Als Nannios die Kraft der Göttin auf sich herabgerufen hatte, welche nun sein ganzes Sein und all seine Zellen ausfüllte, erhob auf einmal eine der kranken Priesterinnen, welche Kelana sonst treu ergeben gewesen war, ihre Stimme: „Bitte warte noch einen Moment, Sohn der lunarischen Hohepriesterin! Ich möchte noch etwas sagen, bevor du mich in den heilenden Schlaf versetzt!“
Nannios schaute sie erwartungsvoll an. „Wenn du es wünscht“, erwiderte er ruhig, auch wenn es ihn innerlich drängte, endlich aufzubrechen. Die Priesterin, welche sich Sarpentia nannte, fuhr fort: „Ich möchte mich bei dir für alles, was du schon für uns getan hast bedanken. Ich weiss…, dass du dir die Entscheidung, uns im Stich zu lassen, nicht leicht gemacht hast und ich verstehe dich. Du hast ein Ideal, dass du verfolgst und welches unser Volk vielleicht zu wenig kennt. Ich… für meinen Teil, bewunderte dich und dein Volk sehr und wenn du und deine Delegation unsere Welt auch umgestalten wollen. So wisse, dass ich euch unterstützen werde, wenn ich diese Krankheit überstehen sollte, denn ich weiss, eure Absichten sind ehrenwert!“ Die Worte der Harpya, klangen sehr aufrichtig und sie brachten ihr von seitens der anderen Kranken, teils zustimmende, teils kritische Blicke ein. Nannios war tief berührt und erwiderte: „Ich danke dir… Sarpentia, für diese Worte! Ich spüre, dass sie tief aus deinem Herzen kommen.“
Er wandte sich an Okeana: „Haben wir vielleicht doch noch etwas mehr von dem Heilmittel?“
Die junge Frau schüttelte betrübt den Kopf: „Nein. Wir haben die Fläschchen abgezählt, aus Sicherheitsgründen.“
Nannios nickte und schaute Sarpentia traurig an. „Ich kann… leider im Augenblick nicht mehr für dich tun, aber ich werde dafür sorgen, dass dir und auch jenen, die vielleicht so denken wie du, sehr bald geholfen wird.“
Die Angesprochene nickte, und sprach: „Nun, wenn ich nur mal etwas schlafen und mich erholen kann, bin ich schon sehr dankbar.“
Einige der Harpyas nickten zustimmend. Auch in ihren Herzen, schien die Einsicht Einzug gehalten zu haben, was Nannios sehr glücklich machte.
Er nickte ihnen nochmals kurz und mit Wertschätzung zu. Dann hob er seine Hände und sprach den Schlafens- Zauber über die Kranken…
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Irisa und ihre Kämpferinnen, hatten mittlerweile die Drachenschiffe erreicht. Sie waren auf alles gefasst und aufs Äusserste angespannt.
Hier an diesem Ort, würde sich eine überaus wichtige Schlacht entscheiden, das spürten sie. Noch waren sie früh genug und sie nahmen sofort Aufstellung um die Anlegestege herum. Die Drakonier waren ebenfalls in Alarmbereitschaft. Es war ihnen selbst ein grosses Anliegen, ihre Schiffe nicht an Kelana und ihre fanatischen Anhänger zu verlieren. Dennoch, war Irisa klar, dass die Drakonier, wenn irgend möglich, einem Kampf aus dem Weg gingen. Ihr neutraler Status verlangte das von ihnen. Irisa und ihren Helferinnen, machten sich keine solchen Gedanken. Sie würden bis zum Tode kämpfen, wenn es sein musste, um Kelanas Schandtaten Einhalt zu gebieten.
Tatsächlich dauerte es nicht lange und die ersten, von der harpischen Hohepriesterin Erwählten, erschienen. Als sie Irisa und ihre Leute sahen, verfinsterten sich ihre Mienen. Einen Augenblick lang, starrten sich die beiden Parteien nur an und belauerten einander gegenseitig. Noch wollte niemand den Kampf beginnen. Eine grosse Harpya, mit feurig-rotem, kurzem Haar, herben, männlichen Gesichtszügen und einem schwarzen, nur mit sehr wenig Rot meliertem Gefieder, schwebte nach vorn. „Wir wollen die Drachenschiffe an uns bringen, zum Ruhme unserer grossen Hohepriesterin! So macht den Weg besser frei und lasst uns vorbei!“
Irisa schwebte ebenfalls ein Stück nach vorn und erwiderter kalt: „Wir denken nicht daran, euch vorbeizulassen! Wir sind hier, um unter allen Umständen zu verhindern, dass ihr nach Equilibria gelangt.“
„Ihr wollt also tatsächlich einen Bürgerkrieg anzetteln, für etwas, das eigentlich pure Blasphemie ist? Die Göttin wird euch dafür bitter strafen.“
„Ich habe keine Angst vor dem Zorn der Göttin, weil ich weiss, dass sie auf unserer Seite kämpft. Allerdings solltet ihr euch darüber Sorgen machen, denn ihr seid es ja schliesslich, die alle Welten ins Unglück stürzen wollen. Die Göttin sieht das gar nicht gern, denn in ihren Augen sind alle ihre Kinder gleich.“
Die andere Harpya lachte schallend: „Das alle ihre Kinder gleich sind, wage ich zu bezweifeln. Es gibt nur sehr wenig Auserwählte.“
„Natürlich denkt ihr da vor allem an euch selbst“, spottete Irisa. „Aber glaubt mir, ihr werdet von unseren Schwertern schneller durchbohrt, als euch lieb ist und dann werdet ihr vor die Göttin treten und euch rechtfertigen müssen. Rechtfertigen dafür, dass ihr und eure irregeleitete Hohepriesterin, einen Bürgerkrieg angezettelt habt.“ Ihr wart es, die diesen Krieg angezettelt habt!“ rief die rothaarige Harpya zornig.
