20. Kapitel
Okeana war eine noch junge Novizin, der harpischen Priesterinnen und gut befreundet mit Aellia. Sie war in vielen Dingen, noch etwas unerfahren, aber ihr Verstand war scharf und sie lernte sehr schnell. Noch trug sie das weisse Band, doch schon bald hätte sie eigentlich das Rote bekommen sollen. Daraus wurde jetzt wohl nichts mehr, da sich gerade alles im Reich des dunklen Mondes veränderte. Noch lange, war sie hin und hergerissen gewesen, zwischen ihrer Loyalität Kelana gegenüber und ihrer Freundschaft zu Aellia. Doch dann hatte sich die Hohepriesterin so negativ verändert. Okeana hatte mitbekommen, dass Kelana nicht gewillt war, ihr Volk vor dem sicheren Untergang zu retten, weil sie die Bedingungen der anderen Völker nicht akzeptieren wollte. Sie wollte einen Krieg führen, der gar nicht nötig gewesen wäre und hatte dadurch die Entzweiung des harpischen Reiches heraufbeschworen. Ihretwegen wurde dieser Kampf geführt. Ihretwegen gab es nun jene die das Heilmittel gegen die Seuche erhielten und jene die ihrem Schicksal überlassen wurden. Es war eine sehr zermürbende Aufgabe für die junge Priesterin, die Medizin der Rebellen, nur einigen Auserwählten zu verabreichen. Doch im Augenblick gab es keine andere Möglichkeit. Ihr scharfer Verstand erkannte das wohl, deshalb würde sie ihren Auftrag, zur Zufriedenheit von Aellia, ausführen. Der Königin hatte sie das Mittel schon gegeben und sogleich war eine Besserung eingetreten. Podargia wurde nun, rund um die Uhr, von den besten Elitewachen des Reiches und einigen königstreuen Priesterinnen beschützt und man hatte ihr geraten, sich vorerst im Hintergrund zu halten.
Okeana machte sich nun auf den Weg ins Lazarett, um die restlichen Sympathisanten der Königin und der Delegation zu heilen. Als sie eintrat, waren die Heiler alle so beschäftigt, dass sie sie kaum wahrnahmen. Okeana packte zur Tarnung einige nasse Tücher und ging zuerst zu ihrer Mitschwester Callidia, welche, trotz ihres Priesterranges, der Königin loyal ergeben war. Als sie Okeana sah, lächelte sie ihr matt zu. „Es ist schön…, dass du mich hier besuchen kommst“, flüsterte sie und ihre Stimme klang heiser vom vielen Husten und Erbrechen.
Okeana neigte sich ganz tief zu ihr herunter und flüsterte: „Ich habe ein Heilmittel für dich. Es wird dir sofort helfen Callidia. „Doch… ich…darf es nicht allen geben.“
Die Augen der etwas älteren Priesterin, blickten erstaunt. „Woher… hast du das?“ „Ich erkläre dir das später genauer. Nur so viel: Leider wird es vermutlich eine Schlacht geben, zwischen Podargias Anhängern, der Delegation aus Equilibria und Kelana und ihren Anhängern. Letztere will uns alle ins Unglück stürzen. Das Heilmittel ist von der masculinischen Widerstandsbewegung. Sie wollen uns unterstützen. Darum sollst du es bekommen, damit du an der Seite von uns und der Königin, kämpfen kannst.“
Callidia wurde erneut von einem Hustenanfall geschüttelt, dann erwiderte sie: „Du kannst mich wirklich heilen?“
„Ja, aber ich muss es unbemerkt tun. Hier!“ sie reichte Callidia ein Fläschchen mit der Medizin.
Callidia nickte dankbar und in einem unbemerkten Augenblick, trank sie die lilafarbene Flüssigkeit.
Okeana ging nun von einer auserwählten Harpya zur anderen und es gelang ihr, das Mittel, ohne dass es die anderen merkten, zu verteilen.
