Ein gewaltiger Ruck ging auf einmal durch das Schiff! Es schwankte und ächzte bedrohlich. Aellia und die anderen in der Kajüte, verloren das Gleichgewicht und stürzten. Die Harpya blickte erschrocken nach draussen. Es hatte sich jedoch nichts in der Umgebung verändert. Ein weiterer mächtiger Ruck und jene die es geschafft hatten, sich nach dem ersten Sturz zu erheben, wurden erneut hart zu Boden geschleudert.
„Was bei allen Göttern ist das!?“ rief Aresios aus und rappelte sich hoch. Wohlweislich hielt er sich nun an einem der Stützpfosten der Kajüte fest, als ein weiterer, noch viel heftiger Ruck durch das Schiff ging. Es war als würde sich etwas Riesengrosses dagegen werfen. Einen Moment lang kehrte wieder Ruhe ein und alle schafften es mit gegenseitiger Hilfestellung, wieder auf die Beine zu kommen.
„Wartet hier!“ befahl Aresios. „Ich sehe mal nach.“
Die andern Drakonier folgten ihm. Aellia überlegte einen Moment, ob sie gehorchen sollte. Schliesslich entschloss sie sich, einer Harpya entsprechend, zu reagieren und den Gehorsam diesmal zu verweigern. Vielleicht konnte sie ja helfen. Nannios folgten ihr und nach einigem Zögern auch Trojanas.
Als die junge Frau auf das Deck kam, herrschte ein riesiges Durcheinander. Die Drakonier von fast allen Schiffen, hatten sich an Deck des grössten Schiffes versammelt und suchten den Himmel mit ihren Augen ab.
In diesem Augenblick fiel ein dunkler, geflügelter Schatten über sie! Aellia blickte erschrocken nach oben. Über dem Schiff schwebte einen mächtige Gestalt, so gross wie die Reitlöwen der Solianer und die Pegasosse der Lunarier. Die Kreatur kreischte laut und zornerfüllt, flog dabei einen Bogen und stiess nun, von oben, auf das Schiff herab. Es war eine seltsame Kreatur, mit einem tiefschwarz glänzenden Gefieder, einem Adlerkopf, mit spitzem Schnabel und einem Löwenkörper. Seine Hinterläufe waren Löwentatzen und die Vorderbeine scharfe Vogelkrallen.
„Es ist ein Greif!“ hörte sie Aresios Stimme nahe neben sich. Der Drakonier schien sehr aufgeregt und zutiefst beeindruckt. „Diese Wesen…man dachte sie wären schon lange ausgestorben.“
„Er greift uns an!“ rief die Priesterin aus und wollte sogleich einen Zauber weben, welcher der Kreatur den Garaus machen sollte.
„Nein!“ Aresios hielt sie zurück. „Vielleicht ist er der letzte seiner Art, wir müssen ihn lebend fangen!“
„Lebend? Aber wie…“ Aellia verstummte, als sich der Anführer der Drakonier zu verwandeln begann. Sein Körper begann sich zu verformen, seine Glieder wurden länger und Hände und Füsse wurden zu Klauen. Der Kopf wurde ebenfalls in die Länge gezogen, sein Mund verwandelte sich in eine, mit scharfen Zähnen bewehrte Schnauze. Hörner wuchsen aus seinem Haupt und die Haut wurde zu rotglänzenden Schuppen.
Aellia und ihre Begleiter hatten noch nie gesehen, wie sich ein Drakonier in seine Drachengestalt verwandelte. Es war ein unheimliches und zugleich einzigartiges Erlebnis. Mit offenem Mund starrte Aellia auf die mächtige Kreatur, die nun vor ihr über dem Schiff schwebte. Die recht kleinen, ledrigen, dunkelbraunen Schwingen, waren ersetzt worden, durch gewaltige rote. Diese breitete Aresios nun aus und erhob sich mit einer wundervollen Behändigkeit und Schnelligkeit in die Lüfte. Auch zwei andere Drakonier hatten sich verwandelt. Sie alle schossen nun wie Pfeile auf den Greif zu, welcher doch ein beachtliches Stück kleiner war als sie.
Aellia beobachtete das Schauspiel fasziniert. Die Drachen, begannen den Greif zu umkreisen und dieser schien zuerst ziemlich eingeschüchtert. Sogleich jedoch fasste er sich wieder und griff einen seiner Gegner mit enormer Wucht an. Sein scharfer Schnabel hinterliess eine blutig Spur auf der Schnauze des Drachen.
