Der Tag brach an, die Strahlen der unsichtbaren Sonne, erhellten den endlosen, weiten Raum, in welchem die Flugschiffe, wie mächtige Drachen schwebten. Noch immer war keine einzige Wolke zu sehen. Aellia und Nannios waren noch lange aufgeblieben und hatten wundervolle Stunden verbracht. Jetzt standen sie wieder zusammen an der Reling und beobachteten den Flug der gewaltigen Schiffe, welche sehr nahe hintereinander flogen. Sie hatten gerade ein Frühstück aus Brot, Früchten und honiggesüsstem Tee zu sich genommen. Die Stimmung war noch immer heiter und alle lächelten dem jungen Paar und auch Trojanas verschmitzt zu, als sie sich zu den anderen gesellten. Vermutlich hatten die meisten ihnen letzte Nacht zugeschaut. Aellia dachte sehr gerne daran zurück. Es war wundervoll gewesen, die Wonnen auf diese Weise und an diesem besonderen Ort zu erleben.
Auch die beiden Männer schienen sehr glücklich und zufrieden.
Aresios der Anführer des Schiffszuges sprach: „Bald werden wir in die Turbulenzen Zone kommen. Wir werden deshalb das Mittagessen sicherheitshalber ins Innere des
Haupt-Schiffes verlegen. Achtet darauf, dass ihr alles was von euch möglicherweise noch auf Deck herumliegt ebenfalls ins Innere bringt. Die Druck und Luftverhältnisse, werden sich drastisch verändern, wenn wir diese Zone hinter uns haben, vermutlich werden alle Nichtdrakonier und Nichtharpyer dann ihre Anzüge brauchen, wenn sie von Schiff zu Schiff herüberwechseln.“
„Wie lange wird es noch dauern, bis wir dort ankommen?“ fragte Trojanas.
„So etwa zwei Stunden. Wie ich bereits sagte, kann es sehr ruhig verlaufen, aber auch ziemlich turbulent. Darum ist es wichtig, dass dann niemand mehr auf Deck ist. Wir haben die grosse Gemeinschaftskajüte, welche sich hier auf diesem Schiff befindet, aber ihr könnt natürlich auch in euren eigenen Unterkünften bleiben, es wird dann aber sicher eine Stunde nicht möglich sein, von einem Ort zum anderen zu wechseln.“
„Irgendwie klingt das Ganze schon ziemlich gefährlich“, sprach Mellila etwas besorgt. „Es ist nicht so gefährlich. Wir flogen diese Strecke, wie ich bereits sagte, schon hunderte von Malen. Wir sind uns daran gewöhnt und wissen, wie wir uns verhalten müssen.“ Mellila nickte etwas beruhigt.
„Wir werden euch auf jeden Fall Bescheid geben, wenn wir die Turbulenzen Zone erreichen“, sprach Aresios. „Aber ihr werdet es auch sehen, denn bald werden wieder die ersten Wolken auftauchen. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag und eine angenehme Reise.“
Die Gemeinschaft löste sich langsam auf und jeder ging seinen eigenen Beschäftigungen nach.
Tatsächlich veränderter sich dann, nach etwa anderthalb Stunden, die Umgebung wie angekündigt. Der bisher vollkommen klare, wolkenlose Himmel, der sie wie ein gewaltiger Baldachin umspannt hatte, bekam eine andere Farbe. Sie wechselte von lila, immer mehr zu einem wässrigen Blaugrau. Der Wind frischte zusehends auf. Nannios und die anderen trugen jetzt vorsichtshalber, ihre goldenen Schutzanzüge. Langsam tauchten die ersten, jetzt allerdings gräulichen Wolken auf. Sie wurden vom Wind, wie mächtige Schwaden, über das Firmament getrieben. Aellia musste sich an den Temperaturabfall gewöhnen. Es war hier ziemlich kühl. Auch die Luft wurde immer dünner.
„Ich glaube wir sollten langsam reingehen!“ meinte sie. Tatsächlich kam ihnen gerade Aresios entgegen, als sie sich zur Gemeinschaftskajüte aufmachten und sagte ihnen, dass es an der Zeit sei, sich vom Deck zurückzuziehen. Sie wollten lieber etwas unter Leuten sein, wenn die Turbulenzen kamen, darum kehrten sie nicht in ihre privaten Kajüten zurück. Die meisten andern sahen das wohl auch so, denn sie kamen ebenfalls in den Gemeinschaftsraum, der sich direkt unter dem Magi- Domus, des Haupt-Schiffes befand. Aellia spürte dessen Magie bis hierher und sie hatte das Gefühl, dass sie an diesem Ort am sichersten waren. Es gab hier ein paar Fensterluken. Sie und Nannios schauten neugierig hinaus.
