In der Stadt angekommen, fiel ihm ein, dass er bisher völlig vergessen hatte, sein neues Artefakt anzulegen. Vor einer Brücke stoppte er und legte sich in einer ruhigen Ecke das Juwel des dritten Auges an. Anfangs hatte es nicht klappen wollen, da es für seinen Kopfumfang viel zu groß war, bis sich Bahe irgendwann mit einer Hand den Juwelen besetzten Teil an die Stirn hielt. Er hatte das Schmuckstück mit der anderen Hand hinter seinem Kopf zusammenbinden wollen, als es plötzlich schrumpfte, sich seiner Kopfform anpasste und von selbst an seinem Hinterkopf verschloss!
Vor Schreck war er zusammen gezuckt und sogar kurz davor gewesen, sich das Juwel des dritten Auges vom Kopf zu reißen.
Nach diesem unerwarteten Vorfall saß das Schmuckstück perfekt. Es drückte nicht, war aber scheinbar fest genug, um nicht durch eine unbeabsichtigte Kopfbewegung von der Stirn zu fallen, wie Bahe feststellte, der mehrmals demonstrativ seinen Kopf geschüttelt hatte.
Ein Gedanke störte ihn aber noch. Sah die Stirnkette vielleicht zu weiblich aus?
Vorsichtig ging er zum Ufer des unter der Brücke verlaufenden Baches und betrachtete sein Spiegelbild.
Natürlich war das Bild ab und an verzerrt und leicht schwammig, die Wirkung kam aber gut genug rüber. Es hatte zwar einen weiblichen Touch, aber Bahe fand, das es ihm stand. Wichtiger war das Problem, dass das Schmuckstück viel zu auffällig war. Solange Bahe damit so offen rum lief, würde jeder sofort wissen, dass es ein Artefakt mit sich trug.
Er überlegte kurz und riss schließlich einen Ärmel von seinem Hemd ab. Noch schlimmer konnte seine Aufmachung sowieso nicht mehr werden. Wenn er hingegen mit einer Mischung aus zerfetzten Lumpen und glänzenden Edelsteinen auf der Stirn umher laufen würde, würde es weit mehr Aufmerksamkeit erregen und das war zum momentanen Zeitpunkt das Letzte was er wollte.
Vorsichtig nahm er das Schmuckstück vom Kopf und faltete im Anschluss den Ärmel drum herum. Danach hielt er sich die nun eingewickelten Edelsteine erneut an die Stirn und zu seinem Glück reagierte die Stirnkette ein weiteres Mal und befestigte sich von selbst im richtigen Maß an seinem Kopf.
Er checkte sein Aussehen anschließend im Bach. Wenn man im Vorbeisehen auf seine Stirn blickte, würde man nichts bemerken, es war lediglich ein altes Stirnband. Sollte ihn jedoch jemand wirklich mustern, könnten die Konturen der Edelsteine unter dem dünnen Stoff auffallen. Na ja, er war vorerst zufrieden.
Das erste Problem gelöst, blickte er auf die halbe Bodenplatte der Holztruhe, die er zum Transport der Tonscherben genutzt hatte und seufzte.
Es war nervig, dass er seinen Speicherstand aufgrund der wichtigen Quest nicht nutzen konnte. Aber die Fähigkeit Identifizieren wurde mit zunehmender Spielzeit viel zu wichtig, als dass er sie sich entgehen lassen konnte.
Entweder wurde er die Tonscherben nun irgendwo los oder er fand einen Platz, an denen er sie vorerst lagern konnte. Er entschied sich es mit der ersten Variante zu versuchen.
Zuerst musste er aber erst mal wissen, worum es sich bei diesen Tonscherben handelte und ob sie überhaupt etwas wert waren.
Glücklicher Weise gab es für solche Gegebenheiten einen speziellen Service des Stadtfürsten, den man für relativ wenig Geld in Anspruch nehmen konnte. Die Fähigkeit Identifizieren brachte ihn bei diesen Gegenständen nicht weiter. Für die meisten gewöhnlichen und die ein oder anderen Artefakte des Bronze-Ranges funktionierte sie. Alles darüber hinaus, setzte jedoch voraus, dass man sich aktiv mit der Fähigkeit auseinander setzte und beispielsweise Sachbücher las oder gar bei einem Gelehrten in die Lehre ging, um sein Allgemeinwissen über Raoie zu erhöhen.
Bahe war immer noch verblüfft, ob der Tatsache, dass man sich wirklich selbst Wissen aneignen musste, um diese Fähigkeit aufzuwerten und nicht zuletzt deshalb hatte er die Bibliothek bereits einmal aufgesucht und beabsichtigte seine Besuche fortzuführen.
