Der Wecker seines Smartphones riss Bahe unsanft aus dem Schlaf. Er stand schon halb, als er bemerkte, dass er sich bei seinen Großeltern zu Hause befand.
Das merkwürdige Gefühl von Irritation, wenn er hier aufwachte, war noch nicht verschwunden. Aber viel merkwürdiger war die Tatsache, dass er noch immer das Gefühl hatte, etwas unternehmen zu müssen. Es war so ungewohnt nicht mit deprimierenden Gedanken aufzuwachen…
Musste er Geld verdienen?
Nein!
Musste er eine Lösung für die Behandlung seiner Mutter finden?
Auch das nicht…
Sich über sich selbst wundert, stand Bahe vor dem Dimensional Leap-System und wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte. So merkwürdig…
Drei Tage waren vergangen, seit die Operation seiner Mutter erfolgreich verlaufen war. Schon morgen sollte sie entlassen werden. Natürlich unter der Bedingung, dass sie täglich für ihre Check-Ups und Reha-Behandlungen vorbei kam.
Aber seine kleinen Geschwister freuten sich trotzdem schon seit Montag auf den morgigen Tag. Ein großes Festmahl mit all ihren Lieblingsspeisen sollte es geben. Bahe dachte amüsiert daran, dass dieses Essen vielmehr eine Geste für die Kleinen war als für seine Mutter, da sie noch darauf achten musste, was sie essen durfte. Die Ärzte hatten sie ausdrücklich auf die, vorübergehend erhöhte, Gefahr von Blutgerinnseln aufmerksam gemacht, die durch besonders fettige oder ungesunde Ernährung begünstigt werden konnten.
Daher war Bahes Großmutter seit zwei Tagen damit beschäftigt alles Mögliche an gesundheitsfördernden Zutaten aufzutreiben. Im Anblick der Fischköpfe, Gallenblasen verschiedenster Tiere und anderer exotischer Zutaten, an die sich Bahe, dank seiner europäischen Herkunft, noch immer nicht gewöhnen konnte, hatte er schließlich Reißaus genommen und seinen Großvater gebeten, der sich zu Hause eh nur langweilte, an seiner Statt mit ihr einkaufen zu gehen.
Er hatte die Zeit genutzt, um sich vormittags wieder beim Chin-Anwesen einzufinden und dort vor der Haustür nieder zu knien.
Bahe war klar, dass er auf ein Wunder hoffte, so unregelmäßig wie er dort zugegen war. Aber besser als gar nicht, oder?
Egal, wie sich der Mann letztlich entschied, er wollte wenigstens für sich sagen können, dass er alles versucht hatte.
Nachmittags saß er dann meistens mit seinen Geschwistern bei seiner Mutter, bis sie sich für das Abendessen auf den Weg nach Hause machten.
Am Sonntagabend hatten sie zufällig einen kurzen Live-Bericht über Anaels offizielles Verlassen von Dreamworld im Fernsehen gesehen. Doch der Bericht war so kurz ausgefallen, dass sich Bahe wirklich wunderte, dass sie ihm damals 7 500Yuan für die zweiminütige Erwähnung im Fernsehen gezahlt hatten. Aber umso unscheinbarer umso besser für ihn, dachte er. Er würde eh noch einmal ordentlich im Rampenlicht stehen.
Für den Montag der nächsten Woche war eine neue Pressekonferenz der Chen Law-Firm angesetzt, bei der er sich offiziell für den wunderbaren Einsatz seines Wohltäter Bei En Rui bedanken sollte…
Wenn Han Nings Job nicht davon abhing, dass er hin ging, hätte er vermutlich versucht, das Ganze irgendwie zu umgehen… Vor allem jetzt, da er seine Schulzeit wieder antreten sollte.
Bahe wollte gar nicht daran denken, wie seine Klasse reagieren würde, wenn sie von der Sache Wind bekamen.
Aber genau, das war es! Heute sollte er zum ersten Mal wieder zur Schule!
Endlich den richtigen Gedanken gefunden, machte er sich sofort auf den Weg ins Bad, um sich fertig zu machen.
Fünfzehn Minuten später schlüpfte er in die Schuluniform der Sun Jingse Schule und betrachtete sich im Spiegel. Die deutsche Übersetzung des Namens der Schule hieß so viel wie Sonnenlandschaft. Passender Weise waren die Uniformen daher in Gelb- und Rottönen gehalten. Für chinesische Verhältnisse sehr bedeutsame Farben, die unter anderem auch die Nationalflagge zierten.
Dennoch, so wirklich wollten ihm die Farben nicht stehen.
