Abgesehen von seiner strahlenden Rüstung, stach Trullus besonders dank seines Schlachtrosses stark aus der Menge von aufgereihten Spielern heraus. Umso mehr erregte er die allgemeine Aufmerksamkeit, als er einige Meter nach vorne ritt und sein Ross anschließend wenden ließ, ehe er lauthals brüllte: „Es ist soweit, die Bastarde der Hölle sind für uns alle zu sehen, dort oben aufmarschiert. Sie mögen beeindruckend aussehen… Aber ich sage euch, gemeinsam werden wir sie bezwingen! Soldaten und Söldner Waldentstadts und Trachtenburgs werden im Kampf Seite an Seite stehen und diesen hirnverbrannten Kreaturen zeigen, was es heißt sich mit den Recken seine Majestät von Deronor anzulegen!“
Im Gegensatz zum Start ihrer Reise, zeigten die Spielerinnen und die wenigen Spieler diesmal einige Reaktionen.
„Hehe, wir werden sie fertig machen!“
„Sollen die Viecher doch kommen. Mein Schwert lechzt schon längst nach neuem Blut.“
„Mein Bogen braucht unbedingt wieder ein Bisschen Aktion.“
„Zu geil, dass wir bei diesem Event dabei sein können.“
„Oh ja, wir sind die ersten Spieler, die in Raoie einer solchen Streitmacht gegenüber stehen dürfen! Nachdem wir die schwachen Goblins besiegt haben, kann mein Freund mit seiner dämlichen Angeberei für die nächsten Wochen einpacken.“
„...“
Es ging noch eine ganze Weile so weiter und Kaiwen wunderte sich nicht zum ersten Mal, wie dieser sonst so dümmliche Trullus ausgerechnet in diesen Momenten stets so beeindruckende Worte fand.
Doch bevor sich die euphorische Stimmung weiter ausbreiten konnte, schallte lautes Stampfen und Waffengeklirr von der Armee der Goblins hinab und Kaiwen lenkte ihre Allsicht augenblicklich nach oben um.
Die Goblins stampften mit aller Kraft auf den Boden, schlugen ihrer Waffen gegen einander oder hämmerten ihre Speere auf den Boden. All der Lärm wurde zudem von ihrem Geschrei begleitet, welches wirr und wild den Hang hinab schallte.
Teils begeistert ob der grandiosen Aufnahmen und teils besorgt, um ihr eigenes Leben, versuchte Kaiwen ihre Sorgen auszublenden und sich nur auf ihre Fähigkeit zu konzentrieren. Mehrmals verschob sie ihre Perspektive, beobachtete die Goblinarmee von oben als auch von unten, fuhr über die Spieler hinweg und beobachtete die zunehmend verunsicherten Mienen derselben. Innerlich machte sie sich bereits Gedanken dazu, wie sie das Ganze schneiden würde. Hier und da ein harter Cut, dort eine langsame Blende.
Was für ein Spektakel, dachte sie und rieb sich innerlich bereits die Hände.
Dann teilten sich plötzlich die Ränge der Goblins und das Gebrüll und Waffengeklirr verstummte.
Eine einzelne Gestalt trat hervor und Kaiwen erfasste jede Sekunde ihres Auftritts.
Siegesgewiss blickte Makara durch ein Fernrohr hinunter auf das Dorf Belu und die etwa sechshundert Soldaten und Spieler, die scheinbar das Dorf verteidigen wollten.
„Ist das ihr Ernst?“, murmelte Makara grinsend vor sich hin, bis er beim Anblick der einen Seite stutzig wurde. „Oh…? Spirits of Dawn? Scheinbar sollte ich sie nicht völlig auf die leichte Schulter nehmen…“
Er war sich seines Sieges zwar sicher, aber das hieß nicht, dass er ihn als geschenkt ansah. Er verfügte über weit mehr Goblins, aber die Level der Spirit of Dawn-Gildenmitglieder waren mit Sicherheit hoch genug, um ihm Kopfschmerzen zu bereiten, wenn er nicht aufpasste. Was seine Aufmerksamkeit instinktiv auf die andere Seite lenkte.
