Nannios indes, hatte nun all seine Freunde befreit. Zum Glück waren keine schlimmeren Fallen mehr in den Türen eingebaut gewesen. Mit Artemias Hilfe und der Hilfe der harpischen Priesterinnen, hatte er alle Schutzzauber ausfindig gemacht und beseitigt. Trojanas klopfte ihm voller Freude auf die Schultern, als alle wieder vereint waren. „Vielen Dank, mein Freund! Wenn du nicht gewesen wärst! Diese Kelana, hat es eindeutig zu weit getrieben, das wird sie noch bereuen!“
„Ja, deshalb müssen wir sofort wieder los, um Aellia und den anderen beizustehen“, erwiderte Nannios. Er wirkte etwas blass und mitgenommen.
„Geht es dir gut mein Sohn?“ fragte seine Mutter besorgt.
„Ja, es geht schon. Ich fühle mich einfach noch etwas schwach, aber deshalb kann ich noch lange kämpfen.“
Trojanas musterte Aellias Liebsten, mit grösstem Respekt an. Er hatte von all den Strapazen und den gewaltigen Zaubern, die Nannios gewirkt hatte, gehört und er bewunderte ihn für seinen Durchhaltewillen und seine Kraft. Immer mehr erkannte er, was Aellia so an diesem Mann liebte. Nannios war ein sehr guter Partner. Einer, der zu grosser Liebe fähig war. Fast wehmütig beobachtete er auch das herzliche Verhältnis, dass der Lunarier zu seiner Mutter hatte. Trojanas lernte dies jetzt zwar auch immer mehr kennen, je enger er und seine Mutter Dyandra zusammenwuchsen, doch es würde niemals dasselbe sein, wie zwischen Nannios und Artemia. Trojanas hatte in der Vergangenheit einfach zu wenig Zeit mit seiner Mutter verbracht und sein Vater hatte ihn schrecklich enttäuscht und war nun tot. Manchmal fühlte sich der junge Solianer deshalb ziemlich verloren und orientierungslos. Doch er schob die düsteren Gedanken von sich, packte das Schwert, dass man ihm reichte und meinte: „Dann also los! Es wird Zeit, dass wir dem Regime von Kelana ein Ende setzen!“ Er hob die Waffe in die Höhe: „Für die Götter!“ rief er und die anderen stimmten ohne zu zögern ein: „Für die Götter!“
Aellia kämpfte wie eine Berserkerin. Die feindlichen Priesterinnen waren wahrlich keine leichten Gegnerinnen, auch die Kriegerinnen waren die Besten der Welt. Aellia jedoch, war besser. Sie schlitzte eine Feindin nach der andern mit ihren Dolchen auf oder machte sie mit ihrer Magie unschädlich. Zwar setzte sie letztere dosiert ein, weil es sie auch immer viel Kraft kostete und sie noch geschwächt war, von ihrem ersten Kampf gegen Kelana. Die Wunde brannte immer noch, auch wenn sie von den harpischen Heilern notdürftig behandelt worden war. Wenigsten linderte die Salbe, die sie aufgetragen hatten, die Schmerzen gut. Aellia sehnte sich dennoch Nannios und Artemia herbei. Die beiden waren die besten Heiler weit und breit. Sie hätten die Wunde besser behandeln können. Doch, noch waren sie nicht zurückgekehrt. Manchmal machte sich Aellia Sorgen, dass Nannios es eventuell nicht schaffen würden, die anderen zu befreien und Kelana sie doch wieder erwischen würde und sie noch einmal einsperrte. Doch dann lauschte sie in sich hinein und eine seltsame Sicherheit durchströmte sie. Bestimmt würden Nannios und die anderen es schaffen! Kelana hatte das Gefühl, dass die Leute der Delegation gut verwahrt waren und liess wohl nur noch wenig Wachposten zu ihrer Bewachung da. Sie brauchte so viele Leute wie möglich für den Kampf. Es kamen auch immer wieder neue Gegnerinnen dazu und noch war ein Ende der Schlacht nicht absehbar. Zum Glück hatten auch die Königin und die Delegation, einige Anhänger.
Aellia wirbelte herum, schlitzte einer Kriegerin die Kehle auf und trat eine der anderen in den Bauch, so dass diese zurück taumelte. Als sich letztere erneut auf sie stürzte, rammte sie ihr den zweiten Dolch in die Eingeweide. Die gegnerische Harpya stöhnte auf und dunkles Blut, durchtränkte ihre lederne Rüstung. Dann fiel sie, wie so viele vor ihr, hinab in die Tiefe.
Aellia spürte auf einmal ein Kribbeln im Nacken und errichtete instinktiv einen Schutzschild um sich. Eine gewaltige, magische Attacke, prallte gleich darauf davon ab. Die junge Frau merkte, wie ihr Schild darunter erzitterte. Erneut wirbelte Aellia, schnell wie der Wind, herum, um einen Gegenangriff zu starten. Zwei feindliche Harpyas hatten ihre Kräfte vereint, um ihr den Garaus zu machen! Doch in diesem Augenblick, traf ein gleissend heller Blitzschlag, die gegnerischen Priesterinnen und schleuderte sie zurück. Einen Moment lang blieben sie, wie erschlaffte Strohpuppen, in der Luft hängen und fielen dann hinab auf die darunterliegenden Planetenscherben, wo ihre Körper zerschellten. Voller Freude schaute Aellia auf die hochgewachsene Gestalt, mit den wie Schnee funkelnden, Schwingen, die ihr zur Hilfe gekommen war. Nannios lächelte ihr triumphierend zu und tiefste Erleichterung, ergriff Aellia. Er hatte es geschafft! Nun waren sie alle wieder vereint. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen!
