Die Burgmauern kamen in Sicht. Die Holzbrücke war unten, führte sicher über den ersten Wassergraben. Die Ketten, die sie halten sollten, waren aus ihren Verankerungen gerissen und das Fallgitter … Trigon hätte es nicht geglaubt, hätte er es nicht selbst gesehen, aber auch das dicke Eisen war kein Hindernis gewesen. Der klägliche Rest des Fallgitters hatte die Form eines weit geöffneten Mauls angenommen. Stücke des Metalls lagen herausgebrochen und geschmolzen da. Aus dem Rachen kam Trigon ein starker, düsterer Hauch entgegen.
Niemand befand sich im Innenhof. Niemand, der noch lebte. Leichen aber waren mehrere verteilt. Stadtwachen. Und die Reste der Pagsele. Sie hatte versucht sich in den Schatten zu flüchten, aber es war zu spät gewesen. Ihr Körper zischte leise und Dampf stieg von ihr auf. Knochen ragten aus ihrem Fleisch, das vollkommen dunkel geworden war und sich aufzulösen begann. Trigon musste einen Würgereflex unterdrücken, als er an ihr vorbei und bis zum Ende des Innenhofs eilte.
Trigon erreichte die kleine Steinbrücke, die über einen zweiten Graben direkt zu dem grossen Tor vor dem Herzen der Burg führte. Es musste so einfach gewesen sein für den Heerführer, trotz all ihrer Massnahmen. Das Tor war von innen verriegelt. Aber nicht von Liskias Garde. Nicht mehr. Auch dieses Holz war mit Eisen umfasst und zusätzlich beschlagen, aber Trigon war ein Mensch, ihm konnten die Symbole des Dvarrnuvs weniger anhaben. Er legte seine Finger an das Holz und sammelte Energie. Er wollte das Tor öffnen, ein Loch hineinzaubern oder es sogar sprengen. Das Eisen würde den Zauber schwächen, aber er musste da durch! Seine Lippen zitterten. Es war so kalt und doch heiss in der Rüstung. So laut. Er spürte eine Barriere in ihm, die gegen die Magie drückte, und die Schemen zogen von aussen und auf einmal kreisten wieder alle Gedanken und schwirrten um ihn umher und seine innere Stimme wollte so viele Dinge gleichzeitig und dass Yarr sog ihm alle Luft aus den Lungen!
Trigon keuchte und er wusste, dass er sich das zumindest zu Teilen nur einbildete. Aber das Wissen machte es nicht weniger schlimm. Er liess sein Schwert fallen, fummelte nach dem Verschluss seines Helmes, rutschte ab, fand und öffnete ihn, riss sich das ganze Stück vom Kopf, hustete und füllte seine Lungen tief mit der kalten Winterluft. Es half, aber der Geruch des toten Vampirs und das Wissen um das restliche Grauen erreichte ihn nun ebenfalls besser und liess Trigon wieder würgen. Er stützte sich am Tor und versuchte die Kontrolle über seinen eigenen Körper und Kopf wieder zu erlangen. Ohne die beiden konnte er die Kräfte seiner Seele nicht korrekt verwenden und alles würde noch schlimmer.
„Vater Magier. Höre zu.“
Die Worte liessen ihn verharren. Nur sehr langsam drehte sich Trigon um und blinzelte. Niemand befand sich im Innenhof, doch dort stand ein Mädchen. Im Schatten neben der Pagsele stand ein Mädchen. Der Anblick und Geruch der toten Bestie schienen es nicht zu stören. Die Mauer hinter dem Mädchen war einst weiss gewesen, nun wirkte sie grau. Das Mädchen aber leuchtete hell wie ein Gespenst und sah auch so aus, obwohl sein Haar und seine Augen dunkel waren. Seine Stimme war leise und doch laut gewesen und es hatte ihn weder auf Mittländisch noch sonst eine menschliche Sprache angesprochen. Trigon wusste, dass sein Kopf ihm einen Streich spielte, dass alles gerade zu viel für ihn war, und trotzdem konnte er das Mädchen nicht ausblenden, konnte nicht weitergehen. Vor und hinter ihm wartete nur noch mehr Leid. Aber dort stand ein Mädchen, scheinend und vom Leid rundherum unberührt.
„Zoyarrs Wächter. Wenige stehen blind hinter ihm. Aber er hat den Frieden zerbrochen. Finde den Frieden, Vater Magier. Denn selbst zerbrochen ist er eine Waffe in –“
Ein Kreischen übertönte die Botschaft des Mädchens. Trigon wurde nur für einen Moment unaufmerksam und das Mädchen war fort. Liess keine Spur übrig, war nie hier gewesen. Trigons Finger aber kribbelten, sie waren auf einmal so voll mit Magie. Der Hexer. Zoyarrs Diener. Er war so nahe. Wie konnte er Frieden finden? Würde sein Bannzauber funktionieren?
Eine Tür sprang auf und eine Edeldame, ein Gast der gestrigen Feier, eilte aus einem der anliegenden Gebäude. Sie passierte eine kleine Hecke und schrie, als sich ihr Kleid in den nackten Zweigen verfing. Kurz verstand Trigon das gar nicht und starrte nur, denn ihm war, als würde die Pflanze ihre Äste aktiv nach der Dame ausstrecken. Eine Wurzel befreite sich schlagartig aus der Erde und packte sie am Bein. Die Edeldame stürzte.
