Als Eras die Türflügel hinter Bahe schloss, hörte er seinen Lehrmeister fragen: „Ein ungewöhnliches Stück, nicht wahr?“
Eras verzog misstrauisch die Miene. Es war äußerst selten geworden, solche Worte von seinem Meister zu hören.
„Was meint Ihr, Meister?“
„Diese Abbildung… Irgendwo habe ich sowas Ähnliches schon mal gesehen. Es ist aber verdammt lange her.“
„Glaubt Ihr, dass es sich für den Bettler lohnen wird, diesen Schlüssel behalten zu haben?“
Zu Eras Erstaunen fing sein Meister daraufhin an zu lachen.
„Was ist Meister?“
„Bettler, ja? Was Gegenstände betrifft ist deine Auffassungsgabe bereits bemerkenswert, bei ihren menschlichen Besitzern hast du aber auf jeden Fall noch Übungsbedarf“, schüttelte sein Lehrmeister lächelnd den Kopf.
Eras verzog mürrisch das Gesicht und wollte sich gerade verteidigen, als sein Meister auch schon fortfuhr.
„Sicherlich war sein Erscheinungsbild alles andere als passabel, aber welcher Bettler würde jemals zwanzig Kupfermünzen bezahlen, um ein paar augenscheinlich wertlose Tonscherben klassifizieren zu lassen?“
Nun, wenn man es so betrachtete, musste Eras ihm zustimmen.
„Außerdem habe ich eine Präsenz um ihn herum gespürt… Eine äußerst alte Präsenz, bei der mir gar nicht wohl ist, dass sie wieder in der Welt ist… Dieser junge Mann ist weit mehr als er auf den ersten Blick vermuten lässt“, bemerkte sein Lehrmeister grimmig.
Eras hingegen war sprachlos. Er hatte seinen Meister noch nie so erlebt.
In den Kreisen der Gelehrten genoss sein Meister Teleos Tanderton den größten Respekt, den man sich vorstellen konnte, doch niemand konnte so recht sagen, von wo er stammte und wie er sich sein unglaubliches Wissen angeeignet hatte.
Was viele nicht wussten, war die Tatsache, dass er bei besonders schwierigen Fragen schon mehrmals vom Fürsten Waldenstadts um Rat gefragt worden war. Nicht zuletzt deshalb genoss er unter den Gutachtern Waldenstadts eine Sonderstellung.
Eras konnte sich noch genau erinnern, wie seine Eltern vor Freude wortwörtlich in die Luft gesprungen waren, als sie die Zustimmung von seinem Lehrmeister erhalten hatten, dass er ihn als Lehrling annahm.
„Ah!“, rief sein Meister plötzlich laut aus und schreckte Eras aus seinen Gedanken. „Jetzt weiß ich wieder, wo ich ähnliche Abbildungen schon mal gesehen habe! Aber… das kann nicht sein…“
Für einen Moment beobachtete Eras verblüfft wie sein Meister einfach verstummte.
Mit einem Quietschen öffnete sich derweil die Tür zum Wartebereich und Emma, eine Bedienstete, steckte den Kopf herein: „Kann ich die nächste Person rein schicken?“
„Ähm…“, Eras wollte schon etwas erwidern, als sein Lehrmeister irgendwas zu murmeln begann.
„…gefährlich… die Tore des Schlächters… ich muss Tharnatos sprechen… Hoffentlich irre ich mich…“, plötzlich riss er den Kopf hoch und rief laut: „Eras, Emma, alle weiteren Klassifizierungen werden für heute ausgesetzt! Ich muss sofort verreisen, bitte bestellt dem hiesigen Gildenoberhaupt meine Grüße und erklärt ihm, dass ich frühestens in einer Woche wieder zur Verfügung stehen werde!“
Danach knallte die hintere Tür auf und Eras bekam riesengroße Augen, als sich sein Lehrmeister vor seinen Augen in Luft auflöste!
Lange Zeit blieb es still, bis Emma irgendwann die Stille durchbrach.
„Was… was… war DAS denn?!“, fragte sie vollkommen verblüfft, während sie den Kopf noch immer nur halb durch die Tür gesteckt hatte.
Eras Augen leuchteten hingegen. Ganz egal, was DAS gewesen war, eins war für ihn klar. Er wollte es auch können!
Seufzend trat Bahe wieder auf die Straße. Es wurmte ihn, dass er die zwanzig Kupfermünzen vorerst umsonst ausgegeben hatte…
Vielleicht hätte er sich besser gedulden und die Tonscherben später identifizieren lassen sollen. Im Moment brachten ihn die neuen Erkenntnisse nicht weiter. Selbst, wenn er in den nächsten Tagen raus bekäme, wo sich dieses Schloss befand, zu dem er scheinbar den Schlüssel besaß, würde er dort mit seinen aktuellen Fähigkeiten nicht allzu weit kommen.
