Diesmal waren die Blicke der anwesenden Dhrunuran ganz und gar nicht scheu. Tajen schaute sie nicht an, gab ihnen keinen Grund, es sich mit einem Liebling des Heerführers zu verspielen. Er hatte gewusst, auf was er sich einliess, als er den Vertrag eingegangen war. Als er den Hieb des Magiers abgefangen hatte, war ihm klar gewesen, dass dieser Tag nicht nur für den Feind Konsequenzen bringen würde. Aber er kannte auch seine eigenen Karten und als hoher Leri der Göttin des Nordens konnte er die möglichen Gefahren und Belohnungen gut abschätzen.
Tajen folgte Tezius aus dem Tempel hinaus in Richtung der grossen Festung Dareggs.
„Ihr habt beide das gleiche, lange Gesicht mit den gleichen, langen Nasen“, säuselte Tezius.
„Wir haben ein gleiches Paar Grosseltern“, antwortete Tajen trocken.
Der Blick des Schlürfers war für einen Moment noch starrer und emotionsloser.
„Auch ich habe einen Bruder. Vor etwas mehr als vier Jahren erst habe ich ihn erschaffen. Ich weiss nicht, was mich dazu bewegt hat, aber er wirkte vielversprechend damals. Leider ist er diesen Erwartungen bisher nicht sonderlich gerecht geworden. Beim nächsten Mal werde ich mich mehr bemühen und das Ergebnis wird ein Geschenk an den Heerführer sein.“
Tajen fröstelte bei dieser Erzählung und er versuchte nicht genauer darüber nachzudenken, dem Schlürfer keine unnötige Aufmerksamkeit zu schenken. Glücklicherweise war der Weg diesmal weniger lang und es gab mehr Ablenkung. Bald passierten sie die äusserste Mauer der Festung. Es war kein schöner Anblick, denn es war der Ort, an dem das Heer die Käfige aufbewahrte. Nur wenige waren noch mit Bestien gefüllt und Tajen konnte momentan auch nur eine Firani entdecken. Umso mehr Menschen hingegen waren in die Käfige gestopft. Einzelne würden hier bleiben, die meisten aber wurden an andere Orte gebracht, dort in noch ältere Käfige gesteckt. Tajen hatte nicht gefragt, was danach geschah.
Der Heerführer und seine Obersten standen vor einem dieser Käfige. Einige trugen wie er auch düstere Masken. Andere präsentierten auch ohne diese boshafte Fratzen. Der Heerführer grüsste Tezius und bat ihn an seine Seite. Tajen hingegen wurde keines Blickes gewürdigt. Er war froh darum, denn auch wenn er sich sicher war, alles korrekt berechnet zu haben, so konnte er das jähe Unwohlsein in seiner Magengrube nur schlecht verstecken. Die Arme des Heerführers waren voller Blut und an seiner Maske klebten dunkle Striemen frischer Schwarzmagie.
Auf sein Zeichen hin wurde der Käfig geöffnet und eine junge Gefangene herausgezerrt. Auch ihre Kleidung war blutig, aber das Blut war bereits nicht mehr frisch. Nicht so frisch zumindest wie die Beulen an ihrem Körper und die Tränen auf ihren Wangen. Sie wirkte wie ein Geist, so bleich war sie trotz der Verletzungen und ihr langes Haar war weiss, ein Kontrast zu den dunklen Augen. Trotz der Situation war ihr Blick stur, als sie vor dem Heerführer auf die Knie gerissen wurde. Tajen sah die Sfaira, die ihre rechte Wange hinunterliefen und von dem aktiven magischen Erbe kündeten, spürte die wütende, kalte Brise, die sie umströmte, und wusste zu welcher Familie sie gehörte, auch wenn sie in Darkeen gelebt haben musste. Es war kein Zufall, dass sie diese Gefangene ausgesucht hatten. Eine Überraschung, aber kein Zufall.
„Erzähl uns von eurem Magier, Weib“, verlangte der Heerführer.
Sie starrte ihn an und die Luft hielt ihr helles Haar in Bewegung, sonst aber rührte sie sich nicht. Der Heerführer hob seine Hand. Diesmal hielt er keine Klinge, mit der er hätte ausholen können, und auch keine Schwarzmagie schoss daraus hervor, als er seine Finger krümmte. Dennoch brach die Gefangene zusammen und schrie auf, krümmte sich am Boden. Tajen hatte in seiner kurzen Zeit im Heer schon oft gesehen, wie er anderen seinen Willen aufzwang. Es hiess, die Schemen konnten einen beeinflussen, einen verlocken. Aber man musste sich ihnen hingeben, um ihnen Macht zu geben. Die Kontrolle, die der Heerführer über immer grössere Teile des Kontinentes ausübte, war etwas, das Tajen so noch nie gespürt hatte. Es war auch nicht gänzlich mit dem Schwur vergleichbar, den seine Leute vor Nuira ablegten und bis zu ihrem Tod auf ihrem Körper trugen. Vielleicht war das der wahre Grund, weswegen sie Tajen hergeschickt hatte.