Auf einmal jedoch stutzte sie. Zwischen all den schwarz und rot gefiederten Patienten, erblickte sie auf einmal einen, mit Schneeweissem. Als sie nähertrat, sah sie Nannios auf eine der vielen Feldbetten liegen. Er atmete schwer. Einen Augenblick lang, war die junge Priesterin sehr verwirrt. Was machte der Lunarier hier? Man hatte ihr doch gesagt, dass er von Kelana und ihren Getreuen, entführt worden war. Sie zögerte einen Augenblick und schaute sich um. Zwei schwer bewaffnete Wachen, hielten sich ebenfalls im Lazarett auf und sie liessen den Lunarier, keinen Moment lang, aus den Augen.
Okeana umfasste die kühlen Tücher auf ihrem Arm fester und ging dann entschlossen zu dem jungen Mann herüber. Sie versucht dabei die Wächterinnen nicht zu beachten, die jeden ihrer Schritte zu beobachten schienen. „Hier, neue Tücher“, flüsterte sie.
Der Lunarier blickte auf und schaute sie an. Es ging ihm schon wesentlich besser, doch noch liess er sich Zeit, es die anderen Anwesenden merken zu lassen. „Okeana!“ sprach er erfreut. „Es tut gut dich zu sehen!“
„Was machst du hier?“ raunte sie. „Ich dachte, du seist von Kelana als Geisel genommen worden?“
„Ja, das stimmt. Ich habe es jedoch durch einen Trick geschafft, aus meinem Gefängnis zu entkommen. Ich könnte wirklich etwas Hilfe gebrauchen. Siehst du die beiden Wächterinnen dort? Sie beobachten mich die ganze Zeit. Sie werden mich wieder einsperren, sobald… ich genesen bin.“
„Du bist also auch von der Seuche betroffen? Es gibt ein Heilmittel. Ich könnte es dir beschaffen, damit du dich erholst. Schon Callidia und einige anderen, die sicher auf unserer Seite sind, haben es bekommen und sie sollten bald wieder auf dem Damm sein um… gegen Kelana zu kämpfen.“
„Es gibt einen Kampf?“
„Ja, als Aellia erfuhr, dass Kelana euch entführte und mit ihren Getreuen nach Equilibria reisen will, um die andern Völker zur Paarung mit ihnen zu zwingen, da hat sie der Hohepriesterin den Krieg erklärt.“
„Bei der Göttin, das sind wirklich schlimme Neuigkeiten! Es wäre mir lieber gewesen, alles hätte einen andern Verlauf genommen…“ Er unterbrach sich, denn eine der Wächterinnen kam auf sie zu. „Verdammt, sie wird bald merken, dass ich gar nicht richtig krank bin. Hilfst du mir?“
„Aber natürlich! Was kann ich tun?“ „Nimm dir die andere dort drüben vor, während ich mich um diese hier kümmere!“
Okeana nickte und erhob sich. Sie konzentrierte sich und sammelte ihre Kraft über dem Herzen, dann sandte sie einen weissen Blitz gegen die Kriegerin, die noch etwas abseits stand. Fast zeitgleich, sprang Nannios auf und sandte eine seiner magischen Schallwellen, gegen die Wächterin in seiner Nähe. Der Boden erbebte. Okeana sah aus den Augenwinkeln, wie die Wache zurückgeschleudert wurde und gegen die Wand krachte. Entsetze Schreie erhoben sich. Sie stammten von den Heilern, die zutiefst über diesen unerwarteten Trubel erschraken.
Der weisse Blitz von Okeana verfehlte sein Ziel auch nicht. Allerdings war die Magie der jungen Priesterin noch nicht so stark und die Rüstung schützte die Wache vorerst vor einer schlimmeren Wunde. Sie erhob sich und stürzte sich mit einem mächtigen, gebogenen Schwert, auf Okeana. Letztere trug ein ebensolches Schwert bei sich und sie stellte sich der anderen Harpya im Zweikampf entgegen.
