Obwohl Trigon sich vorgenommen hatte, nicht weiter über die düstere Meldung nachzudenken, hatte sein Kopf in der Stille der Heimreise ein Eigenleben entwickelt und ihn doch immer und immer wieder darüber nachdenken lassen. Dementsprechend wortkarg und betrübt war er, als er Lichtrain erreichte. Die Kinder wollten sofort alles wissen. Alles über seine Tage in der Hauptstadt und all jene bitteren Gerüchte. Trigon versprach ihnen, morgen mehr zu berichten. Es war schon spät. Er fühlte sich erschöpft. Nicht bereit, nach vorne in die mögliche Zukunft zu schauen.
Zu seinem Erstaunen war auch Yarin hier. Der Bursche war mit ihm zurück nach Liskia gekehrt und Trigon hatte ihn seither nicht noch einmal gesehen. Ver erzählte ihm, dass Yarin im Alleingang wieder aufgetaucht war, mit der Ausrede, sich der Landschaftsmalerei widmen zu wollen. Aus Stunden waren Tage geworden, doch Ankidria hatte ihn nicht abweisen können.
Yarin sass mitten auf dem Wohnzimmertisch und die Kinder drängten sich um ihn, nun da sie ihrem Vater keine neuen Geschichten hatten entlocken können. Jan hielt das Holzschwert, mit dem er die Grundkenntnisse in Verteidigung und Angriff übte, fest in beiden Händen. Trigon hatte nicht vorgehabt, seinen Kindern eine Lehrerin für den Kampf in irgendeiner Weise zu arrangieren. Aber die Zwillinge waren wild darauf gewesen, wer hätte es ihnen verübeln können? Alle erzählten ständig, was für ein guter Ritter ihr Vater doch sei. Niemand erwähnte, dass er sein Training nie genossen hatte. Dass er schon so lange der Arbeit überdrüssig war. Wenn sie zu ihm aufsahen und Freude hatten … dann war das in Ordnung. Ein bisschen Waffenkenntnis war nicht schlecht in Zeiten wie diesen.
Rian hatte ihr goldenes Haar zu einem strengen Zopf gebunden und trug das helle Nachtkleid, auf dem, seit letzter Woche anscheinend, das Wappen des Landes prangte. Sie hatte sich Yarins Farben ausgeliehen und die arme Hanna hatte sie nicht mehr aus dem Kleid herausgekriegt. Sie schien ihre Drohung an Jan, Ritter und besser als er zu werden, sehr ernst zu nehmen. Trigon hoffte, dass es bei beiden eine Phase blieb. Wenigstens Daughn war artig. Und Ailée war noch klein und schlief bereits, kriegte so nichts von dem Unheil mit.
Trigon spähte durch die halb offene Wohnzimmertür zu den Kindern hinüber. Wie Yarin stolz seine Geschichte erzählte und Rian vor Spannung beinahe zu atmen vergass, Jan bei jeder Handlung in der Geschichte mit dem Schwert zuckte und Daughn die Augen geschlossen hatte, so ganz leise lauschte. Trigon war froh darum. Ankidria und Ver musste er von den Unruhen erzählen. Aber nicht den Kindern.
„… und der Heilige schwang sein mit den eigenen Kräften geformtes Schwert und durchbohrte die Brust des finsteren Drachen mit einem eeeinzigen, gezielten Hieb! Der Drache taumelte nach links und nach rechts! Er schwaaankte und brüüüllte, dann –“
„He, Yarin?“, unterbrach Jan die Geschichte abrupt. „Bist du ein Halbelf?“
Rian stöhnte entnervt auf.
„Ernsthaft, du Quak-Ente?! Das war die beste Stelle!“
„Nun –“, begann Yarin mit einem Räuspern.
„Ich kann doch auch nichts dafür! Es ist spannend, aber seine Ohren sind so gross, ich kann gar nie wo anders hinschauen!“, verteidigte sich Jan.
