In den folgenden Stunden wurden Bahe zwei Dinge klar. Zum Einen, welch einem Genie er gegenüber saß und zum Anderen, wie einsam man sein musste, um überhaupt erst auf die Idee zu einer derart ungewöhnlichen Fähigkeit zu kommen. Denn wie er später von Sin erfuhr, hatte sich dieser von der Chakralehre dazu inspirieren lassen. Zugegeben, die Lehre über Chakras und ihre Energiefelder war keineswegs neu und gerade in Asien überaus weit verbreitet. Ganz anders als in Europa, wo es immer noch einen esotherischen Beigeschmack hatte. Aber wer zum Henker nahm solche Theorien in einem Computerspiel zur Hand und entwickelte darauf basierend bitte schön eine eigene Fähigkeit zur Einschätzung der Gegenspieler?
Noch dazu wurde für das Ganze anscheinend ein Wahrnehmungswert benötigt, der seines gleichen suchte. Sin musste Ewigkeiten damit verbracht haben dieses Attribut zu erhöhen und bislang war Bahe nur die Meditation als anständiges Mittel zur Steigerung bekannt… Zusammen mit Sins Abneigung gegen Städte und andere Menschenansammlungen ließ dies nur den Schluss zu, dass Sin den Großteil seiner Spielzeit allein in der Natur verbrachte…
Insgesamt also kein Wunder, dass Sin diese Spieler unweit von ihnen bemerkt hatte, während Bahe sich immer noch fragte, ob er ihn vielleicht verarschte. Schließlich übte er was das Zeug hielt, konnte aber nur schwerlich Fortschritte verzeichnen. Bis zum Schluss waren Bahe in der Meditation die Auren seiner Ziele verborgen geblieben.
Sin of Birth verabschiedete sich schon einige Zeit vor Bahes Ausloggen. Scheinbar hatte er wesentlich früher mit seiner Spielsession begonnen.
So blieb Bahe mit seinen Elementaren allein in der Dunkelheit zurück. Nur er war noch wach und versuchte sich anfangs noch weiter in der Meditation, aber bei jedem kleinsten Rascheln verlor er seine Konzentration und blickte sich misstrauisch um. Durch Sins Fehlen war er wesentlich verwundbarer und bei dem Gedanken an die Spieler, von denen sie den ganzen Tag über beobachtet wurden, war ihm nicht wirklich wohl in seiner Haut. Bahe wurde zum ersten Mal bewusst wie gruselig ein Wald in der Nacht sein konnte. Er war zwar nicht völlig allein, aber da Balu und seine Elementare inzwischen schliefen, half ihre Gesellschaft auch nicht wirklich. Dabei konnte er es ihnen nicht einmal verdenken. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich den ganzen Tag, seit dem Wechsel des Lagerplatzes, nicht vom Fleck bewegten, hätte er sich vermutlich auch schlafen gelegt.
Bahe würde morgen mit Sin sprechen müssen. Er konnte es sich nicht länger erlauben an Ort und Stelle zu verweilen. Vielleicht war Sin of Birth ja sogar bereit, ihn eine Weile auf den Weg ins Belungagebirge zu begleiten. Auf jeden Fall wäre eine solche Reise wesentlich sicherer mit ihm an seiner Seite.
Ohne länger auf die Dunkelheit zu achten loggte er sich aus und seufzte erleichtert, als er sich im Dimensional Leap-System wiederfand.
„Auf ein Neues…“, sagte er sich und stand auf, um sich auf sein Training vorzubereiten.
Drei Stunden später betrat er gerade noch rechtzeitig das Schulgelände und hastete zu seinem Klassenraum. Beim Öffnen der Tür schenkte ihm inzwischen kaum mehr jemand mehr Beachtung als üblich, bis ein aufgebrachter Schrei ihn zusammenzucken ließ.
„Baaaaaaaaahhheeeee!“, schrie eine rennende, menschliche Kanonenkugel die aus Fettwülsten, Hakennase und Brille bestand. Doch der befürchtete Aufprall kam nicht, stattdessen legte sich ein dicker Arm über seinen Nacken und riss seinen Kopf herum, bis er sich Auge in Auge mit Muning wiederfand, der offensichtlich außerordentlich aufgebracht war.
„Bei den Bärten meiner Ahnen, wieso bist du gestern nicht an dein fucking Telefon gegangen?!“, blaffte Muning ihm aufgeregt entgegen.
„Ähm…“, überlegte Bahe sich gerade seine Antwort, als er der unnatürlichen Stille im Klassenraum gewahr wurde.
Kaum eine Sekunde später erklang die Stimme ihres Klassenlehrers: „Nun, Herr Ni, so interessant Ihre Erlebnisse des Wochenendes auch sein mögen, Sie werden mir bestimmt beipflichten, dass dies bis nach dem Unterricht warten kann, nicht wahr?“
„Äh… sicher… äh… Herr Shi“, beeilte sich Muning ihrem Klassenlehrer zuzustimmen, löste sich von Bahe und suchte schnell seinen Platz auf.
„Im Übrigen würde ich es mir bei Ihrem Enthusiasmus gewiss auch zweimal überlegen einen Anruf Ihrer Person anzunehmen“, fügte ihr Klassenlehrer noch hinzu und sorgte damit für schallendes Gelächter im Klassenraum.