Jene, die von Nannios Schallwelle getroffen worden war, schien es schlimmer erwischt zu haben. Sie wirkte sehr mitgenommen. Einige ihrer Rippen waren sicher gebrochen und an ihrem Hinterkopf klaffte eine blutende Wunde. Sie versuchte sich trotzdem wieder zu erheben. Dabei unterdrückte sie einen Schmerzensschrei. In ihrer Hand trug sie eine leichte Einhand Axt, mit einer Spitze am oberen Ende. Sie schaffte es, auf die Beine zu kommen und Nannios mit einem wütenden Kriegsschrei anzugreifen. Die scharfe Klinge ihrer Axt, in der sich der Schein des roten Himmels draussen spiegelte, sauste durch die Luft, direkt auf Nannios Kopf zu. Doch dieser reagierte blitzschnell. Er drehte sich etwas ab und die Klinge verfehlte ihn nur knapp. Er sprach einen Zauber auf die Waffe und diese schien auf einmal lebendig zu werden. Sie zuckte unkontrolliert nach vorn, als würden unsichtbare Hände an ihr zerren. Die Kriegerin verlor das Gleichgewicht und liess die Axt los. Die Waffe fiel klirrend zu Boden. Nannios trat sie aus der Reichweiter seiner Gegnerin und machte dann eine lässige Handbewegung. Die Frau ging zu Boden und blieb dort wie angekettet liegen. Sie konnte sich einfach nicht mehr befreien, obwohl es gar keine sichtbaren Fesseln gab.
Okeana sah, durch ihren magischen Blick, dass silberne Bänder, sich um die Wächterin geschlungen hatten und diese am Boden festhielten. Doch lange konnte sie nicht mehr überlegen. Ihre Gegnerin holte bereits zu einem vernichtenden Schlag aus! Die Schwerter summten leise, bis sie klirrend aufeinandertrafen. Sein Sieg über die Wächterin, welche nun ausser Gefecht war, ermöglichte es Nannios, Okeana nun etwas zu unterstützen. Er liess den Boden noch einmal erbeben und die zweite Wache verlor das Gleichgewicht. Mit nur einem konzentrierten Blick, entriss er der Gegnerin die Waffe, die gegen eine der Wände flog und dort stecken blieb. Er machte dieselbe Handbewegung, wie bei der ersten Kriegerin und fesselte auch diese am Boden.
„So,“ meinte er „das wäre erst mal erledigt. Vielen Dank Okeana!“
„Keine Ursache“, erwiderter die Priesterin.
„Das war ein guter Kampf, muss ich sagen“, erklang hinter ihnen die Stimme von Callidia. Sie hatte sich erhoben und einige anderen, die das Heilmittel erhalten hatten, ebenfalls. Alle scharten sich nun um den lunarischen Priester und Okeana. Innert kürzester Zeit waren sie wieder so weit genesen, dass sie kaum mehr Beschwerden hatten und wieder aufrecht stehen konnten. Die Heiler und die noch Kranken, starrten die Gruppe ungläubig und fassungslos an. Dann wandte sich Mediora an Nannios und Okeana. „Was um alles in der Welt habt ihr getan, um sie zu heilen?“
Okeana schaute zu Boden. Irgendwie fühlte sie sich schon ziemlich schuldig. „Es gibt ein Heilmittel… aber ich habe es schon aufgebraucht,“ log sie. „Es wird vermutlich einen Krieg geben und… nur jene die der Königin und der Delegation treu ergeben sind, werden es vorläufig erhalten.“
Nannios nickte etwas bedauernd, um Okeana zuzustimmen.
Mediora rief ungläubig. „Ihr…habt ein Heilmittel und ihr wollt es nicht allen geben? Das ist doch unmenschlich! Was wird aus den anderen? Sie sterben uns nacheinander weg.“
„Es schmerzt auch uns, aber leider gibt es im Augenblick keine andere Möglichkeit“, versuchte der Lunarier sie zu beruhigen.
„Aber… das kann nicht euer Ernst sein!“
„Doch…, leider ist es das. “ Nannios spürte einen Stich im Herzen. Diese Handlungsweise, entsprach sonst gar nicht seinem Kodex als Heiler. Doch er fuhr fort: „Kelana hat uns aufs Übelste hintergangen und nun… wird es ihretwegen Krieg geben.“
Mediora und die anderen Heiler, schienen sehr verzweifelt.