Die Wolken wurden immer dichter. Der Wind fuhr stöhnend durch die Ritzen des Schiffes. Dieses begann etwas zu schwanken. Immer dichter wurden die Wolken und dann auf einmal…, kam der Regen!
Voller Erstaunen beobachtete Aellia wie dieser mit unerwarteter Heftigkeit hernieder prasselte und glänzende Wasserlachen in den Unebenheiten des Schiffes bildete. Noch selten hatte die Harpya so viel Regen auf einmal gesehen. Für ihr Volk war der Regen eins der grössten und zudem rares Geschenk der Göttin und sie überlegte sich, dass man das kostbare Nass, hier an diesem Ort, in rauen Mengen hätte gewinnen können. Wenn die Harpyas nur eine Möglichkeit finden würden, diesen Reichtum für sich zu erschliessen, wären sie vielleicht irgendwann nicht mehr auf die ständige Hilfe der Drakonier angewiesen gewesen.
Einige Gedanken und Ideen nahmen in Aellia Gestalt an, doch sie waren noch sehr vage. Ausserdem wurde ihre Aufmerksamkeit gerade vollkommen von den Geschehnissen draussen in Anspruch genommen. Der Regen wurde immer heftiger, bald wurde er zu einem undurchdringlichen, silbernen Vorhang, der die Sicht auf das Minimale beschränkte. Dunkelgraue Wolken rasten über den Himmel, hüllten schliesslich das Schiff gänzlich ein. Dieses erzitterte unter der Wucht des tobenden Sturmes. Es ächzte und schwankte. Aellia merkte, wie die Magie, welche vom Magi- Domus ausging, sich verstärkte und wie
gold- weiss glänzende Strahlen, alles durchdrangen. Sie waren jetzt vollkommen in Magie eingehüllt. Vermutlich waren es jetzt zwei Zauberer, welche das Schiff unter Kontrolle hielten.
Aresios war verschwunden, er musste vermutlich auch dabei helfen, dem heftigen Sturm zu trotzen. Allen in der Kajüte war es ziemlich mulmig zu Mute. Ob wirklich alles unter Kontrolle war? Manchmal wurde das Schiff arg durchgeschüttelt und Aellia merkte, wie ihr Magen im Angesicht der starken Turbulenzen zu rebellieren begann.
Trojanas versuchte es mit einem Scherz: „So wie es aussieht, stellen uns die Götter noch etwas auf die Probe, bevor wir der ganzen Welt den Frieden bringen können.“
Ein eher mattes Lächeln der anderen Anwesenden, war die Antwort. Die meisten hatten sich auf den einfachen Stühlen in der Kajüte niedergelassen, da das Schiff manchmal so schwankte, dass man sehr schnell das Gleichgewicht verlor.
Nannios erhob sich schliesslich als erster wieder und ging zum Fenster. Aellia folgte ihm und schaute ebenfalls hinaus, während sie sich am Fensterrahmen so gut als möglich festhielt. Noch immer war nichts zu sehen. Doch sie wusste, dass dieser Sturm wieder vorbeigehen würde und das Licht, den Weg zu ihnen zurückfinden würde. Denn… sie wusste, sie reisten mit der Gnade der Göttin.
Und tatsächlich! So schnell wie das Unwetter gekommen war, war es auch wieder vorbei! Die dunklen Regenwolken rissen auseinander und vor ihnen leuchtete nun, wie ein mit dunklen Einschlüssen durchzogener Rubin, der Himmel des Reiches, des dunklen Mondes!
Ein Gefühl der Freude und Wehmütigkeit erfüllte Aellia, als sie ihre Heimatwelt wie ein stilles Gemälde vor sich liegen sah. Nach der Unruhe der Turbulenzen Zone, vermittelte diese ihr eine wundervolle Geborgenheit. Alle kamen nun an die Fenster und schauten mit erstaunten, weitgeöffneten Augen nach draussen.