Sofort nahmen auch Trojanas und die anderen ihre Position in den Schlachtreihen ein. Artemia befasste sich vor allem mit dem Heilen der Verwundeten auf ihrer Seite. Es dauerte nicht lange, bis die Gegnerinnen ihre wichtige Funktion erkannten und sich immer mehr auf sie konzentrierten. Auch Tantalius sah das, während er auf Kethias kräftigen Rücke über dem Kampfgetümmel kreiste. Er war, wie schon zu Beginn, tief beeindruckt von der edlen Frau mit dem silbernen Haar. Zum Glück wusste sie sich zu schützen. Sie errichtete immer wieder Schutzschilde um sich und die Verwundeten, schleuderte, wenn es nötig war, ihre Magie gegen die Feinde. Es war eine etwas andere Art der Magie, als es Tantalius von seinem Volke her gewöhnt war. Artemia trug nun wieder ihren langen, weissen Stab. An seiner Spitze befand sich ein milchigweisser, zu einem spitzen Prisma geformter Kristall. Dieser verstärkte wohl die Macht des Stabes. Auch Nannios besass so einen ähnlichen Stab, allerdings mit einem blauen Kristall an seinem Ende. Tantalius wusste nicht, aus was für einem Material Kelanas Stab bestand. Er wirkte sehr natürlich, als ob er aus einem Baumstamm geschnitzt worden wäre, dessen Charakter man absichtlich bewahrt hatte. Die Lunarier schienen ihre Magie aus anderen Kräften zu beziehen, oder zumindest aus einer andern Art der Einen Kraft, die sie alle umgab.
Artemia hatte ihm einst erklärt, dass ihre magischen Kräfte, hier in dieser Welt, eingeschränkt waren. Einige natürlichen Ressourcen fehlten, in dieser kargen Umgebung des harpischen Reiches, aus welchen sie ihre Magie sonst jeweils bezog: Die Natur, die Bäume, das Wasser.
„Die Welt, in der wir leben, ist Teil von uns“, sprach sie. „Alles ist Teil von uns, Teil eines grossen Ganzen, eines unsichtbaren Netzwerkes, das uns alle verbindet und am Leben erhält. Der Mutteraspekt der Gottheit- Lunaria, ist in all diesen Dingen besonders gegenwärtig. Sie sorgt für uns und gibt uns alles, was wir zum Leben brauchen.“ Tantalius hatte buchstäblich an Artemias Lippen gehangen, als sie über diese Dinge gesprochen hatte. Er war zutiefst berührt gewesen und fühlte dabei etwas, dass bisher noch niemand in ihm ausgelöst hatte. Artemia war für ihn die wundervollste Frau, die er jemals angetroffen hatte. Alle andern Frauen verblassten, seiner Ansicht nach, neben ihr. Sie war zwar nicht mehr jung, etwa in seinem Alter, aber ihr Auftreten, ihre ganze Ausstrahlung… sie war mit nichts zu vergleichen! Ihr Herz war so voller Liebe, für alle, die ihren Weg kreuzten. Ihre Augen leuchteten wie tiefblaue Edelsteine, das lange, glänzende Haar, fing die rötliches Reflexe dieses Himmels hier, wie Feuerflammen auf ziseliertem Silber ein. Ihr hochgewachsener, noch immer schlanker und doch fraulicher Körper, mit dem sanft gewölbten Bauch, der ihre Fruchtbarkeit widerspiegelte, schien ihm der Schönste der Welt zu sein. Alles an ihr… er konnte es nicht beschreiben, es bezauberte ihn schlichtweg.
Sie war so sanft und zugleich stark, tiefgründig und doch sprühte sie vor Lebensfreude. Keine Harpya, hatte ihn jemals so sehr beeindruckt. Doch er wagte nicht, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Er wusste nicht, wie sie darauf reagieren würde, er wusste nicht, ob sie nicht enttäuscht war, wenn sie einst erfuhr, was er alles getan hatte, um dorthin zu kommen, wo er jetzt war. Er wusste, dass seine Ziele ehrenwert waren, doch die Art wie er dieses Ziel erreicht hatte… er wusste nicht, ob Artemia, welche so durch und durch ehrenwert war, dies gebilligt hätte. Er wagte auch nicht zu glauben, dass sie irgendein Interesse an ihm als Mann hatte. Er war keiner, der den Frauen sonderlich auffiel und schon gar nicht diesem… wundervollen Geschöpft, das so hoch über ihm zu stehen schien, in allem was sie tat, was sie war. Er war ein Nichts, im Vergleich zu ihr, ein jämmerliches Würstchen, in jeder Hinsicht. Doch er hatte nun die Möglichkeit sie zu beschützen. Er würde dafür sorgen, dass ihr nichts Schlimmes passierte, denn die Welt würde um so vieles ärmer sein, ohne sie. So zog er, stets in ihrer Nähe bleibend, seine Kreise auf Kethia. Er lud seine Armbrust, zielte auf eine Harpya, welche Artemia mit einem Zauber gerade angreifen wollte und… traf sie mitten in die Brust!