„Fast nur Spielerinnen…“, schlich sich erneut ein schadenfrohes Grinsen auf sein Gesicht, während sein Blick einen Hünen in blankpolierter Rüstung auf einem Schlachtross fand. „Da war wohl ein Idiot am Werk…“
Nun, damit hatte er schon mal sein Ziel gefunden. Nicht, dass er Frauen generell Feigheit unterstellte, aber ein Blick genügte, um zu wissen, dass der Großteil der Spielerinnen dort unten kaum Kampferfahrung besaß und erst recht nicht in dem heutigen Ausmaß.
Er würde also die seine linke Flanke stärken und sie schnellst möglich überrennen, um die Spirits of Dawn-Mitglieder großflächiger angreifen zu können. Selbst wenn dies nicht sofort klappen sollte, würde er die wenigen Verteidiger dort unten auf Dauer ermüden und nach und nach aufreiben.
Und letztlich besaß er immer noch seine Trumpfkarte…
Er hoffte zwar sie nicht einsetzen zu müssen, aber insgeheim war er sich im Klaren darüber, dass eine der führenden Gilden, zweihundert ihrer Mitglieder nicht einfach ohne einen besonderen Anführer auf eine Quest schicken würde. Wahrscheinlich war es nicht nur ein Veteran der Gilde. Es blieb abzuwarten, wie viele Talente dort unten versammelt waren.
Mit einer Geste winkte er einen seiner Goblins zu sich heran, während er zurückdachte.
Die ersten Minuten nach seinem heutigen Log-In waren eine Mahnung an seine Vorsicht gewesen. Seine Goblins hatten den Eindringling nicht erwischt und der Tarstein blieb verschwunden… Man war er sauer gewesen... Nur mit Mühe, hatte er sich dazu überwunden seine Goblins zu verschonen. Schließlich brauchte er sie heute noch und letztlich war dieser Vorfall Glück im Unglück gewesen, da ihm so mal wieder klar wurde, dass er keineswegs unverwundbar war. Seine Quest war mit der Schwierigkeitsstufe B gekennzeichnet. Er sollte diese Schlacht nicht unterschätzen.
Als sein Goblin an ihn heran trat, flüsterte er ihm etwas ins Ohr und schickte ihn voran. Mal sehen, wie die Idioten da unten auf ein Bisschen Einschüchterung reagierten.
In dem Moment, indem Kaiwen die Person als einen Menschen erkannte, war ihr augenblicklich klar, dass die heutige Schlacht alles andere als gewöhnlich verlaufen würde. Mit dem kurzen Einsatz ihrer Fähigkeit Allsicht bestätigte sie zudem sofort, dass es sich um einen Spieler handelte, da er den üblichen Speichergegenstand, den Gürtel, trug.
„Makara… Level 32… Berufsklasse… wieder nur ein Fragezeichen… Tch!“, zischte sie zum Schluss genervt darüber, dass ihre Fähigkeit mal wieder versagte.
Magnifus hatte sie mehr als einmal gefragt, ob sie als Orakel irgendetwas dazu sagen konnte, mit welchem Anführer sie es zu tun hatten. Doch da ihre Fähigkeiten nicht in diesem Metier lagen, war es bis gerade eben für sie genauso ein Mysterium geblieben wie für den Rest.
Laut Magnifus war soeben der schlimmste Fall eingetreten. Denn ein Spieler bedeutete mehr geistigen Widerstand als die meisten NPCs oder ein Goblinanführer aufbringen konnten.
Als dieser menschliche Anführer der Goblins einen seiner Krieger voran schickte, hatte Kaiwen so eine Ahnung, dass Magnifus wahrscheinlich recht behalten würde…