Viele Gildenanführer hatten im Angesicht dieser Tatsache große Probleme, weil sie dringend Spieler mit einer guten Identifizierungsfähigkeit brauchten, aber nur wenige Spieler bereit waren, sich ewig mit dem Lesen von Büchern und dergleichen zu beschäftigen.
Die Fähigkeit Überprüfen arbeitete ähnlich, wenn auch auf eine ganz andere Art und Weise. Sie zeigte an, welches Level ein Spieler oder eine Kreatur erreicht hatte, sowie gegebenenfalls die Klasse und über welche Fähigkeiten verfügt wurde. In einem Kampf war es enorm wichtig so viel wie möglich über seinen Gegner zu wissen. Sollte ein Spieler einfach den Gegner anschauen können, um direkt zu wissen, welche Fähigkeiten und welches Level dieser besaß, hatte der Gegner im Grunde keine Chance mehr, sofern der Levelunterschied nicht groß genug war. Deswegen hatte TNL sich hier etwas Besonderes einfallen lassen und die Fähigkeit Überprüfen dem Bereich der Visionärsmagie oder einfacher, der Orakelmagie zugewiesen.
Es gab eine Spezialisierung der Magier, die Orakel, die speziell darauf ausgelegt war, Visionen der Zukunft erhaschen zu können. Für diese Klasse war die Fähigkeit wie geschaffen, da sie sich hauptsächlich mit Geistesmagie und Zukunftsvisionen auseinandersetzte. Natürlich hatte die Orakelklasse auch ihre Nachteile, so waren sie besonders in Einzelkämpfen kaum zu gebrauchen, da alle ihre Startfähigkeiten Zeit für die Aktivierung brauchten, in der sie anderen Spielern oder Kreaturen schutzlos ausgeliefert waren.
Anders klassifizierte Spieler konnten die Fähigkeit Überprüfen zwar durchaus erlernen, konnten sie in der Regel aber nie über das Anfängerstadium hinaus aufwerten, da die benötigte Magierichtung eine zu hohe Spezialisierung erforderte, dass kaum jemand Lust hatte sich ewig mit ihr auseinander setzten zu wollen.
Genau das war der Grund gewesen, weshalb Bahe beschlossen hatte am Ende der fünften Tutorial-Quest die Fähigkeit Identifizieren zu wählen. Wissen über Raoie anzusammeln war für einen Einzelspieler wie ihn sowieso überlebenswichtig. Aufgrund der Bestimmungen der Quest durfte er, während der nächsten zwei Wochen im Spiel, zu keinem Zeitpunkt im Level aufsteigen oder seinen Speichergegenstand nutzen. Für viele Spieler war es die reinste Zeitverschwendung, weshalb sich nur äußerst wenige Spieler damit rumschlugen. Das war ein weiteres Problem für die Gildenanführer.
Mittlerweile gingen die Gilden sogar schon so weit und boten denjenigen, die ihre Identifizierungsfähigkeit außerordentlich hoch gelevelt hatten, ziemlich große und vor allem dauerhafte, finanzielle Anreize ihrer Gilde beizutreten.
Bahe hatte die Möglichkeit auf diese Art Geld zu verdienen bereits ernsthaft erwogen, für die nähere Zeit jedoch vorerst verworfen. Um seine Identifizierungsfähigkeit hoch zu leveln, würde er schlicht weg Zeit brauchen. Es brachte nichts, sich im Moment mit solchen Was-wäre-wenn-Fragen auseinander zu setzten.
Während er seinen Gedanken freien Lauf gelassen hatte, war er bereits zum Gildehaus der landeseigenen Abenteurergilde gelaufen. Zwei Straßen vom Magierturm entfernt, erstreckte sich ein Gebäudekomplex über vier dreistöckige Häuser und einer Arena, die zusammen das hiesige Zentrum der Abenteurergilde bildeten.
Ein Haus je für die Identifizierung von unbekannten Gegenständen jeglicher Art, für das Beitreten der Gilde, für die Questgesuche, für die Gildenbürokratie und schlussendlich die Arena für Duelle und anderweitige Arenakämpfe.
Zu seinem Glück waren die Häuser entsprechend ausgeschildert und er fand relativ schnell seinen Weg zum Dienst für die Identifizierung von Gegenständen. Er reihte sich in eine der Schlangen ein und wartete bis er dran kam. Anschließend wurde er in einen separaten Durchgangsraum geführt, der mit einem hölzernen Tisch und drei einfachen Holzstühlen recht spärlich eingerichtet war.