„Aber…unterstützen du und deine Mutter uns wenigstens weiterhin?“ fragte Mediora. „Wir… sind am Ende unserer Kräfte und… die Kranken…, sie überleben das nicht mehr lange.“
Nannios schüttelte betrübt den Kopf. „Ich zumindest, muss jetzt vorerst andere Aufgaben erledigen, um das Schlimmste abzuwenden. Ich kann… euch vorläufig nicht mehr unterstützen, denn… ich ziehe ebenfalls in den Krieg. Etwas aber kann ich tun. Ich kann versuchen die Kranken ein wenig zu stabilisieren und sie in einen magischen Schlaf versetzen, der ihrem Körper etwas Ruhe verschafft. Doch erst, wenn der Kampf entschieden ist, werde ich wieder zurückkommen oder… auch nicht. Auf jeden Fall wird erst, wenn wir Kelana und ihre Getreuen besiegt haben, eine Heilung für alle möglich sein. Es tut mir leid. Ich… hätte es mir auch anders gewünscht.“
Die Heiler und auch die Kranken, die noch einigermassen mitgekriegt hatten, was hier vor sich ging, schauten den Lunarier an. Verzweiflung, Zorn, jedoch teilweise auch eine seltsame Einsicht, lag in ihrem Blick. Schliesslich meinte Mediora tonlos: „Dann bitte, lindere wenigstens ihr Leid, solange du… dich um Kriegsangelegenheiten kümmern musst!“
Nannios nickte und senkte den Blick. In einem Gebet erflehte er die besondere Macht der Göttin. Dieser Zauber würde ihn sonst zu viel Kraft kosten und er musste ja noch seine Freunde befreien. Schliesslich, durchströmte ihn ein helles Licht und er spürte die gewaltige Präsenz der Göttlichen Mutter in sich. Alle Anwesenden schauten erstaunt zu ihm auf, denn ein strahlendes Leuchten, für alles sichtbar, ging nun von ihm aus und legte sich wie eine Aura um ihn.
Callidia flüsterte ehrfürchtig. „Die Göttin, ist wirklich stark in ihm!“ Alle die das Schauspiel beobachteten, wurden zutiefst bewegt. Und so manche, der sonst so überheblichen Harpyas, mussten sich eingestehen, dass wohl doch nicht nur sie allein, das begnadete Volk der Göttin waren. Es gab noch andere Völker, welche der Göttin genauso nahe, wenn nicht noch näher standen. Die ganzen vergangenen Tage, hatten sich die beiden Lunarier rührend um alle Kranken gekümmert. Sie hatten nie einen Unterschied gemacht, zwischen ihnen, egal ob sie Sympathisanten der Delegation waren, oder nicht… Nun jedoch… traf Nannios gezwungenermassen eine Entscheidung, welche ihm sicherlich nicht leichtgefallen war. Er musst sie im Stich lassen und dennoch… lag es ihm am Herzen, ihr Leid wenigstens so weit zu lindern, wie es zum momentanen Zeitpunkt möglich war. Die Harpyas wussten, vielleicht mehr noch, als die anderen Völker, was es bedeutete, teils harte Entscheidungen, zu treffen. Sie taten es eigentlich die ganze Zeit, mit dem Unterschied jedoch, dass sie oft so überzeugt von sich und ihrem Auserwähltsein waren, dass sie diese Entscheidungen meist kaum hinterfragten. Sie wurden einfach getroffen und damit hatte es sich. die Lunarier… sie waren anders. Sie machten sich viel mehr Gedanken über so manches. Sie besassen etwas… etwas von dem viele der kranken Harpyas wussten, dass sie es nicht, oder nur in sehr geringem Masse, besassen. Es war ihnen auch nie erlaubt gewesen. Derlei Gefühle, galten bei ihnen als Schwäche. Doch… war es auch wirklich Schwäche? Waren sie auf dem richtigen Pfad, oder… vielleicht doch nicht?