„Ähm… keine Ahnung“, musste er zugeben.
„Beuge dich mal mit gestreckten Beinen nach vorne und versuche den Boden zu berühren“, sagte Huilan.
Bahe kam der Aufforderung nach und beugte sich nach vorn. Seine Finger stoppten etwa eine Handbreite vor dem Boden. So sehr er sich auch streckte, dass Ziehen in der Rückseite seiner Beine wurde schnell zu schmerzhaft.
„Weiter komme ich nicht“, presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Oha…“, seufzte Huilan und fasste sich fassungslos an die Stirn.
„Nicht gut?“, stellte Bahe die unnötige Frage.
„Ganz genau…“, schüttelte Huilan nur den Kopf. „Gar nicht gut. Ich muss mich korrigieren. Es werden nicht Wochen harter Arbeit, sondern Monate!“
Ja, klar… Es wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn er Mal ausnahmsweise schnelle Fortschritte machen würde…
„Womit kann ich denn nun anfangen?“, fragte Bahe deprimiert.
„Du…“, begann Huilan, nur um abzubrechen, sobald sie Bahes Gemütszustand bemerkte.
Mit zwei Schritten schnellte sie plötzlich an Bahe heran und rammte ihm mit voller Wucht ihre kleine Faust in den Bauch.
Mit einem Keuchen sackte Bahe überrascht zusammen und stützte sich mühsam mit den Unterarmen auf, um wieder zu Atem zu kommen.
„Ab sofort bist du mein Schüler!“, schnauzte Huilan ihn wütend an. „Die Schüler der Chin-Familie zeigen keine Schwäche! Und erst recht keinen schwachen Willen! Hast du mich verstanden?“
Bahe hatte immer noch mit den Nachwirkungen ihres Schlages zu kämpfen. Er wollte sich gerade räuspern, um danach endlich antworten zu können, als ihn diesmal ein Tritt von Huilan von den Knien riss und auf den Rücken fallen ließ.
„Ich habe gefragt, ob du mich verstanden hast?“, rief sie erneut.
Doch Bahe war noch viel zu sehr damit beschäftigt nach Luft zu schnappen. Der Tritt hatte seinen Brustkorb von der Seite getroffen und ihm die Luft aus der Lunge gepresst, so dass er diesmal noch viel weniger in der Lage war zu sprechen.
Huilan kannte jedoch kein Erbarmen. Ihr Fuß flog erneut heran und Bahe rollte sich instinktiv zur Seite. Um Haaresbreite wäre sein Brustkorb auch von der anderen Seite malträtiert worden, doch eben nur beinahe!
Grimmig rappelte er sich auf und starrte Huilan wutentbrannt an. Ja, er wollte trainiert werden, aber was dachte sie sich bitte dabei ihn nicht mal antworten zu lassen?
„Spinnst du…“, setzte er lauthals an, nur um ein weiteres Mal von ihr überrascht zu werden, als sie ihn am Kragen packte und mit einem Ruck zu sich heran zog.
„Schon viel besser!“, nickte sie dann, während sie ihm tief in die Augen blickte. „Sei wütend, wenn es dir hilft. Meinetwegen hasse mich, aber versinke nie wieder in deinem selbst ausgedachten Selbstmitleid. Du willst was ändern? Dann reiß dich zusammen und tu was dafür!“
Danach stieß sie ihn von sich und Bahe taumelte verblüfft einige Schritte zurück. Dieses vierzehnjährige Mädchen hatte dem kurzen Moment solch eine Intensität verliehen…
Geistesabwesend rieb er sich die Arme, über die sich noch immer eine Gänsehaut zog.
„Also, was soll es sein? Willst du weiter jammern?“
Bahe schüttelte nur den Kopf.
„Gut, dann können wir ja mit dem Training beginnen“, sagte sie harsch und wies ihn an: „Mache die gleiche Dehnübung noch mal. Beuge dich nach vorne, halte die Beine gestreckt und versuche den Boden mit den Fingerspitzen zu erreichen.“
Ohne zu zögern kam Bahe der Aufforderung nach.
„Jetzt halte die Position, bis ich dir weitere Anweisungen gebe.“
Für den Moment dachte Bahe nicht weiter nach und tat einfach wie ihm geheißen. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, wie Huilan sich auf einer nahegelegenen Bank niederließ und danach zu ihm herüber schaute. Bahe konzentrierte sich fast augenblicklich wieder auf seine Dehnübung. Es fehlte noch, dass Huilan dachte, er würde sie beobachten.
