„Oh ja! Willst du dich auch umbringen?“
„Hä? Bitte was?“
„Ja, immerhin würdest du ihnen so die Freude nehmen dich selbst zu töten“, erklärte sich Limona.
„…“, Bahe starrte sie missmutig an.
„Wenn das nicht dein Plan ist, wüsste ich gerne, wie du es ihnen heimzahlen willst…?“
„Wieso beteiligst du dich nicht ausnahmsweise mal am Kampf, Limona?“
„Ich soll kämpfen?“, lachte Limona laut auf.
„Ja, schließlich sollten diese miesen Menschen doch kein Problem für dich darstellen, oder?“
„In der Tat, dass tun sie nicht!“, nickte Limona zustimmend und fragte: „Aber wieso ist das mein Problem?“
„Wolltest du dich nicht gerade noch um diese Idioten kümmern?“
„Mein Wortlaut sagte, wir müssen uns noch um diese Typen kümmern“, erläuterte sie hochnäsig. „Was letztendlich heißt, dass du das für mich erledigen kannst. Wieso sollte ich also einen Finger rühren…?“
Bahe seufzte. Was musste er nur tun, um Limona zum Kämpfen bewegen zu können?
„Limona… Gerade hast du mir noch gesagt, dass du nicht weißt, wie ich eine Chance in diesem Chaos haben sollte, aber helfen willst du mir auch nicht? Manchmal frage ich mich, wofür ein Seelenbund zwischen uns besteht… Noch dazu war es dein Wunsch es diesen Idioten heimzuzahlen…“, kopfschüttelnd wandte er sich von seiner Elementarin ab und brachte ein paar Schritte zwischen sich und dem Waldrand.
„Wag es nicht enttäuscht von mir zu sein!“, erklang es hinter ihm zornig.
„Sag bloß, dass es doch etwas gibt, was dir sauer aufstößt…?“, sagte Bahe spöttisch und bemerkte wie Limona vor Wut regelrecht rot anlief.
„Du hast doch keine Ahnung, wie es uns geht!“, rief Limona mit trotzig und stampfte mit dem linken Fuß auf.
„Ach, und wie geht es dir?“, fragte Bahe diesmal entschlossen nicht klein bei zu geben, ganz egal auf welch Tiefpunkt die Treue seiner Elementarin fallen würde. „Ihr habt Spaß euch über mich lustig zu machen und bis auf wenige Momente, seid ihr ansonsten vollkommen nutzlos. Ah… fast hätte ich es vergessen… Brocken war immer derjenige der hilfreich war. Du hast mir noch nicht ein einziges Mal zur Seite gestanden. So wie ich das sehe, versuche ich ständig euch alles recht zu machen, aber was bekomme ich im Gegenzug? Beleidigungen und Späße auf meine Kosten! Hilfe? Fehlanzeige!“
Bahe steigerte sich im Laufe seines Vortrags immer mehr in Rage, bis er Limona zum Schluss förmlich anschrie.
Doch die Reaktion Limonas überraschte ihn.
Limona zitterte am ganzen Körper. Unterdrückte Wut und noch etwas anderes schien sich auf ihrem Gesicht abzuzeichnen. Tränen brannten in ihren Augen, die sich plötzlich ihren Weg über Limonas Wangen bahnten.
„Was weißt du denn schon?!“, machte sie ihrer Wut Luft. „Selbst wenn wir wollten, könnten wir dir nicht helfen! Du siehst uns doch nur als Waffen, auf die du jederzeit Zugriff haben solltest. Stell dir vor, wir haben auch Gefühle! Selbst Brocken, dieser Esel von einem Felsen, der so langsam im Geiste ist, dass er es trotzdem noch mit dir versuchen will! Aber interessiert es dich woher wir kommen? Wieso… Wieso wir bei dir sind? Du… Du hast uns nicht einmal gefragt! Stattdessen… behandelst du uns… wie Sklaven und erwartest Tag ein Tag aus, dass wir dir helfen!“
Ihr Vortrag endete in heftigen Schluchzern, während ihre Schultern wie wild hin und her bebten. Ihre kleinen durchscheinbaren Hände bedeckten ihr Gesicht und versuchten die Tränen zu verbergen, die ihr inzwischen wie kleine Flüsse von den Wangen tropften.
Was folgte war betretenes Schweigen... wenn man mal von dem Durcheinander auf der Wiesenmitte absah…
Schließlich fand sich Bahe neben seiner Elementarin wieder, wie er ihr sanft den kleinen Kopf streichelte und fragte sich wirklich wie es dazu gekommen war.
Hatte sie ihn an seine kleine Schwester Liana Xue erinnert?
Vielleicht…
Andererseits… was wollte Raoie eigentlich von ihm?
Seine Elementare verhielten sich so lebensecht, dass er zugegebenermaßen überfordert mit ihnen war. In früheren Online-Spielen waren Pets einfache Kreaturen, die einen Angriffs- und Verteidungswert, eine bestimmte Anzahl von Lebenspunkten, sowie die ein oder andere Fähigkeit besaßen. Aber hier in Raoie?
Verdammt noch eins, seine Elementare verhielten sich wie leibhaftige Kinder aus der Realität…
Limonas Schluchzer nahmen allmählich ab und Bahe kam nicht umhin, ob der Surrealität des Momentes stutzig zu werden. Hier stand er nun, mit einem weinenden kleinen Mädchen, welches eigentlich eine Art Kampfgefährtin seinerseits darstellen sollte und streichelte ihr den Kopf. Während unweit von ihnen ein Kampf um Leben und Tod bestritten wurde…
Das Chaos auf der Wiese war auf seltsame Weise für den Moment in den Hintergrund gerückt.
