Han Ning beobachtete nervös, wie der Junge einmal tief Luft holte, ehe er sich Bei En Rui zuwandte, der mitsamt seines Assistenten und Bodyguards gerade den Vorbereitungsraum betreten hatte.
„Danke“, sagte Bahe schlicht. Augenblicklich hätte Han Ning ihn am liebsten geohrfeigt, um ihn zur Vernunft zu bringen. Musste er Bei En Rui weiter zur Weißglut bringen?
„…“, Bei En Rui war für einen Moment sprachlos, während eine seiner Augenbrauen verärgert zuckte. Scheinbar war er kurz davor seine Maske fallen zu lassen. Bei den Provozierungen von diesem Jungen wohl kein Wunder, dachte Han Ning resigniert.
„Du hattest einen ganz genau festgelegten Text, den du draußen vor den Kameras zum Besten geben solltest!“, zischte Bei En Rui bedrohlich.
„Ach, Sie meinen den Text, den mir noch nicht einmal ein Fünftklässler abkaufen würde?“, fragte Bahe herausfordernd zurück. „Worüber beklagen Sie sich eigentlich? Ich habe Ihre Kanzlei in den größten Worten gelobt, die mir möglich waren. Schließlich wurde mir hier geholfen. Aber Sie, Sie haben nichts dazu beigetragen und vielmehr mich und meine Familie bedroht!“
„Arg…“, fasste sich Bei En Rui theatralisch ans Gesicht und wandte sich an seinen Assistenten. „Siehst du was ich meine? Da reißt man sich für ihn den Arsch auf und so wird einem gedankt, mit bodenlosen Anschuldigungen.“
„Ich weiß wirklich nicht, wo so ein mittelloser, jugendlicher Ausländer wie du, die Nerven her nimmt, einen der Wohltäter unserer Stadt so zu verunglimpfen…“, schüttelte Bei En Ruis Assistent den Kopf und herrschte Bahe an. „Hat er deinen Fall nicht zu deiner Zufriedenheit gelöst? Was gibt dir das Recht, solche Unverschämtheiten über ihn zu verbreiten?!“
„Ach, hat er ja?“, zog Bahe spöttisch die Augenbrauen hoch und Han Ning trat lieber schnell an ihn heran, um ihn davon abzuhalten, mehr zu sagen.
„Hör auf!“, flüsterte er eindringlich an Bahe gewandt.
„Tianhao, lass gut sein“, schaltete Bei En Rui sich wohlwollend ein und wählte seine nachfolgenden Worte mit Bedacht: „Wärst du so nett, einen Termin beim Chef zu machen? Ich sollte ihm persönlich von diesem… Teil…erfolg berichten.“
„Sicher, Boss“, nickte der Assistent und lief an Han Ning und Bahe vorbei zu den Fahrstühlen. Natürlich nicht ohne Bahe zuvor einen bösen Blick zuzuwerfen.
„Du kannst auch schon gehen Han Ning“, erklärte Bei En Rui. „Du hast gute Arbeit geleistet. Ich möchte einen Moment mit meinem Klienten allein sprechen.“
Han Ning verzog das Gesicht. Bahe allein zu lassen, war im Moment das Letzte was er wollte. Aber solange er hier arbeitete, was nur noch eine Frage von ein paar Stunden war, war Bei En Rui immer noch sein Vorgesetzter…
Er wollte nicht in den letzten Minuten doch noch gefeuert werden. Eine Kündigung aus eigener Absicht war etwas völlig anderes im Lebenslauf als eine Entlassung durch den Vorgesetzten…
„Das können Sie vergessen“, rettete ihn Bahe aber sofort aus dieser Situation als er erklärte: „Solange Ihr Bodyguard hier ist, werde ich mich nicht allein mit Ihnen unterhalten.“
„Nun dann…“, willigte Bei En Rui zu Han Nings Beunruhigung direkt ein. „Chihai, bitte sei so nett und fahre mit Han Ning schon mal hinauf. Mein Klient soll sich doch nicht unwohl in deiner Anwesenheit fühlen.“
Verdammt! Jetzt hatte er keine Ausrede mehr bei Bahe zu bleiben, dachte Han Ning zerknirscht und nahm Bahe in Augenschein. Er schien von der Situation nicht wirklich besorgt zu sein.
„Boss, bist du dir sicher?“, fragte der Bodyguard.
„Keine Sorge“, meinte Bei En Rui mit einem süffisanten Grinsen. „So ist es doch in Ordnung, Bahe? Nur wir zwei?“
Zu Han Nings Grausen nickte der Junge, bevor er etwas sagen konnte.
„Bahe…“, begann er, wurde aber sofort von dem jungen Ausländer unterbrochen.
„Ist schon gut, geh nur.“
„Wie du willst…“, gab Han Ning unsicher von sich und begab sich zusammen mit Bei En Ruis Bodyguard zu den Aufzügen.
Es dauerte eine Minute, die Bahe und Bei En Rui abzuwarten schienen, ehe sich die Aufzugstüren öffneten und sich hinter Han Ning und dem Bodyguard wieder schlossen.
Die Fahrt kam Han Ning wie eine Ewigkeit vor. Ab dem Moment, in dem er Bahe aus dem Blick verlor, hatte die Anspannung von ihm Besitz ergriffen.
War es die richtige Entscheidung gewesen in den Aufzug zu steigen? Hätte er nicht lieber bei dem Jungen bleiben sollen? Was hatte Bei En Rui mit Bahe vor?