Irisa schüttelte den Kopf. „Du irrst. Wir wollen Frieden, darum werden wir auch Gnade walten lassen, wenn ihr euch doch noch entschliessen solltet, euch wieder von den Schiffen zu entfernen.“
Die Augen der grossen Harpya funkelten. „Das ist nicht möglich! Wir haben unsere Befehle und… wir haben keinesfalls vor, kampflos zuzusehen, wie alles was uns wichtig ist, den Bach runter geht.“
Ein leiser Schatten der Trauer, legte sich über Irisas Gesicht und sie sprach: „Das, wofür wir hier einstehen, ist uns ebenfalls überaus wichtig. Wenn wir keine Lösung miteinander finden können, müssen wir leider gegen euch kämpfen, auch wenn ihr unsere Schwestern seid!“
Irisa ergriff ihr Doppelschwert, welches im spärlichen Licht nun bedrohlich aufleuchtete.
Ihre Gegenüber, zog ebenfalls die Waffen. Es handelte sich dabei um zwei handliche Breitschwerter, mit todbringenden, gezackten Klingen, die einem Gegner übelste Verletzungen zufügen konnten.
„Dann ist es wohl unumgänglich“, sprach Irisa betrübt: „Wir werden den ersten Krieg gegen unser eigen Fleisch und Blut führen. Möge die Göttin sich jener Seite zuneigen, welche auf dem Weg der Gerechtigkeit wandelt!“
„Es wird nicht eure Seite sein!“ rief die Anführerin des feindlichen Zuges und dann stürzte sie sich mit einem wilden Kriegsschrei auf Irisa…
„Sie schlafen jetzt alle“, sprach Callidia. „Es ist wirklich wunderbar, diese Ruhe… dieser Frieden! Die Kranken und auch die Heilerinnen, werden auch sehr dankbar für diese Pause sein.“ Sie hatte recht, denn gleich nachdem die Kranken eingeschlafen waren, hatte sich die eine oder andere Heilerin, mit einem erleichterten Blick zu Nannios, selbst auf eine der vielen Decken gelegt und war sogleich eingeschlafen.
„Wie geht es jetzt weiter?“ fragte Okeana schliesslich mit gesenkter Stimme. Nannios wollte von ihr alle Neuigkeiten, den Konflikt mit Kelana betreffend, erfahren. Nachdem die junge Priesterin ihn auf den neuesten Stand gebracht hatte, verteilte er die Aufgaben. „Okeana,“ sprach er, „du gehst sogleich zu Aellia zurück und berichtest ihr, dass wir meine Mutter und die anderen der Delegation befreien werden. So macht sie sich nicht mehr so viele Sorgen. Ihr anderen, kommt mit mir!“
„Warum darf ich nicht mit euch kommen?“ wollte die junge Priesterin wissen.
„Du hast hier schon mehr als genug getan. Aellia und Irisa werden dich sicher gebrauchen können.“
Okeana nickte, wenn auch etwas widerwillig und entfernte sich dann. Der lunarische Priester schaute ihr nachdenklich hinterher. Sie war doch noch so jung und musste schon so einen schrecklichen Krieg miterleben. Schliesslich wandte er sich an Callidia und die anderen Genesenen: „Wie fühlt ihr euch?“
„Schon viel besser.“
„Okay, dann nehmt die Waffen, die hier herumliegen mit und folgt mir! Ich glaube ich weiss, wo meine Mutter sich aufhält. Es ist hier ganz in der Nähe. Wir werden die Wachen ausser Gefecht setzen müssen und ich werde versuchen, die Zauber um ihr magisches Gefängnis zu entfernen. Vielleicht können du und deine Priesterinnen mir dabei helfen, Callidia. Euch sind die magischen Kniffe Kelanas besser bekannt.“
Callidia nickte. Sie war etwa im selben Alter wie Podargia die Königin, hatte schwarzes schulterlanges Haar mit roten und ein paar grauen Strähnen darin. Ihr Gefieder war schwarz. Die Flügel, abgesehen von den roten Schwungfedern, ebenfalls. Sie hatte ein ebenmässiges Gesicht, mit wenig Falten um die Augen und ihre Lippen waren nicht gar so voll, wie jene der Königin. Ihre Augen waren kaffeebraun und blickten weise und sehr entschlossen. Als Nannios sie anschaute, durchfuhr ihn plötzlich eine seltsame Eingebung. Er sah Callidia auf einmal als Hohepriesterin vor sich! Dieser Moment währte jedoch nur kurz und er wandte etwas verwirrt den Blick ab.
Sollte diese Frau tatsächlich zur Nachfolgerin Kelanas berufen sein? Wenn diese Eingebung stimmte, dann bedeutete dies, dass sie den Kampf gewinnen würden. Diese Aussicht war sehr tröstlich. Neben Callidia begleiteten Nannios noch drei weitere, harpische Priesterinnen. Die meisten ihrer Kaste, waren sonst auf Kelanas Seite. Der Rest der 12-köpfigen Truppe, bestand aus vier Kriegerinnen und drei Jägerinnen. Sie sammelten alle Waffen ein, die noch herumlagen und fesselten und knebelten die beiden Wächterinnen, welche Nannios ins Lazarett gebracht hatten. Dann verliessen sie das Lazarett.