heraus bekommen.
Sulin Ma.
Es sollte nicht zu viele Frauen mit diesem Namen in den Krankenhäusern geben. Schlimmsten Falls würde er sie einfach alle besuchen und nach einem möglichen Stiefsohn fragen.
„Hey, mach mal Platz da, ich will auch was sehen!“
„Was willst du denn? Als ob hier nicht mehr als genug Platz ist! Wieso verfolgst du seinen Auftritt nicht einfach an deiner eigenen Visualisierungsfläche?!“
„Ach, jetzt hab dich nicht so, ist doch viel spaßiger es zusammen zu verfolgen.“
Irritiert schaute Han Ning auf und sah wie sich zwei seiner Kollegen drei Arbeitsbereiche weiter gegenseitig hin und her schupsten, um den bestmöglichen Blick zu erhalten.
„Was haben die denn?“
„Sag bloß, du hast vergessen, dass Bei En Rui heute seine Pressekonferenz hat?“, antwortete Liu Heng von gegenüber.
Für einen Moment schaute Han Ning verwirrt drein. Scheinbar hatte er die Frage laut ausgesprochen.
„Stimmt ja“, erinnerte er sich und dachte amüsiert an das Desaster, das diesen Mistkerl befallen hatte. Zu viel gute Presse konnte auch negative Folgen haben… Diesmal wollte er den gierigen Reportern nur zu gerne Beifall klatschen. Sie hatten seinem Arsch von Chef auf seine große Schwachstelle festgenagelt!
Denn was war schon immer sein Motto gewesen?
Du hast Erfolg als Anwalt? Dann vertrete die großen Fische!
Kleinbürgerbagatellen bringen schließlich kein großes Geld ein. Ganz davon abgesehen, dass es Bei En Rui mit Sicherheit unter seiner Würde empfindet, sich um arme Familien zu kümmern.
Fasziniert suchte Han Ning den passenden Lifestream und schaute sich die Vorstellung auf seiner Visualisierungsfläche an.
Der Sender schaltete gerade aus dem Studio zu den Reportern vor Ort und Han Ning beobachtete hasserfüllt, wie Bei En Rui seinen großen Auftritt im Fernsehen genoss.
War er anfangs noch guter Dinge gewesen, wurde Han Nings Laune von Minute zu Minute schlechter. Dieser Bastard hatte doch allen Ernstes die Nerven zu behaupten, er würde in Zukunft kostenlos Fälle übernehmen! Als ob!
An wem würden wohl diese Fälle kleben bleiben?!
Frustriert schaute sich Han Ning um und entdeckte im Büro doch nur allgemeine Zustimmung darüber, wie positiv Bei En Rui die Kanzlei verkaufte.
Mürrisch schnappte er sich sein Wasser und nahm einen tiefen Schluck als plötzlich eine Gestalt ins Bild trat, die ihm seltsam bekannt vor kam.
Es dauerte einen Augenblick bis die Kamera die Figur richtig erfasste.
Und im nächsten Moment prustete und hustete Han Ning vor Überraschung sein Wasser durch die Gegend!
„Was zum Henker macht der Junge da?!“