Genervt schaute er auf den Boden der Holztruhe, auf der er noch immer die Scherben durch die Gegend trug. Vorerst blieb ihm nichts anderes übrig, als die Dinger mit sich zu schleppen.
Missmutig machte er sich auf zum Trainingsgelände, es wurde Zeit das Bogenschießen zu üben.
Zwei Stunden später ließ er keuchend die Arme sinken. Er war inzwischen bei achthundert Schüssen angekommen. Da er sie wechselseitig durchführte, hatte er also gerade mal vierhundert Schuss pro Seite… Ihm fehlten immer noch tausendzweihundert weitere Versuche bis er die erste Bedingung der ersten Tutorial-Quest erfüllt hatte.
Wenigstens hatten sich seine Attribute bei der ganzen Aktion nochmal verbessert, dachte Bahe erleichtert. Nicht nur sein Kraftwert war um einen Punkt angestiegen, auch seine Widerstandsfähigkeit, Willensstärke und Konzentration.
Er wollte seinen Übungsbogen und die Pfeile gerade wegbringen, als sein Ausbilder Fenrir auftauchte, der merkwürdig gute Laune hatte.
„Guten Tag Anael, wie geht es dir?“, fragte er lächelnd.
„Gut…“, antwortete Bahe zögerlich. Fenrirs Lächeln wirkte seltsam beängstigend.
„Heute beginnen wir mit deinem Training!“, rief Fenrir begeistert und Bahe schwante augenblicklich Böses.
„Was ist die absolute Grundlage eines jeden Bogenschützen, Anael?“
„Ähm…“
„Ausdauer!“, rief Fenrir, ohne Bahe Zeit zu lassen zu antworten. „Du wirst jetzt als erstes, ein Mal, außerhalb der Mauern um die gesamte Stadt laufen. Du hast dafür maximal eineinhalb Stunden Zeit. Solltest du das nicht schaffen, kannst du mit den zweitausend Schüssen von vorne anfangen!“
„Was?!“, rutschte Bahe der entsetzte Aufschrei hinaus.
„Ich, an deiner Stelle, würde lieber die Beine in die Hand nehmen…“, zuckte Fenrir nonchalant die Schultern und zwinkerte ihm zu.
Bahe brauchte noch einen Moment, um die ganze Situation zu verdauen, ehe er schleunigst zum nächsten Stadttor lief.
„Ah! Und komm bloß nicht auf den Gedanken hier wieder aufzutauchen, ehe du die komplette Runde nicht geschafft hast!“, schrie ihm Fenrir noch hinterher.
„…“, Bahe war sprachlos.
Was zum Henker hatte er bloß getan, um so etwas zu verdienen?!
Einmal sollte er innerhalb von eineinhalb Stunden, um die Stadt herum laufen? Der Umfang von Waldenstadt betrug doch bestimmt mehr als zwölf Kilometer! Wie sollte das zu schaffen sein?!
„Verdammte Scheiße!“, fluchte er.
Wie ein Wahnsinniger rannte er in den folgenden Minuten drauf los und ignorierte alle Blicke die irritiert in seine Richtung geworfen wurden.
Es gab für Spielanfänger keinerlei Zeitmessung, was es Bahe erheblich erschwerte einzuschätzen, wie schnell er unterwegs war, geschweige denn wie viel Zeit er noch hatte. Die Uhrfunktion, die beim Einloggen für das Charakterprofil angeboten wurde, war im Grunde nur ein Timer, der den Countdown zum automatischen Logout darstellte. Außerdem müsste man dafür ununterbrochen das Fenster des Charakterprofils offen lassen, was ihn einfach zu sehr irritierte.
Irgendwann schleppte sich Bahe nur noch am Ende seiner Kräfte vorwärts und verfluchte jeden der Schritte, die er gezwungen war zu absolvieren.
Vollkommen entkräftet kam er schließlich wieder am Trainingsgelände an, wo Fenrir schon auf ihn wartete und sackte erschöpft auf dem Boden zusammen.
„Leider zu spät, Anael. Du hast zwei einhalb Stunden gebraucht. Da du fast doppelt solange, wie gefordert, gebraucht hast, wirst du bei den zweitausend Schüssen nicht einfach von vorne anfangen. Stattdessen bekommst du noch zweitausend Schüsse oben drauf, die du zusätzlich zu den noch abzuleistenden Schüssen absolvieren musst. Hast du mich verstanden?“
Bahe nickte nur apathisch.
„Morgen wartet Krafttraining auf dich und Übermorgen wirst du wieder laufen. Bis du zwei Runden in der Zeit schaffst. Solltest du deine Ziele in den nächsten Tagen nicht erfüllen, werden jedes Mal weiter zweitausend Schuss dazu kommen, klar?“
„Das…“, wollte Bahe seinem Groll Luft verschaffen, doch Fenrir schnitt ihm das Wort ab.
„Willst du dich etwa beschweren?!“, fragte er mit grimmiger Miene.