Natürlich hatte es auch damit zu tun, dass seine Uniform locker zwei Nummern zu groß wirkte. Aber das war tatsächlich noch immer so von der Regierung beabsichtigt. Jogginganzüge sollten es sein, denn sie waren bequem und im Idealfall in sackartigem Zustand, damit sich niemand wegen seinem Gewicht oder dergleichen gehänselt fühlte.
Unzählige Schülerinnen und Schüler hatten sich bereits gefragt, wie lange diese Führungspersönlichkeiten schon nicht mehr bei klarem Verstand seien.
Fragte man einen Einheimischen nach einer wichtigen Sache die in seinem Land geändert werden sollte, so war bis heute noch stets von den Schuluniformen die Rede.
Im Hier und Jetzt konnte Bahe zumindest feststellen, dass die dunklen Schatten unter seinen Augen verschwunden waren. Die hervor stehenden Wangenknochen stachen aber in Anbetracht der weiten Kleidung noch besonders hervor. Er wirkte ausgezehrt und spindeldürr in dem Zelt der Schuluniform.
Am Montag hatte ihn seine Großmutter gemessen, damit sie wussten, welche Größe sie bestellen sollten. Er war mit seinen 1,62m nicht nur für deutsche Verhältnisse klein. Bahe hoffte wirklich, dass er noch einmal einen Wachstumsschub bekam…
Seine Haare hatte er sich in einen lockeren Scheitel gekämmt. Gel und Haarspray war zwar durchaus erlaubt, aber bei den Lehrern kam ein naturbelassenes Äußeres als erster Eindruck meistens besser an.
Zumal er ja sowieso schon mit seinen blonden Haaren auffallen würde. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er Europäer war. Bahe rechnete fest damit für die nächsten Wochen die Klassenattraktion schlecht hin zu sein. Wann begegnete ein Durchschnittschinese schon mal einem Deutschen im eigenen Land?
Oh, seine Klassenkameraden würden was zu erzählen haben…
Wenn Bahe etwas mochte, dann waren es seine Augen. Die fielen mit dem dunklen Braun wenigstens nicht weiter auf.
Seufzend drehte er sich noch ein, zwei Mal und nickte schließlich sich seinem Schicksal ergebend. Das gute Aussehen seines Vaters hatte er mit solch geringer Größe und den hageren Zügen wohl irgendwo liegen lassen.
Im Anschluss frühstückte er noch schnell und machte sich auf zur Schule. Sein Großvater hatte ihm gestern bereits den stellvertretenen Schulleiter vorgestellt und mit ihm zusammen alle organisatorischen Aspekte geregelt.
Bücher gab es keine. Bahe hatte stattdessen ein Tablett bekommen, welches er im Rucksack mit sich führte. Dort waren alle Schulbücher in digitaler Form gespeichert. Doch soweit er wusste, brauchten sie das Tablett lediglich als Speichermedium, da sie vor Ort die modernen, dreidimensionalen Visualisierungsflächen hatten, die Bahe bisher nie sein Eigentum nennen durfte. Er war gespannt, wie er mit dem Zeug klar kommen würde.
Pünktlich um zehn vor acht kam er am Schulkomplex an und betrat mit hunderten anderer Schüler das Gelände. Man merkte, dass die Schule über finanzielle Mittel verfügte, da an vielen Stellen grüne Bereiche mit reichlich Bepflanzung eingerichtet worden waren.
Die Schüler hielten sich hier jedoch gar nicht auf. Mit schnellen Schritten und munteren Unterhaltungen suchten sie alle ihre Klassenräume auf, um ja nicht unpünktlich zu sein.
Bereits vor Jahrzehnten waren die Schuluniformen mit Identifikations- und Ortungschip ausgestattet worden. Diese Methode zur Überwachung hatte sich bis heute gehalten. Die Folge war natürlich, dass es so gut wie nie Schüler gab, die noch zu spät kamen oder gar schwänzten. Was sollte man schon machen, wenn nicht nur die Lehrer sondern auch gleichzeitig die Eltern auf ihren Prophones sehen konnten, wenn man sich hier etwas erlaubte?
Bahe ließ sich absichtlich etwas Zeit, um die Schülermassen an sich vorbei ziehen zu lassen, bis er schließlich kurz vor seinem Klassenraum zum Stehen kam.
Den Lehrer der ersten Stunde hatte er gerade herein treten sehen. Er sollte sich wirklich nicht mehr Zeit lassen, dachte er seltsam nervös.
Mit einem tiefen Atemzug öffnete er schließlich die Tür und trat ein.