Tajen trat vor und die Magie verebbte. Der Heerführer senkte die Hand und lachte leise, lachte kalt. Seine Obersten hatten einen Kreis um sie geformt, standen da wie Krähen, die auf ihr Aas warteten. Tajen versuchte sie auszublenden.
„Du hast etwas zu sagen, Leri?“, spottete der Heerführer.
„Sie kann keine Antwort geben, wenn sie ihre Innereien auskotzt“, antwortete Tajen und trat zielstrebig zu der Gefangenen. Er ging neben ihr auf die Knie und zog sie vom dreckigen Boden weg. Er hielt sie an den Schultern fest, als sie schwankte, und schaute ihr direkt in die Augen, die wie ein dunkler Tannenwald waren. Voller Geheimnisse, aber wenig einladend.
„Wieso? Wieso Sturmbändiger?“, hauchte sie. Der Akzent Darkeens hatte sich in ihre Stimme eingeschlichen und doch war es die nordische Sprache, die sie ihm gegenüber nutzte. Sie erkannte die Bedeutung der vielen Sfaira in seinem Gesicht, erkannte ihre alte Heimat und was das für sie hiess.
„Du teilst mein Erbe und ich teile dein Leid. Aber du musst kooperativ sein“, flüsterte Tajen.
Sie zögerte, war auf einmal unsicher. Tajen ignorierte die Drakar um sie herum weiterhin, schaute zu dem einen Gesicht, das hinter einer Maske versteckt war.
„Lass sie frei und sie wird sprechen. Sie ist kein Feind für euch.“
Der Heerführer schwieg lange und seine Obersten rückten näher auf. Tajen wurde unsicher. Er hatte damit gerechnet, dass der Heerführer sein Einschreiten nicht unkommentiert lassen würde. Er hatte aber nicht damit gerechnet, dass in einem dieser Käfige zwischen den Darken eine Frau kauern würde, die ihn in eine viel ältere Pflicht drängte, als die Tinte auf einem Vertrag es konnte. Seine Hand zuckte, aber noch griff er nicht nach seiner Waffe.
„Erzähl von dem Magier, Mensch“, befahl der Heerführer erneut.
Die Frau schaute Tajen an, berührte mit zitternden Hand seine Wange.
„Mein Leid sei deines“, wisperte sie und der Wind wurde ein letztes Mal stärker, ehe er ganz still wurde und sie sich dem Heerführer zuwandte.
„Er ist e-einer … der Ritter. Schon lange in Liskia. Ich habe nie persönlich mit ihm gesprochen, aber andere … andere redeten manchmal über ihn. Trigon S-Slander heisst er.“
„Woher kommt dieser Slander? Woher kommt seine Magie und sein Wissen?“
„I-Ich … ich weiss ni–“
„Sprich!“
Die Stimme des Heerführers durchschnitt die Luft, brannte sich direkt in ihre Köpfe. Die Gefangene japste, keuchte, und auf einmal sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus, liessen ihr kaum Platz zum Atmen. Sie wehrte sich gegen den Übergriff, versuchte die Zähne zusammen zu beissen und zurückzuweichen. Aber das machte es nur schlimmer, liess sie husten und würgen. Tajen versuchte sie wieder zu stützen, vielleicht auch daran zu hindern, alles noch schlimmer zu machen. Auch ihm fehlte auf einmal die Luft in den Lungen und seine Haut brannte. Er konnte nichts tun diesmal, konnte es nur erdulden. Etwas in ihm warnte ihn davor, sich direkt gegen den Heerführer zu stellen. Seine Verpflichtung galt auch anderen hier.
Endlich schien der Heerführer genug gehört zu haben. Er wandte sich jäh von ihnen ab und es war vorbei. Die Gefangene verstummte und sank in sich zusammen, war kaum noch bei Bewusstsein. Tajen hielt sie weiterhin und kriegte nur wenig von dem mit, was der Heerführer und seine Obersten noch besprachen. Auf einmal waren sie alle fort, die Gefangene mit den Sfaira im Gesicht war jedoch nicht zurück in den Käfig gesteckt worden. Sie war bei ihm, hielt seine Hand und Tajen spürte die Male auf seinem Körper pochen, als würde Nuira direkt ihn warnen. Er durfte sich nicht überschätzen. Eine so grosse Schlacht brachte immer Überraschungen und so manches Nachspiel.