Fragen über Fragen…
Tief durchatmend zwang er sich zur Ruhe und ignorierte die stille Anwesenheit von Bei En Ruis Bodyguards, der die ganze Zeit kein Wort von sich gab.
Nach einigen qualvollen Augenblicken stieg er schließlich erleichtert in seinem Stockwerk aus und begab sich zu seinem Arbeitsplatz, um seine restlichen Sachen zu packen.
Viele der Akten und Unterlagen hatte er bereits weitergegeben. Andere wiederum, musste er noch ordnen, bevor er sie ins Lager bringen konnte. War das geschafft, würde zum Schluss nur noch übrig bleiben, seine persönlichen Dinge und Notizen mitzunehmen.
Mit einem Seufzen blickte er sich im Großraumbüro um und beobachtete für einen Moment das hektische Treiben derer, die Jahre lang seine Kollegen gewesen waren. Er glaubte nicht, dass er das hier vermissen würde.
Sein neues Büro versprach Ruhe und vernünftige Arbeit, auf die man sich freuen konnte. Viel besser als die Zustände in dieser Großkanzlei. Zudem arbeitete er mit ein paar seiner alten Freunde zusammen, die hier Ähnliches ertragen hatten.
Es war einfach Zeit für einen Neuanfang.
Mit einem Lächeln musste er daran denken, wie ihn seine Frau bei der Entscheidung sogar unterstützt hatte. Nach seinem bedeutungsvollen Geburtstag hatten sie über eine Vielzahl von Dingen lange und ausgiebig gesprochen. Seine unmenschlich langen Arbeitszeiten, die Quälerei für die Familie, was alles dabei auf der Strecke blieb, all das war Thema ihres Gesprächs gewesen. Seine Frau riet ihm schließlich sogar dazu, den Job zu wechseln. Weniger Geld hieß nicht weniger Glück, wie sie so gern sagte.
Mit einem Lächeln dachte er an das Gespräch zurück. Sie hatte Recht. Es konnte nur besser werden als hier.
Nach und nach machte er sich daran, die letzten Akten ins Lager zu bringen, während der Nachmittag immer weiter fort schritt und sich schon bald dem Abend zuneigte.
Während der ganzen Zeit hörte er aber merkwürdiger Weise nichts mehr von dem Jungen oder Bei En Rui. Han Ning versuchte mehrmals Bahe telefonisch zu erreichen, doch entweder bemerkte der Junge seine Anrufe nicht oder nahm sie einfach nie an.
Um kurz vor sechs Uhr am Abend war er endlich fertig und wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als einer der Führungspartner der Kanzlei, Ma Wenlan, plötzlich hinter ihn trat.
„Hua Han Ning, nicht wahr?“, fragte ihn der Mann.
„Äh, ja genau“, bestätigte Han Ning schnell und fragte verunsichert: „Ist was mit meiner Kündigung nicht in Ordnung?“
„Nein, nein“, antwortete Ma Wenlan. „Ich bin nur hier, um mich für Ihre Dienste über die Jahre hinweg persönlich zu bedanken.“
„Ähm… sicher“, meinte Han Ning verwirrt. Normalerweise kamen die großen Bosse doch nie für sowas hinunter in die unteren Ebenen.
„Außerdem möchte ich mich dafür entschuldigen, was Sie in der letzten Zeit wohl erdulden mussten“, meinte Ma Wenlan ernst. „Sie haben in Ihrem letzten Fall großartige Arbeit geleistet und unserer Firma eine Blamage erspart, die von jemand anderem provoziert worden war. Dafür danke und Ihnen wünsche ich alles Gute für Ihre Zukunft.“
„Das war mein Job“, antworte Han Ning nur und ergriff ihm die dargebotene Hand.
„Bescheidenheit ist eine Tugend“, nickte Ma Wenlan wohlwollend. „Aber in unserem Geschäft kann man davon allein nicht leben. Dies hier wird Ihnen vielleicht in der nächsten Zeit behilflich sein.“
Verdattert nahm Han Ning das Dokument entgegen, welches ihm sein ehemaliger Boss überreichte. Es handelte sich um ein Empfehlungsschreiben!
„Ich weiß nicht was ich sagen soll…“, gab Han Ning überwältigt von sich.
„Wie wär’s mit einem Danke“, zwinkerte ihm sein Gegenüber zu.
„Ah… Danke, vielen Dank!“
„Gern geschehen“, sagte Ma Wenlan lächelnd und wandte sich zum Gehen. „Machen Sie es gut.“
Zurück blieb nur Han Ning, der immer noch verblüfft auf das Empfehlungsschreiben blickte. Das Dokument würde ihm eine Menge Türen öffnen. Grinsend verstaute er das Schreiben sorgfältig in seiner Aktentasche und machte sich dann auf den Heimweg.
Selbst die überfüllte U-Bahn konnte seine Laune nicht trüben, bis sein Prophone plötzlich vibrierte und er eine Videonachricht von dem jungen Ausländer entdeckte. Besorgt öffnete er schnell die Videonachricht und schloss es plötzlich schnell wieder als ihm klar wurde, was er da vor sich hatte!
Mit einem Mal musste er aus vollem Hals loslachen und schüttelte hilflos den Kopf, während er vor Lachen kaum Stehen konnte.
Bahe… Dieser Teufelskerl!
Teil 1/2! :-)
RiBBoN