„Gleich ist eine Minute um. Du wirst die Übung aber mindestens noch eine weitere Minute halten, verstanden?“
Bahe nickte.
„Gut“, sagte sie und verfiel wieder ins Schweigen.
Auch Bahe schwieg und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die momentane Übung. Es war mehr als nur frustrierend die eigenen Fingerspitzen die ganze Zeit eine Handbreite über dem Boden zu sehen. Egal, wie sehr er sich anstrengte, seine Muskeln wollten einfach nicht nachgeben. Er wollte gar nicht an seine frühere Zeit im Schulsport nachdenken, wo es noch problemlos möglich gewesen war.
„So, das reicht. Richte dich auf und schüttel deine Beine aus.“
Fast hätte Bahe vor Erleichterung laut geseufzt, konnte sich in letzter Sekunde aber noch zusammen reißen. Kaum oben, wurde ihm aber schon ein Tritt gegen die Innenseite seines linken Fußes verpasst und Bahe krachte augenblicklich in eine Grätschhaltung. Mit Mühe fing er seinen Körper ab und richtete sich wieder auf.
„Du brauchst zu lange!“, herrschte ihn Huilan ein weiteres Mal an und baute sich ihm auf. „Streck deine Beine durch! Nein nicht so! Das Knie muss ganz durchgestreckt sein. Wofür hast du denn Ohren am Kopf, wenn du sie nicht benutzt! Richte deinen Oberkörper aus. Oh… willst du was sagen? Nein? Habe ich mir auch gedacht…“
Die nächsten Minuten vergingen mit Huilans herrischen Rufen und Anweisungen, während Bahe sein Bestmögliches tat, ihren Befehlen nachzukommen. Nach und nach vergingen Stunden, in denen Bahe eine Dehnübung nach der Anderen durchführte und nicht selten blieben neugierige Passanten stehen, um zuzusehen, wie eine Vierzehnjährige einen jungen Ausländer ununterbrochen zusammenschrie.
Zweieinhalb Stunden später beendete Huilan das Training endlich und verschwand nachdem sie ihm klar gemachte hatte, dass er besser am nächsten Morgen noch vor der Schule, um 6 Uhr hier aufkreuzen sollte.
Bahe sackte vollkommen erschöpft zusammen. Nie im Leben hätte er gedacht, dass einfache Dehnübungen auf Dauer so anstrengend sein konnten.
Und verdammt noch mal! Das Huilan so streng sein konnte, wäre ihm auch nie in den Sinn gekommen. Er war vier Jahre älter als sie und doch hatte er sich nur zu schnell von ihr anschreien lassen und es als vollkommen normal akzeptiert.
Nachdem er wieder halbwegs zu Atem gekommen war, breitete sich nach und nach ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
In dem einen Moment, in dem negative Gedanken mal wieder drohten sich seiner zu bemächtigen, hatte sie ihn mit Gewalt zurück in die Gegenwart geholt und ihn nicht einmal mehr Blinzeln lassen. Unerbittlich hatte sie ihn angetrieben und von einer Übung in die nächste befördert, wodurch er wenig später nicht mal mehr die Kraft gehabt hatte, sie innerlich verfluchen zu können.
Anweisungen waren von ihr gekommen und er hatte sie umgesetzt. So einfach war das.
„Scheinbar habe ich das gebraucht“, murmelte Bahe vor sich hin, als ein merkwürdiges Glücksgefühl von ihm Besitz ergriff. Er war vollkommen erschöpft, während er sich auf die Beine kämpfte und doch fühlte er sich irgendwie großartig.
Die irritierten Blicke der Einheimischen ignorierend, wabbelte Bahe schließlich mehr als das er ging, zurück zur U-Bahn-Station und machte sich auf den Weg nach Hause.
Wenn er Morgen früh bereits um 6 Uhr morgens hier sein wollte, dann würde er noch eine Stunde früher aufstehen müssen. Was andererseits auch bedeutete, dass er mit Raoie heute schon früher beginnen musste, wenn er seine vollen zwölf Stunden Spielzeit pro Tag ausnutzen wollte.
Trotz seines erschöpften Zustandes beschleunigte er seine Schritte daraufhin ein Wenig. Er hatte so viel zu tun und viel zu wenig Zeit wie es schien…
Teil 2/3!
Ich fürchte mich hat da selbst mal eine Geschichte verschlungen...
Ich hoffe, den dritten Teil dieser Woche kann ich Morgen schon nachliefern ;-)
RiBBoN