Dieser brüllte und ging zum Gegenangriff über. Er hielt sich jedoch zurück, das merkte man. Er wollte den Greif nicht töten. Dennoch fügte er dem Gegner ebenfalls eine blutende Verletzung, mit seinem mächtigen Gebiss zu. Dies jedoch, schien das Mischwesen nur noch mehr anzustacheln. Es kreischte, schlug und hackte immer mal wieder auf einen der Drachen ein. Die Krallen seiner Löwentatzen fügten nun auch Aresios eine blutende Wunde auf seiner Flanke zu. Der verwandelte Drakonier, schnappte nach dem Greif und warf sich dann mit seinem ganzen Körpergewicht gegen ihn. Das schwarzgefiederte Tier, taumelte und wirkte etwas benommen. Doch es gab nicht auf. Obwohl, einiges kleiner als die Drachen, wehrte es sich wie ein Berserker. Aellia verstand nicht so recht, warum es nicht die Flucht ergriff, im Angesicht dieser Bedrohung. Artemia, die sich ebenfalls zu ihnen gesellt hatte, stellte dem Drachenmagier, welcher sich Hefaistos nannte, eine Frage, welche Aellia schon ganz zu Beginn des Greifen Angriffs gequält hatte: „Warum ist er so aggressiv? Warum flieht er nicht einfach?“
„Ich vermute, weil wir irgendwie in sein Territorium eingedrungen sind. Vielleicht hat er sogar Junge? Ich weiss nicht. Jedenfalls haben wir seit Ewigkeiten keinen dieser Wesen mehr gesehen. Früher waren sie zahlreich, doch dann muss sich irgendetwas im Land des dunklen Mondes verändert haben, denn plötzlich verschwanden sie.“
Artemia blickte nachdenklich zu dem Greif empor. „Er… ist ein sehr intelligentes Wesen, ich habe in seine Gedanken gesehen. Da muss noch ein anderer Greif sein… sie haben sich gepaart. Ja… es sieht wirklich so aus, als würde er mehr als nur sein Territorium verteidigen.“ Alles schaute die Priesterin der Lunarier erstaunt an.
Nur Nannios schien wenig überrascht. Erklärend meinte er an Aellia gewandt. „Sie hat die Gabe mit Tieren in Verbindung zu treten und sogar, in gewisser Weise, mit ihnen zu kommunizieren.“
Die Harpya schaute erneut hinauf zu den Kämpfenden. Der Greif blutete mittlerweile aus vielen Wunden, es waren jedoch nur harmlose Fleischwunden. Die Drachen hatten jedoch auch alle etwas abgekriegt. Aellia staunte über die Kraft und die Anmut des schwarzgefiederten Wesens, das nicht daran dachte, aufzugeben. Es war ein sehr geschickter, wendiger Flieger und konnte vielen Attacken, der etwas schwerfälligeren Drachen ausweichen. Immer wieder gelang es ihm, letztere entweder mit seinem Schnabel, seinen Krallen oder seinen Löwenklauen zu erwischen.
Die Drachen hatten wohl vor, ihn so weit zu schwächen, dass sie ihn immer näher ans Schiff herantreiben konnten, ihn dann dort, mit Hilfe der andern der Drakonier, zu überwältigen und gefangen zu nehmen.
„Schwarze Greife…“ murmelte Aellia leise vor sich hin „sie wären grossartige Reittiere für mein Volk.“
„Irgendwie schmerzt es mich, ihn so zu sehen,“ sprach Artemia. „Ich glaube… ich versuche mal ihn zu beruhigen, sonst wird er noch schlimmer verletzt, wenn er sich so heftig wehrt.“ „Meinst du, das gelingt dir?“ fragte Nannios.
„Ich gebe mein Bestes, allerdings hatte ich bisher noch nie mit so einem Mischwesen zu tun. „Versuch es einfach!“ meinte Aellia „schaden kann es sicher nicht.“
So konzentrierte sich Artemia und sandte ihre Gedanken empor zu dem Greif. Eine seltsames, überirdisches Leuchten ging dabei von ihr aus und umhüllte sie wie eine strahlende Aura. Nur Zauberkundige konnten das sehen. Die lunarische Hohepriesterin schloss die Augen und nahm in Gedanken Verbindung mit dem Greif auf.
Dessen Gedanken waren jedoch sehr wirr und er konnte nicht wirklich auf sie hören. So tastete sie mit ihrem Geist nach dem Bereich, unterhalb seines Herzens, dessen Zentrum wie ein wilder, goldener Wirbel kreiste.
Alle Lebewesen besassen diese Zentren, nur waren sie je nach Geschöpf, etwas anders gelagert. Artemia hatte die Gabe, diese Zentren zu sehen und je nach dem zu beeinflussen oder zu stimulieren. Das machte sie auch zu einer so herausragenden Heilerin. Sie konzentrierte sich und sandte Ruhe und Frieden, in die Seele des Greifs.
Dieser begann tatsächlich immer weniger Widerstand zu leisten. Er wurde müder und müder. Die Drachen merkten das und begannen ihn näher und näher an das Schiff heran zu treiben. Der Greif wehrte sich nicht mehr. Er liess alles mit sich geschehen, bis sein grosser Leib sich auf dem Deck des Schiffes niederliess und… in einen friedvollen Schlaf hinübergleitete.
Die Drachen landeten ebenfalls und verwandelten sich wieder in ihre menschliche Gestalt zurück.