Diese Frage wurde Aellia jedoch sogleich beantwortet, als ein mächtiges Horn erklang. Es war jener bekannte Klang, der zum Waffenstillstand aufrief. Alle kannten den Klang dieses Horns und hielten sogleich im Kämpfen inne, während sich ihre Blicke zur Quelle, des für alle erlösenden Tones, wandten.
Aellia sah einer kleinen Gruppe Harpyas entgegen, die mit einer weissen Fahne in der Hand herbei schwebten. Eine kräftige, sehnige Frau, mit dunklem, kurzem Haar und markanten Gesichtszügen führte sie an.
Aellia flog ihnen mit ihren engsten Vertrauten entgegen.
„Kelana ersucht um Verhandlungen“, sprach die Anführerin der gegnerischen Priesterinnen. Aellia schaute sich um und meinte dann etwas spöttisch. „Ach ja und wo ist sie? Ich sehe sie gar nirgends.“
„Sie rüstet sich für einen Kampf mit dir Aellia.“
„Ach, sie will also einen Zweikampf, obwohl sie sich bei unserem letzten Zusammentreffen, auf so schändliche Weise, davongestohlen hat.“ Wut über dieses unehrenhafte Verhalten ihrer, einst so verehrten Hohepriesterin, schwang dabei in ihrer Stimme mit. „Damals war es eine andere Situation. Es war sehr wichtig, dass sie am Leben bleibt, um eure ketzerischen Absichten zu durchkreuzen.“
„Ach so und nun glaubt sie, sie könne mich in einem weiteren Kampf besiegen?“
„Ja und… das wird sie auch!“ sprach die andere Harpya trotzig.
„Das… werden wir noch sehen. Was für Bedingungen knüpft sie an ihren möglichen Sieg?“
„Ich will, dass die ganze Delegation auf Nimmerwiedersehen von hier verschwindet, sollte ich gewinnen!“ ertönte eine laute, entschlossene Stimme. Kelana kam herbei geschwebt. Sie trug eine ähnliche Rüstung wie Aellia, allerdings mit anderen Verzierungen. An ihrem Gürtel hingen zwei lange Dolche. Einen Moment lang spürte Aellia Wehmut in sich aufsteigen. Kelana hatte sie einst selbst im Kampf mit diesen Waffen unterwiesen und nun… standen sie sich auf dem Schlachtfeld auf so traurige Weise gegenüber. Doch sie verdrängte diese Gedanken. Kelana war nicht mehr jene Frau, die sie einst so geliebt hatte.
Sie setzte eine kühle Mine auf und meinte: „Ich muss mich erst mit den anderen beraten, ob wir dein Angebot annehmen, Kelana.“
Die Hohepriesterin nickte und wartete, während Aellia sich mit Nannios, Artemia und den anderen zur Beratung zurückzog. „Was sollen wir machen?“ fragte sie. „Wenn wir in den Zweikampf einwilligen, besteht das Risiko, dass ich verliere und unser ganzes Unternehmen, der Vereinigungen der Welt, wird scheitern. Die masculinischen Rebellen werden sehr leiden und auch jene, die sich uns angeschlossen haben.“
„Glaubst du denn nicht, dass du sie besiegen kannst, mein Kind?“ fragte Artemia. „Ich denke eigentlich schon, aber… man darf Kelana nicht unterschätzen. Sie hat bei unserem ersten Kampf noch nicht all ihre Kräfte eingesetzt. Sie hat… mich wohl unterschätzt und dazu kam, dass sie es sich zu jenem Zeitpunkt nicht leisten konnte zu sterben. Diesen Fehler wird sie nicht noch einmal machen und sie wird sich auch nicht mehr so einfach aus dem Kampf zurückziehen können. Es steht viel auf dem Spiel bei ihr, wie… bei mir. Ich habe schon einige Ängste, muss ich zugeben, vor allem eben um euch, all die anderen, die hier mit uns kämpften.“