„Ähm… nein“, sagte Bahe lieber schnell, ehe er sich noch mehr Strafschüsse einhandelte.
„Gut so! Aber tausend Extraschüsse dafür, dass du es versuchen wolltest!“, rief Fenrir streng und verschwand danach in Richtung Waffenkammer.
Bahe war einer Ohnmacht nahe.
Er checkte kurz den Questbereich in seinem Charakterprofil und stellte fest, dass sich die Schussanzahl von tausendzweihundert auf viertausendzweihundert erhöht hatte. Es war alles so gut gelaufen…
Jetzt würde er ewig für die Quest brauchen…
Stinksauer und völlig entkräftet, raffte er sich irgendwann auf, versteckte seine Tonscherben zwischen den Heuhaufen einer Zielscheibe und aktivierte eine der beiden Tutorial-Quests, die noch übrig waren.
Egal welche Rückschläge er erlitt, im Moment war es wichtig, dass er an seine nächsten geplanten Schritte dachte.
Tutorial IV: Berufe erwerben
Wie in jedem Online-Rollenspiel gibt es auch in Raoie verschiedene Berufsklassen denen Sie nachgehen können. Jeder Beruf bringt seine individuellen Fähigkeiten mit sich, die keine andere Berufsklasse hat.
Es gibt 10 Oberkategorien, die an jedem Anfangspunkt zur Verfügung stehen:
Bauern
Händler
Handwerker
Jäger/Fischer
Spielleute
Magier
Priester
Diebe
Nahkämpfer
Fernkämpfer
Desweiteren gibt es noch Spezialisierungen dieser Berufe, die entweder sofort vor Ort bereits gewählt werden können oder deren Vorkommen durch die Welt von Raoie bestimmt werden.
Jede Berufsklasse besitzt zudem einen Berufsstatus, der den Grad der Meisterung der klasseneigen Fähigkeiten beschreibt.
Tutorial-Quest!
Da Sie inzwischen wissen sollten wie man sich gegen Monster erwehrt und wie man den eigenen Speichergegenstand nutzt, können Sie zum nächsten Schritt übergehen.
Suchen Sie das Gasthaus zum platzenden Hirsch am Marktplatz im südlichen Teil der Stadt auf und sprechen Sie den Wirt darauf an, ob er immer noch frische Wildwurzelkaninchen für das Abendessen gebrauchen kann.
Natürlich wieder ein Gasthaus. Aber von diesem wusste er wenigstens wo es sich befand. So hungrig wie er war, war er für einen Moment versucht, sich dort etwas zu essen zu bestellen, entschied dann aber doch erst mal seine spärlichen Vorräte zu verspeisen. Ab Morgen würde er sich sowieso etwas kaufen müssen, aber vorerst war es besser seine vorhandenen Nahrungsmittel nicht schlecht werden zu lassen.
Nachdem Essen fühlte er sich schon etwas besser und ging diesmal ruhigen Schrittes zum vorgeschriebenen Ort. Schneller war es mit seinen verkrampften Beinen einfach nicht machbar.
Der Wirt hieß Marko und saß Bahe zwanzig Minuten später gegenüber.
So erschöpft wie er war, hatte Bahe für den Weg doppelt so lange gebraucht, wie normaler Weise.
„Nun, ich sag’s dir gleich, du bist nicht das erste Klappergestell, das ich erblicke. Alle haben von mir immer nur ein paar Kupfermünzen und etwas zu essen bekommen. Diejenigen, die sich gut gemacht haben, habe ich an für einen anständigen Beruf empfohlen. Das war es aber auch schon, Grünschnabel. Wenn dir das nicht reicht, kommen wir nicht ins Geschäft. Oh und bevor ich es vergesse, die Bezahlung hängt von der Anzahl und Qualität der Wildwurzelkaninchen ab“, erklärte sich der Wirt.
„Das ist überhaupt kein Problem“, beschwichtigte Bahe.
„Nun gut, bring mir bis zum Abend 7 Wildwurzelkaninchen und wir sehen weiter.“
Tutorial-Quest!
Der Wirt Marko braucht bis zum Abend 7 Wildwurzelkaninchen. Bring sie ihm und er wird darüber nachdenken dich längerfristig anzustellen.
„Ähm…“, druckste Bahe leicht verlegen rum.
„Was ist denn noch?“, verdrehte der Wirt die Augen, offensichtlich bereute er es bereits, sich mit einem so abgehalfterten jungen Mann eingelassen zu haben.
„Wäre es möglich, dass ihr mir ein Messer für die Jagd leiht?“
Der Wirt schaute ihn eine Sekunde lang an, ehe er lauthals zu lachen begann.
„Du glaubst allen Ernstes, dass du ein gutes Messer von mir bekommst, nur um anschließend damit zu verschwinden? Träum weiter!“
Bahe schluckte seinen Groll hinunter und sagte beim Verlassen des Gasthauses: „Erwartet mich heute Abend zurück.“
Der Wirt schüttelte nur den Kopf.