Die Tür wurde erneut aufgeschlagen. Zwei Männer traten in den Hof. Sie trugen Rüstungen aus Leder, hohe Stiefel und Handschuhe, keine Überwürfe mit Wappen. Aber Waffen.
„Hatten dich jo gewarnt, Fräulein! Aber Fräulein hat jo Tran in den Ohren!“, rief einer der Männer auf Norden. Der andere sagte ebenfalls etwas, aber sein Dialekt war einer, den selbst Trigon nicht verstand. Sie waren angeheuerte Söldner aus dem eisigen Norden. Feinde. Es war nirgends sicher.
Der Söldner mit dem starken Dialekt packte die Edeldame und riss ohne Rücksicht auf ihren Fuss an ihr. Die Dame jaulte und Trigon konnte nicht zulassen, dass ihr etwas passierte. Er kannte ihren Namen nicht, aber er konnte nicht wegschauen. Die gesammelte Energie pulsierte noch immer in seinen Fingerspitzen. Er hastete über die Brücke zurück zu ihnen und liess die Energie hinaus, auch wenn er in diesem kurzen Moment keine Worte dazu fand.
Trigons Magie erschien wie schon auf dem Schlachtfeld in der Form von Eis. Aussehen tat es diesmal aber anders. Keine gezielten Dornen erschienen, sondern ein einzelnes, leuchtendes Geschoss, das kurz vor dem Söldner zersprang. Die Explosion war gross, selbst Trigon wurde von einigen Splittern getroffen. Das Eis war mehrere harte Schläge auf der summenden Plattenrüstung. Die Söldner und die Edeldame schrien auf.
Trigon blinzelte. Der Söldner, dem der Angriff gegolten hatte, wankte, kippte dann rückwärts um. Die Eissplitter hatten sich tief in sein Gesicht und selbst durch das Leder hindurch in die Brust und die Arme gebohrt. Nur wenig Blut floss, doch das machte den Anblick nicht weniger grässlich. Trigon kam zitternd näher, fühlte sich selbst verletzt und konnte trotzdem nicht wegsehen.
„Nuira, Scheisse!“, fluchte der zweite Söldner, der mehr Abstand gehabt hatte.
Er wischte sich Blut aus dem Gesicht, aber viel brachte es nicht. Es quoll aus drei tiefen Schnitten über seine rechte Gesichtshälfte. Das Rot bildete einen seltsamen Kontrast zu den einfachen, grünen Strichen auf den Wangen des Mannes. Markierungen, die trotz allem nicht verschmiert waren. Auch das Haar des Söldners war grün, grün wie Moos im Sommer, nicht wie das Haar eines Menschen, nicht wie etwas, das hier in den kalten Winter gehörte. Und für einen kurzem Moment glaubte Trigon, dass sogar einige der Blutstropfen grün schimmerten. Er starrte den Söldner an und er starrte zurück, schaute dann hinunter zu seinem toten Kollegen. Er und Trigon schwiegen beide, verarbeiteten das Geschehene mit wenig Erfolg.
„Theias Bastard, ich piss in deine Milch!“, blaffte der grüne Söldner zuletzt.
Er umklammerte seine Kriegssense, kam aber nicht näher. Trigon zuckte. Er spürte selbst jetzt noch ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Die Magie wollte aus ihm heraus, als hätte sie einen eigenen Willen. Sie schlug kleine Funken auf seiner Rüstung. Der Söldner kniff die Augen zusammen, schaute noch einmal zu seinem Kollegen. Trigon war sich sicher, dass er jetzt angreifen würde. Trigon hätte es verdient. Trigon hatte alles verdient. Es wäre am besten gewesen, wenn –!
Trigon schrie auf, riss sich damit aus seiner eigenes kreierten Starre und sprach das Wort, das den einfachen Luftzauber aktivierte.
Auch dieser Zauber war stark. Stark aber nicht tödlich. Der Söldner wurde vom Druck über die Hecke geschleudert. Er überschlug sich und stürzte über die Kante des Wassergrabens. Der Wasserstand war niedrig. Trigon hörte das Platschen, ein Keuchen, dann nichts mehr. Der Söldner lebte noch, aber Trigon hörte ihn nicht mehr und vergass auch sofort seine Existenz.
Er schaute auf den Toten hinunter. Auch er hatte eine Markierung im Gesicht, einen grauen Strich unter dem Auge. Diesem Auge, in dem das Eis steckte, das Trigons Zauber geschaffen hatte. Eis … Eis. Nuira. Finger getunkt in buntes Wasser. Irgendwas in Trigons Hinterkopf rührte sich, wollte sich erinnern, in eine Welt voller Geschichten aus Büchern verkriechen, aber der Rest von ihm konnte nicht folgen. Das Eis zerfiel bereits, zerlief über dem Gesicht des Toten wie Tränen und Trigon fühlte sich ebenfalls zerfallen. Er hatte diesen Mann getötet. Nicht wie andere mit dem Schwert. Nicht als Krieger. Er hatte es mit der Magie getan. So wollt er nicht in Erinnerung bleiben. Es war so einfach gewesen. Viel zu einfach.