Während Muning über diesen Satz ihres Lehrers bedient das Gesicht verzog, nutzte Bahe die Situation lieber schnell aus, um sich ebenfalls an seinen Platz zu begeben. Umso weniger Aufmerksamkeit er auf sich zog umso besser, ganz nach seinem Motto für Raoie.
Nun ja… es hatte zuletzt weniger geklappt, aber es war der Gedanke der zählte…
Oder…?
Nachdem sich Bahes Mitschülerinnen und Mitschüler beruhigt hatten, gab ihr Klassenlehrer eine bedeutende Neuigkeit für das kommende Schuljahr bekannt: „Wie ihr sicher schon wisst, findet im zwölften Schuljahr wie immer eine einwöchige Studienfahrt statt. Das Ziel eurer Studienfahrt wird diesmal der Jiuzhaigou Nationalpark in Sichuan sein.“Kaum hatte er das Ziel verkündet brach das reine Chaos im Klassenraum aus.„Waaaaas?!“„Wir fahren so weit weg?!“„Wie geil ist das denn!“„Da wollte ich schon immer mal hin!“
„Hey, was wollt ihr… Sind doch nur ein paar Seen…“
„Oh, ich habe gehört, wenn man ihn mit seinem Seelenverwandten durchwandert, wird man ein Leben lang glücklich sein…“
Von blankem Entsetzen bis hin zu romantischen Schwärmereien war alles an Reaktionen dabei. Einzig Muning verbrachte die Zeit viel lieber damit Bahe wütend anzufunkeln, was Bahe trotz der witzigen Situation nicht zum Lachen bringen konnte. Eine Reise zum Jiuzhaigou Nationalpark war schön und gut, aber Sichuan war verdammt weit weg… Eine derartige Reise würde sich seine Familie niemals leisten können.
„Wieso können wir nicht einfach mal nach Paris fliegen?“, warf einer der vorwitzigen Schüler ein, als sich die Gemüter allmählich beruhigt hatten.
„Weil es sich nun mal um eine Studienfahrt handelt, auf der man etwas lernen soll“, schmunzelte ihr Klassenlehrer und erklärte weiter: „Ihr werdet für diese Studienfahrt Gruppenprojekte zur Bearbeitung bekommen, die sich erheblich auf die Bewertung des nächsten Schuljahres auswirken werden. Insofern möchte ich schon jetzt einmal allen ans Herz legen, eine Studienfahrt nicht mit einem Vergnügungsausflug zu verwechseln.“
Natürlich dämpfte diese Nachricht die allgemeine Begeisterung enorm und auch Bahe musste zugeben, alles andere als angetan von dieser Regelung zu sein.
„Nichts desto trotz, wird es, obwohl es eine lehrreiche Reise sein wird, genügend Zeit zur freien Verfügung geben“, merkte ihre Klassenlehrer mit einem Augenzwinkern schließlich an und schickte sie dann nach draußen zur morgendlichen Sporteinheit.
Bahe blieb bewusst zurück und wartete bis er mit seinem Lehrer alleine war, ehe er um der aufmerksamkeitshalber fragte: „Herr Shi?“
„Ja, äh…Bahe“, bemühte sich sein Lehrer seinen Namen möglichst deutsch auszusprechen.
„Wissen Sie schon wie teuer die Studienfahrt werden wird?“, stellte Bahe die Frage, die ihm schwer auf dem Herzen lag.
„Ah… ja… die Situation deiner Familie ist für diese Schule eher… unüblich“, wählte sein Lehrer die Worte mit Bedacht. „Ich fürchte die Reise wird um die 10 000 Yuan kosten…“
„10 000 Yuan?!“, entfuhr es Bahe entsetzt.
„Nun ja… ich gebe zu, dass es schon ein größerer Betrag ist, aber du darfst nicht vergessen, dass wir eine relativ renommierte Privatschule sind und unser Hauptpublikum etwas dergleichen von uns erwartet“, erläuterte Herr Shi. „Am besten du besprichst die Situation zunächst einmal mit deiner Familie. Denn solltest du nicht mitfahren können, wird sich deine Benotung aufgrund der fehlenden Gruppenarbeit enorm verschlechtern. Unzureichendes Kapital der Familie ist leider kein ausreichender Grund, um hier eine Sonderregelung beantragen zu können. Dir würden schließlich auch öffentliche Schulen zur Verfügung stehen.“
„Ich… verstehe…“, schluckte Bahe geknickt.
„Und Bahe…“, begann sein Lehrer, diesmal nicht mehr so einfühlsam.
„Ja?“
„Du solltest nun wirklich zum Morgensport.“
Bahe brauchte einen Augenblick, ehe er verstand, dass dieses Gespräch für seinen Klassenlehrer anscheinend beendet war. Fassungslos nickte er und machte sich auf den Weg zum Schulhof. Er konnte sich nur zwingen sich auf die aktuellen Probleme zu fokussieren. Fehlte noch, dass ihm der Sportlehrer Zusatzübungen aufbrummte, nachdem er schon Huilans Training hinter sich hatte…
Er konnte nur hoffen, dass er den Mund nicht zu voll genommen hatte, als er damals das Aufnahmeangebot in Spirit of Dawn ablehnte…
All seine Hoffnung lag nun auf diesen Kristallen, die Feiying in Raoie bewachte… Er musste zusehen, dass er in der nächsten Spieleinheit vorwärts kam.
Teil 4 / 8?
RiBBoN