Irisa hörte dem Redeschwall ihrer Mitschwester etwas unbeholfen zu, das alles war für sie vollkommenes Neuland und doch…irgendwie berührte es sie. Aellias leidenschaftliche Gefühle, das Leuchten dass von ihr ausging, ein Leuchten, dass Irisa an ihr bisher nie wahrgenommen hatte. Sie war wie verwandelt und irgendwie, ganz tief drin beneidete Irisa sie dafür. Auf einmal tauchte vor ihrem inneren Auge ein Gesicht auf, das Gesicht eines Masculinas. Sie hatte sich einst mit ihm gepaart und dann hatten sie sich noch ein paar Mal getroffen. Dieser Masculina hatte Irisa damals auf seltsame Art berührt, aber sie hatte sich wieder von ihm distanziert, denn eine Harpya liess solche Gefühle erst gar nicht zu. Es war eine Beleidigung der Göttin und Masculinas waren es nicht wert, dass man an sie zu viele Gefühle verschwendete. Dann irgendwann starb dieser Masculina in einem etwas länger zurückliegenden Kampf gegen die Gorgonas. Sie glaubte ihn vergessen zu haben, aber…auf einmal entsann sie sich wieder dem seltsamen Schmerz, den sie bei seinem Tode empfunden hatte. Er war ihr nicht so egal gewesen, wie sie es sich eingeredet hatte und nun…auf einmal suchte Irisa dieser Schmerz wieder heim. Sie blickte etwas nachdenklich auf die Wandbehänge, mit den farbenfrohen Bildern und schaute dann Aellia erneut an. „Was du da erzählst klingt wundervoll und ich glaube, dass ich schon ein Bisschen Ahnung von solchen Gefühlen habe, wenn auch nur eine sehr vage. Dennoch müssen vor allem wir als Priesterinnen und Dienerinnen der grossen Lilithia die Gesetze, welche uns unsere Göttin gab befolgen. Wir dürfen auch nie die Leiden aus den Augen verlieren, welche sie durch die Männer, auch die männlichen Götter erfuhr. Wir leben schon seit Jahrhunderten im Land des dunklen Mondes, stets beschienen von der grossen Lilithia. Wir sind ihr auserwähltes Volk und ihre Kinder. Wir leben frei und ungebunden, niemand herrscht über uns und es wird auch niemals so sein, weil wir das nicht zulassen und die dunkle Göttin die grosse Kriegerin ist, welche uns beschützt.“ „Das ist ja eben das Problem unseres Volkes!“ rief Aellia nun erneut ärgerlich aus. „Wir halten uns für so besonders, dabei haben wir diese Einsamkeit dort oben doch nur gewählt, um uns als Auserkorene zu fühlen. Doch eigentlich haben wir gar nichts, wir haben Fels, Lava, den dunklen Mond, aber wir leben nicht wirklich, weil wir dem Leben keinen Raum lassen. Wir verschmähen unsere männlichen Kinder, wir sind kühle Mütter, die nicht mal unsere weiblichen Kinder in den Arm nehmen und sie herzen. Wir haben keinen der an unseres Seite lebt, jemand der zu uns hält, aber uns zugleich auch respektiert. Das habe ich hier alles gefunden, alles gesehen. Die Lunarier haben ein besseres Leben als wir, weil sie offen für die Liebe sind, in all ihren Facetten. Die Göttin herrscht hier auch, aber nicht allein, es gibt auch noch den Sonnengott und die beiden leben im Einklang miteinander, ergänzen sich. Sollten wir diese Ergänzung nicht auch kennenlernen? Wie können wir die Vielfalt des Lebens, der Liebe jemals kennenlernen, wenn wir uns auf so fatale Weise diesen Wonnen verschliessen? Wir müssten unsere Macht nicht ständig unter Beweis stellen, wenn wir in uns selbst sicher genug wären, aber wir haben diese Sicherheit nicht, weil man uns diese Sicherheit nie vermittelt hat. Ich habe es satt in Angst zu leben Irisa, denn wir leben in Angst, wir leben doch eigentlich in ständiger Angst, unsere Macht an die Männer verlieren zu können, aber es müsste nicht sein. Es gibt andere Wege! Es gäbe ein Leben ohne Angst! Sieh nur, wir haben ein gewaltiges, lebensbedrohendes Problem: wir haben keine Männer mehr in unserer Welt. Eine Folge von jahrhundertelanger Unterdrückung und Diskriminierung, welche wir ihnen ständig zuteil werden liessen. Unsere Erbanlagen haben sich verändert, sind ganz auf das Zeugen von weiblichen Nachkommen ausgerichtet und so haben wir uns unser eigenes Grab geschaufelt. Wir sind selbst Schuld an diesem Desaster. Ich glaube nicht, dass dies im Sinne der grossen Lilithia ist!“
Aellia atmete nach ihrem Redeschwall tief durch und schaute ihre Mitschwester erwartungsvoll an. Diese war mit etwas Mühe den vielen Ausführungen gefolgt und schwieg nun erneut nachdenklich, als wolle sie nochmals alles auf sich wirken lassen. „Nun gut“, meinte sie dann. „Mit vielen Dingen magst du tatsächlich Recht haben. Es ist vermutlich schon etwas unsere eigene Schuld, dass wir diese Probleme haben. Ich kann deine Gefühle und deine Meinung jetzt immer besser verstehen. Wir kennen uns schon lange und ich habe schon immer deine Fähigkeit bewundert, die Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten. Was also schlägst du als weiteres Vorgehen vor?“ Aellia konnte sich kaum fassen vor Glück. Tatsächlich hatte Irisa sich von ihren Worten berühren lassen! Neue Hoffnung keimte in ihr, vielleicht würden die andern Harpyas sie auch anhören und verstehen, wenn sie ihnen die Situation erklärte.