„Das also ist deine Heimat!“ meinte Nannios ehrfürchtig. „Sie ist wirklich so vollkommen anders als die Welt des Silbermondes und auch als die Welt der Solianer.“ Trojanas, der sich zu ihnen gesellt hatte, nicke zustimmend.
„Von hier also, stammt mein Vater“, sprach er leise und einen Moment lang, lag Trauer in seinen dunklen Augen. Aellia legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. „Es ist schade, dass du nicht in seiner Begleitung an diesen Ort kommen konntest. Es wäre schön gewesen, wenn wir jetzt alle… hier sein könnten, um unsere Friedensmission zu erfüllen.“
Trojanas nickte, dann hellte sich sein Gesicht jedoch wieder auf. Er blickte an sich herunter. Der Schutzanzug schimmerte rötlichgolden, im Zwielicht dieser Welt. Der solianische Königssohn sprach: „Jedenfalls fühle ich mich sehr wohl und habe keinerlei Beschwerden, das heisst… unsere Schutzgewänder haben bereits ihre magische Kraft entfaltet! Veneficias wäre sehr stolz, wenn er das wüsste!“ Alle Nicht- Harpyer schauten nun ebenfalls an sich herunter und nickten mit freudiger Zustimmung.
Nannios legte den Arm um Aellia: „Gelobet sei die Göttin, dass sie uns diese Gewänder schenkte, nun kann ich zusammen mit dir deine Welt erkunden. Ich bin schon sehr gespannt!“
In diesem Augenblick ging die Tür der Kajüte auf und Aresios trat mit zwei anderen Drakonier ein. Ihre Minen wirkten erleichtert.
„Nun?“ fragte der Anführer. „Haben alle die Turbulenzen gut überstanden?“ Zustimmendes Gemurmel war die Antwort. „Es war diesmal schon ziemlich hart, das muss ich zugeben. Wir brauchten zwei Magier und die vereinten Kräfte der Mannschaft, um euch sicher durch diese Unbillen zu geleiten. Darum konnte euch leider auch niemand von uns Gesellschaft leisten. Wir befinden uns jetzt etwas weiter südlich, als es sonst der Fall ist, aber unser Navigator hat sich bereits einen Überblick verschafft, welche Route wir nehmen müssen, um zur Obsidian Stadt zu gelangen.“
„Kennt ihr euch denn in dieser Gegend aus?“ fragte Trojanas.
„Natürlich, wir waren schon überall im Land des dunklen Mondes, haben auch Karten davon angefertigt.“
„Tatsächlich?“ fragte Aellia neugierig. „Darf ich diese Karten mal sehen?“ Sie kannte eigentlich nur einen sehr kleinen Teil ihrer Heimat. Bei den Harpyas war es nicht üblich, weit herumzureisen. Manchmal überlegte sie sich, ob das von der Obrigkeit einst so eingerichtet worden war, weil man das Volk besser unter Kontrolle halten konnte, wenn dieses möglichst wenig über die Welt da draussen wusste. Als kleines Mädchen hatte man Aellia schon eingebläut, dass diese weite Welt, ausserhalb der Stadtmauern sehr lebensfeindlich und gefährlich war. Man erzählte sich von wilden, mächtigen und gefährlichen Kreaturen, welche einem töteten oder gar verschlangen, wenn man sich zu weit vorwagte. Auch von den schrecklichen Gorgonas drohte stets Gefahr. Man wusste bisher nicht, woher diese genau kamen und jene die es vielleicht wussten, schwiegen aus irgendwelchen Gründen darüber. Aellia hatte sich, bevor sie die neue Welt Equilibria entdeckt hatte, kaum Fragen darüber gestellt, wohin die Jägerinnen jeweils flogen, um Nahrung zu beschaffen. Was für Lebewesen es genau waren, von denen sich das Volk der Harpyas ernährte. Alles war immer schon mundgerecht zubereitet gewesen, ohne dass man genau erkennen konnte, was man da eigentlich ass. Ebenso hatte sie sich nie gefragt, woher genau das Wasser kam, dass sie stets tranken, woher die Drakonier überhaupt kamen. So viele Fragen, die sie sich einfach nie gestellt hatte. Heute konnte sie das nicht mehr verstehen. Sie wollte alles wissen, was sie sich irgendwie an Wissen aneignen konnte. Es gab noch so viele Fragen, so viel zu entdecken…