Irgendwann hatte Limona sich wieder gefasst und blickte starr geradeaus. Bahes Hand bewegte sich noch immer. Ein ums andere Mal ließ er seine Hand sanft über ihren Kopf gleiten und Limona ließ es ohne eine Regung geschehen.
„Du solltest Brocken suchen“, meinte er schließlich.
„Hu?“, gab Limona von sich, als sie ihn, wie aus einer Trance erwacht, überrascht anblickte.
„Ja, willst du Balu nicht kennen lernen?“, erklärte sich Bahe.
„Balu?“
„Der kleine Bergbär, der mir vorhin hinterher gerannt ist. Zumindest einen konnte Brocken retten.“
„Brocken darf ihn behalten?“
„Hmm…“, bestätigte Bahe.
„Was ist mit… dem hier…?“, fragte Limona und zeigte auf das Gemetzel vor ihnen.
„Das ist für heute mein Problem“, antwortete Bahe nur. „Und jetzt geh schon!“
Limona sah ihn einen langen kleinen Augenblick an, ehe sie nickte und im Wald verschwand.
Bahe blickte derweil stur nach vorne. Erst als er sich ganz sicher war, dass genug Zeit vergangen war, schaute er sich um, um sicher zu gehen, dass sie verschwunden war.
Kaum hatte sich seine Hoffnung bestätigt, sprang er hinter den nächsten Baum und atmete, nach einem verräterischen Aufprall, hörbar aus. Für heute hatte er definitiv lange genug den coolen Bruder raus hängen lassen…
Lef hatte ihn am Waldrand entdeckt und ein paar Pfeile auf ihn abgeschossen. Wenn er auch nur einen Moment später hinter dem Baum gelandet wäre, hätten ihn die Pfeile an Ort und Stelle durchbohrt.
Vorsichtig spähte er am Baumstamm vorbei auf das Geschehen vor ihm. Es war zwar immer noch ein großes Durcheinander, aber der Ausgang zeichnete sich mittlerweile ab. Die gigantische Spinne hatte sich in ihrer Hast, den nervigen Dieb zu fangen, mit den Bergbären angelegt. Da diese, Rudeltiere waren und die Spinne als die größte Bedrohung empfanden, hatte sich selbstverständlich das gesamte Rudel gegen die Spinne gewandt.
Über die zahlreichen Beine waren bereits einige Bären auf den Rücken der Spinne geklettert und noch immer versuchten weitere Rudelmitglieder ihren Artgenossen zu folgen. Die Spinne hingegen, versuchte mit den furchteinflößenden Mandibeln ihres Mauls einzelne Exemplare zu fassen zu kriegen, sie mit ihren Beinen davon zu schleudern oder durch das Einwickeln in ihre Netze kampfunfähig zu machen.
Es war beinahe eine Pattsituation. Viele Bergbären lagen bereits tot im Gras, aber die Bären auf dem Rücken der Spinne verursachten mittlerweile auch ihrerseits einigen Schaden.
Die übrig gebliebenen Spieler konnte man grob in zwei Lager einstufen. Zum einen die Solospieler, die sich noch immer mit Mühe der Bergbären erwehrten, die sich nicht mit der Spinne beschäftigten und zum anderen die Mitglieder der Wolfsunionsgilde, die bereits all ihre eigenen Widersacher erlegt hatten und sich inzwischen darum kümmerten, dem Spinnenmonster weiteren Schaden zuzufügen.
Lef und der andere Bogenschütze feuerten ohne Unterbrechung ihre Pfeile auf die Sehorgane und das Maul der Spinne ab, während die Speerträger ihnen Deckung gaben und ab und an die heran fliegenden Beine des Spinnenmonsters abwehrten.
Bis auf die kleine Unterbrechung gerade eben, als Lef versucht hatte Bahe zu erwischen, stellten sie im Grunde keinerlei Gefahr für ihn dar. Dafür waren sie viel zu sehr auf ihr Ziel fokussiert.
Die Abwesenheit des Diebes war Bahes eigentliches Problem. Er konnte ihn nirgends entdecken.
Bahe war sich im Klaren darüber, dass er nun zwei Möglichkeiten hatte. Er konnte mit seinen Elementaren den Rückweg antreten. Wobei dies keinesfalls garantierte, dass er bis Waldenstadt überlebte. Der Weg führte durch zahlreiche gefährliche Territorien… alleine kam dies im Grunde einem Selbstmord gleich…
Die andere Möglichkeit bestand darin, sein Glück im Kampf zu suchen oder viel eher darin, im passenden Moment aktiv zu werden. Letztlich bedeutete auch dies mit größter Wahrscheinlichkeit seinen Tod…
Wahrlich rosige Aussichten…
Andererseits, was hatte er schon zu verlieren? War er nicht noch immer Level 0?
Verschwundener Dieb hin oder her und zum Teufel mit dem riesigen Levelunterschied zwischen Bahe und allen anderen Anwesenden, egal ob Monster oder Mensch… Er würde alles in eine Waagschale werfen. Der Moment, in dem das Spinnenmonster fiel, würde über Leben und Tod von den restlichen Überlebenden entscheiden, seines mit eingeschlossen.
Achtsam wich er in den Wald zurück und nahm die Situation konzentriert ins Auge. Er musste sich schleunigst einen Plan einfallen lassen.