„Natürlich steht die Rettung unseres Volkes im Moment an erste Stelle“, sprach Aellia. „Ich habe mit der Hohepriesterin der Lunarier schon darüber gesprochen und tatsächlich haben sich schon viele Männer von hier bereit erklärt, sich mit uns zu paaren. Ich glaube also nicht, dass Gewalt der richtige Weg ist. Ich meine, unwillige Männer können auch sehr anstrengend sein und…es wäre auch unmenschlich sie gegen ihren Willen zur Zeugung zu bewegen. Besonders bei diesem Volk, weil die Lunarier sich das schlichtweg nicht gewöhnt sind. Sie gehen, wie erwähnt, oft feste Bindungen mit einer Partnerin ein und ziehen zusammen mit ihr die Kinder beider Geschlechter auf. Es gibt hier keine Unterschiede wie bei uns und…die Lunarier sind auch nicht so angepasste Geschöpfe wie unsere Männer. Es muss also auf freiwilliger Basis geschehen mit den Paarungen, dazu kommt noch, dass das Volk dieses Landes bei uns gar nicht überleben könnte. Unsere Umweltbedingungen sind zu lebensfeindlich für sie, das weiss ich von den Drakoniern. Die Harpyas müssten also hierher reisen, um sich zu paaren. Ausserdem hat die Hohepriesterin eine Bedingung daran geknüpft, das die Lunarier uns helfen unser Volk zu erhalten: die Väter müssen die Möglichkeit haben ihre Kinder regelmässig zu sehen, auch wenn sie bei uns leben sollten.“ Irisas Blick verfinsterte sich etwas. „Das ist aber eine ziemlich unverschämte Forderung, immerhin haben wir seit jeher unsere Kinder, vor allem die Töchter, ohne die Väter aufgezogen.“ „Ja und genau das hat ebenfalls unseren Niedergang beschleunigt, weil so keine guten Bindungen zu beiden Elternteilen entstehen konnten, wir also dadurch auch eine gewisse Gefühlskälte entwickelt haben, die sich auf die Vielfalt und Schönheit des Lebens negativ ausgewirkt hat. Ich meine, wie kann man als Frau einen natürlichen Bezug zum männlichen Geschlecht bekommen, wenn man den Vater kaum bis gar nicht kennengelernt hat? Ich jedenfalls würde meinen Vater nun gern näher kennenlernen, geht es dir nicht auch etwas so? Fühlst du nicht auch, dass dir etwas in deinem Leben fehlt?“ Irisa überlegte, dann erwiderte sie. „Ich ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Es ist manchmal schon eine gewisse Leere in mir, die ich immer zu füllen suche, aber die irgendwie immer bleibt. Ob das aber damit zu tun hat?“ „Ich bin ziemlich sicher, dass das damit zu tun hat. Man müsste es einfach mal ausprobieren, aber das würde heissen vieles in unserer Welt zu verändern. Ich habe einige Ideen, welche ich Kelana und der Königin gern unterbreiten würde. Es könnte unserem Leben neuen Sinn verleihen und ich bin sicher, unsere Göttin würde das begrüssen, denn sie liebt uns. Sie liebt alle Lebewesen, da bin ich mir sicher. Und die Änderungen, die ich mir vorstellen, würden Leben ganz bestimmt unterstützen und nicht abtöten. Kann ich also auf deine Unterstützung zählen Irisa?“ Die Angesprochene dachte erneut nach „Ja, ich denke schon. Ich weiss zwar nicht was du genau vorhast, aber ich werde versuchen, mich für Neues offen zu halten. Auch wenn…es mir in gewisser Weise Angst macht. Aber wie du sagtest, genau diese Angst gilt es doch eigentlich zu überwinden und ich glaube auch das Lilithia ihre Geschöpfe glücklich sehen will. Wenn uns Neuerungen glücklicher und erfüllter machen können… nun, ein Versucht ist es wert. Und…wenn du in die Männer Vertrauen hast, dann will ich auch versuchen zu vertrauen. Denn…eigentlich scheint diese Liebe schon ein schönes Ding zu sein.“ Aellia lächelte. „Das ist es in der Tat und ich bin überzeugt, dass wir unserem Volk noch viel mehr als das Über- leben sichern, wir sicher ihnen das Leben, ein wahres wunderbares Leben!“ Irisa nickte. „Das klingt zumindest sehr schön, mal sehen, was daraus schlussendlich wird…“