„Dennoch“, sprach Nannios mit ruhiger Stimme „darf man unsere Anhänger nicht unterschätzen. Tantalius und seine Männer, werden sich keinesfalls mehr so einfach unterjochen lassen. Ausserdem, haben sie das Heilmittel gegen die Seuche. Der Widerstand wird, unter keinen Umständen, einfach aufgelöst werden. Die Zeit arbeitet für uns und auch der Zeit- Geist.“
„Du meinst, auch wenn ich verlieren sollte, wird sich die Welt dennoch verändern?“ „Ja, doch du wirst nicht verlieren. Du wirst über Kelana triumphieren!“
„Ja“, stimmte Artemia zu. „Denn du… hast mehr Macht, weil du um alle Aspekte der Göttin weisst. Das macht dich stark und es hilft dir zu bestehen. Du hast deshalb mehr Wissen und mehr Weisheit als Kelana.“
Irisa stimmte zu: „Ja. Ich sehe es auch bei mir selbst. Seit ich um die anderen Aspekte der Göttin weiss und mich mit ihnen allen verbinden und sie in mir integrieren lernte, bin ich noch viel stärker geworden. So… wie du.“
Aellia dachte einem Moment lang nach, dann fragte sie: „Ihr findet also, ich sollte mich auf das Angebot einlassen?“
„Ja, ich glaube schon“, sprach Artemia. „Ich glaube fest an deinen Sieg und wir können so weiteres Blutvergiessen verhindern.“
„Das stimmt allerdings,“ pflichtete Nannios bei, auch wenn es ihm dabei schwer ums Herz wurde. „Ausserdem, du wirst es ganz sicher schaffen!“
Die andern Anwesenden nickten ermutigend und so wandte sich Aellia mit einem tiefen Atemzug wieder an Kelana. „Ich nehme dein Angebot an.“
In den Augen der Hohepriesterin flackerte es auf. Die jüngere Harpya wusste nicht so recht, was genau für Gefühle hinter diesem Flackern lagen. Einen Augenblick lang, glaubte sie etwas Verunsicherung von Seitens Kelana zu spüren, doch das währte nur kurz, dann sprach die ältere Harpya entschlossen. „Dann also, soll es so sein!“ Sie fasste an ihre Waffen, doch die dunkelhaarige Harpya, welche den Zug mit der weissen Fahne angeführt hatte, ging noch einmal dazwischen. „Einen Moment!“ Kelana und Aellia starrten sie gleichermassen vorwurfvoll an.
„Dieser Kampf, Aellia, “ fuhr die Dunkelhaarige fort „wäre nicht gerecht. Denn…du kämpfst gegen eine schwer verletzte Frau.“
Die Angesprochene zögerte einen Moment, dann entsann sie sich der schweren Wunde, die sie Kelana bei ihrem letzten Kampf zugefügt hatte. Natürlich, sie konnte noch gar nicht verheilt sein, weil die harpischen Heilerinnen nicht halb so gut waren, wie Nannios und Artemia. Sie selbst war schon wieder vollkommen genesen, durch deren Hilfe. Doch Kelana… „Nun gut,“ meinte sie deshalb „die Chancen sollen beidseitig gleich sein. Ich will keine schwer verletzte Gegnerin.“
Artemia schwebte nach vorn und meinte: „Lass mich das machen!“ Sie legte ihre Hand über Kelanas Brust und weisses Licht strömte daraus hervor. Kelana spürte eine wunderbare Wärme, die ihren ganzen Körper durchfloss und sie merkte wie ihre Wunde immer mehr verheilte. Einen Augenblick lang, ergriff sie Rührung und Dankbarkeit, der Lunarierin gegenüber. Es war, als bewirke deren Zauber noch mehr als nur körperliche Heilung. Einen Moment lang wollte sie sich diesem Gefühl hingeben, einfach alles loslassen und aufhören zu kämpfen, doch dann entsann sie sich wieder ihrer Aufgabe und ihre Mine verhärtete sich einmal mehr. Eine stille Trauer glitt über Artemias Gesicht, als sie spürte, wie die Dunkelheit in Kelanas Seele zurückkehrte.
„Du, bist nun wieder ganz gesund“, sprach sie etwas matt „und bei vollen Kräften, wie Aellia.“
Die Hohepriesterin nickte zum Dank knapp, dann wandte sie sich Aellia zu. „Nun gut, möge die Bessere gewinnen!“