Zwei der Stühle waren bereits besetzt. Ein älterer Herr mit den ersten grauen Strähnen im gut gestutztem Vollbart und einfacher, aber sauber gehaltener Kleidung saß auf dem einen Stuhl, während der Zweite von einem Jungen von kaum vierzehn Jahren vereinnahmt wurde. Offensichtlich ein Meister seines Fachs und sein Lehrling. Sie verhielten sich professionell und kommentierten in keinster Weise Bahes Äußeres. Bahe hatte sich, ob seiner Lumpen schon Sorgen gemacht überhaupt vorgelassen zu werden.
„Willkommen bei der Abenteurergilde“, sagte der Lehrling mit leicht nasaler Stimme und breitete auf den Tisch zeigend die Hände aus. „Bitte legen Sie die zu identifizierenden Gegenstände auf den Tisch. Unser Service kostet sie zehn Kupfermünzen für Gegenstände des Ranges Gewöhnlich und Bronze. Bis Gold verlangen wir für jeden weiteren Rang je fünf Kupfermünzen mehr. Bitte beachten Sie, dass wir für Gegenstände darüber hinaus Sondergebühren berechnen, die vom individuellen Gegenstand abhängig sind.“
Bahe nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte und legte seine Tonscherben auf den Tisch. Den Preis von zehn Kupfermünzen konnte er sich seit dem Silbermünzenfund leisten. Andernfalls hätte er durchaus länger überlegen müssen. Dennoch war es ihm lieber etwas Geld zu investieren, bevor er unwissentlich etwas Wertvolles weg warf.
Der ältere Mann zog beim Anblick der Scherben die Augenbrauen hoch und meinte trocken: „Es passiert auch nicht alle Tage, dass mir jemand zerbrochene Tonscherben vorlegt.“
Anschließend hantierte er ein paar Augenblicke mit den Scherben, drehte sie um und betrachtete sie teils unter einer Lupe. Er öffnete schon seinen Mund, als er plötzlich inne hielt und irgendetwas murmelte. Ein weicher Lichtschein erhob sich um die Tonscherben herum und ließ Bahe hoffen, dass die Scherben vielleicht doch etwas wert waren.
Das sanfte Leuchten ebbte ab und ließ den Meister mit einem Stirnrunzeln zurück.
Bahe schwieg, auch wenn er innerlich vor Ungeduld kaum noch abwarten konnte. Dann fragte der ältere Mann seinen Schüler: „Was hältst du von den Scherben?“
Der Lehrling blickte überrascht auf und sagte dann mit ernster Miene: „Auf den ersten Blick sind es einfache Tonscherben, nichts Besonderes. Es sind keine besonderen Zeichen oder Symbole eingraviert, wenn ich mich nicht irre, handelt es sich vielmehr um die Darstellung einer Kampfszene, präziser einer Abwehrschlacht. Aber die Tatsache, dass Ihr gerade den Spruch der Überrestmagie benutzt habt…“
Der Meister brachte seinen Lehrling mit einem Handzeichen zum Schweigen und lächelte.
„Du machst dich langsam, bleib weiter so aufmerksam“, an Bahe gewandt fuhr er fort. „Euer Gegenstand lässt sich nicht eindeutig klassifizieren. Einzeln betrachtet entsprechen die Gegenstände dem Rang Gewöhnlich. Sieht man sie als Ganzes, muss ich, aufgrund der Gegebenheiten des Gegenstandes, den Betrag für im Rang Gold eingeordnete Gegenstände einfordern. Seid Ihr bereit zwanzig Kupfermünzen für die Informationen zu bezahlen?“
Bahe schluckte. Er hatte vielleicht mit dem Silberrang und entsprechenden fünfzehn Kupfermünzen gerechnet, aber zwanzig?
Nach kurzem Überlegen, wobei er netter Weise von den beiden Bediensteten nicht gestört wurde, antwortete er zähneknirschend: „Ich werde die zwanzig Kupfermünzen bezahlen.“
Der Meiser nickte und erläuterte dann: „Mein Schüler hat es schon angedeutet, ich habe einen Zauber genutzt, der die Scherben auf Magieüberreste hin überprüft hat. Das Ergebnis ist insofern interessant, dass sie selbst nie magisch waren, aber dennoch Spuren von Mana in sich tragen. In Verbindung mit dem dargestellten Bildnis sollte schnell klar werden, warum ich den Gegenstand zum Goldrang erhoben habe.“
„Die Abwehrschlacht…?“, Bahe zuckte nur fragend die Schultern.
„Ich sehe schon, vermutlich habe ich über meine Berufung zu sehr voraus gegriffen“, bemerkte der ältere Mann lächelnd.
„Fangen wir anders an“, erklärte der Meister und deutete auf die Tonscherben. „Die Scherben an sich sind Bruchstücke, richtig?“
„Sicher“, antwortete Bahe immer noch verwirrt, worauf der Mann hinaus wollte.
„Falsch“, grinste der Ältere. „Die Tonscherben sollen nur wie Bruchstücke aussehen.“
„Was…“, staunte Bahe.
„Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass die Scherben zur Unterseite, auf der kein Bildnis zu sehen ist, schräg abfallen“, führte er seine Ausführungen fort. „Nicht sonderlich stark, dass gebe ich zu, aber genug, um von der Annahme auszugehen, dass es kein Zufall ist. Außerdem ist auf der Unterseite in jede Scherbe eine Metallfassung eingelassen, die größtenteils von Ton überzogen sind. Man sieht sie nur bei genauem Hinsehen. In Anbetracht des schlechteren Materials, welches nur an diesen Stellen Verwendung fand, liegt die Vermutung nahe, dass die Fassungen im Nachhinein absichtlich unkenntlich gemacht werden sollten.“
Bahe konnte kaum glauben, was man nicht alles in ein paar Augenblicken aus solchen Gegenständen lesen konnte. Er fragte sich langsam, ob der Meister nicht vielleicht noch ein paar andere Zauber angewandt hatte, von denen er nichts mitbekommen hatte.
„Dazu kommt noch das Bildnis, was die ganze Sache eindeutig macht“, fuhr der Mann unbeirrbar fort. „Schaut man sich die Einzelteile genau an, fällt auf, dass es genau sechs Stücke gibt. Alle anderen Teile sind höchst wahrscheinlich wahllose Bruchstücke, die man zur Verschleierung des eigentlichen Geheimnisses benutzt hat. Diese sechs Stücke bilden, wie schon gesagt eine Abwehrschlacht ab und man erkennt an der Abbildung, dass sie in zwei Dreierreihen übereinander angeordnet werden müssen. Sie besitzen also sechs Einzelteile mit Fassungen und im Bildnis ist der Hinweis darauf versteckt, wie sie anzuordnen sind. Verstehen Sie jetzt worauf ich hinaus will?“
Langsam dämmerte es Bahe.
„Eine Scherbe allein ist nichts wert. Aber Alle zusammen scheinen ein Schlüssel zu sein“, sprach der Meister aus, was Bahe inzwischen klar geworden war. „Deswegen musste ich den Preis erhöhen, da gefundene Schlüssel allgemeinhin mit der Möglichkeit verbunden sind, Schätze eines höheren Ranges zu finden und somit dem Gold-Rang zugeordnet werden.“
Bahe nickte verstehend.
„Meine Vermutung ist, dass es sich um die letzte Ruhestätte einer früher berühmten Persönlichkeit handelt. Um wen es sich jedoch handeln könnte, kann ich Ihnen nicht sagen, da hätten Sie bei einem der Bibliothekaren oder Gelehrten mehr Glück. Der Schlüssel an sich ist nicht magisch, es ist aber nicht auszuschließen, dass der Rest des Schlosses magisch ist. Vermutlich stammen davon die Manarückstände. Es könnte aber natürlich auch eine magische Falle sein. Mehr kann ich Ihnen an dieser Stelle nicht sagen.“
„Kein Problem, es ist mehr als ich erwartet habe“, antwortete Bahe.
„Wenn Sie kein weiteres Interesse an diesem Schlüssel haben, würde ich an dieser Stelle gerne die Gilde der Abenteurer repräsentieren und Ihnen den Schlüssel für dreißig Kupfermünzen abkaufen.“
„Nur dreißig? Gerade sagten Sie noch, dass durchaus die Chance bestehen würde, dort höherrangigere Artefakte zu finden?“
„Wohl war“, bemerkte der Meister ernst. „Sie müssen jedoch verstehen, dass es zum Einen keinerlei Zusicherung gibt, dass dies auch wirklich der Fall ist und zum Anderen, wissen wir im Moment noch nicht mal ansatzweise wo wir nach dem Schloss suchen müssen. Es könnte Jahre dauern, ehe wir auch nur eine Spur davon haben, wohin man die Suche lenken sollte. Schlussendlich bleibt es selbstverständlich Ihr gutes Recht, den Schlüssel zu behalten.“
„Ich weiß es nicht…“, sagte Bahe nach reiflicher Überlegung. „Wäre es möglich den Schlüssel gegebenenfalls auch später noch an Sie zu verkaufen?“
„Natürlich und ich versichere Ihnen, der Preis wird nicht unter die dreißig Kupfermünzen sinken. Den Vorteil haben Sie bei unserer landesübergreifenden Organisation“, erklärte der Meister stolz.
„Vielen Dank“, sagte Bahe und wickelte mit dem Lehrling noch schnell die Bezahlung für die in Anspruch genommen Dienste ab, ehe dieser ihn durch eine Tür auf der anderen Seite aus den Raum führte.
Scheinbar hatte er sich soeben eine weitere Sache aufgeladen, um die er sich in der Bibliothek kümmern musste.