„Kein Halbelf! Yarin ist halb Centhe!“, warf Daughn mit heller Stimme ein.
„Nur zu einem Viertel Centhe, um es genau zu sagen“, verbesserte Yarin schnell. „Meine Grossmutter mütterlicherseits ist eine Centhe, meine Mutter ist also die halbe Centhe.“
Ankidria setzte sich zu Trigon und legte ihm eine Hand auf den Arm, lehnte den Kopf an seine Schulter. Trigon drückte ihre Hand, behielt den Blick aber auf den Kindern. Ankidria hätte sofort die Sorge in seinem Gesicht bemerkt. Vor ihr konnte er nichts verstecken.
„Wunderbar!“, verkündete Rian und klatschte in die Hände. „Wir waren dabei, den Drachen zu töten! Mit einem eeeinzigen –“
„Was ist eine Centhe?“, unterbrach Jan erneut gnadenlos.
Rian gurgelte, Daughn gluckste jedoch leise und Yarin klopfte sich gegen die Brust, als wolle er sich selbst zu einer noch nicht begonnenen Rede gratulieren.
„Die Centhen, ins Mittländisch übersetzt auch die Natürlichen oder Elfen der Wälder genannt, sind ein Volk der Lithan, der hellen Synten also, die wir auch Lichtwesen oder Alben nennen. Mit den Halen, den Elfen-Elfen, sind sie verwandt, aber eben nur ein wenig.“
„Ah! Ich hab die in einem Buch gesehen, das sind die grünen Elfen!“, rief Jan.
Nun musste Rian lachen, während Yarin gurgelte.
„Junge, du kannst die Centhen nicht als ‚grüne Elfen‘ bezeichnen! Die Elfen besitzen zum Beispiel keine eigene Magie und zählen darum nur zu den niederen Alben! Das bringt sie so tatsächlich den Zwergen näher als den Centhen! Centhen aber sind mächtige Heiler und Pflanzenkundige und angeblich können sie sogar mit den Bäumen reden und ohne den Wald sterben sie! Das hab ich extra aus Respekt alles gelernt!!“
„Und ihre Haare sind rot! Deine sind es auch ein wenig, aber eben nur ein wenig!“
„Er ist auch nur zu einem Viertel ein grüner Elf, du tauber Hase!“, prustete Rian.
„Die Kinder sind heute gnadenlos“, wisperte Ankidria Trigon ins Ohr und lachte leise, leiser als sonst und mit höherer Stimme. Trigon mochte nicht, wenn ihre schöne Stimme so entgleiste. Es bedeutete, dass auch sie unruhig war. Ob sie schon etwas wusste?
„He, aber wenn die Natürlichen keine Elfen sind, wieso heissen sie dann Elfen der Wälder? Sind nicht die Elfen schon Elfen der Wälder?“, hatte Jan eine neue Frage bereit.
„Ahhh! Das ist doch ganz klar, weil es überall Elfen gibt und nur Centhen in Wäldern!“
„Die keine Elfen sind, nur trotzdem förig Elfen der Wälder heissen“, konterte Jan.
„Ja, weil Mittelländer ignorant und eingeschränkt in ihrer Sprache sind!“, keifte Yarin.
„Bist du denn kein Mittelländer, Yarin?“, kam Rian gar kritisch zu Wort.
„Doch, auch ich bin ein Mittelländer. Viele tun zwar so, als würde Na’Rin gar nicht mehr zum Goldenen Reich gehören, aber das Mittelland selbst streckt sich über Gahlaria hinweg noch ein ganzes Stück in unseren Nachbarkontinent hinauf.“
„Ha-ha, schaut! Yarin ist ein Mittelländer, aber er hat alle Mittelländer eingeschränkt genannt! Er hat sich selbst beleidigt!“, lachte Jan hämisch auf und Rian lachte mit.
„Können wir jetzt die Geschichte fertig hören? Ich finde auch alles eingeschränkt!“, reklamierte Daughn.
„Sie hat recht! Eure Schwester hat recht“, erboste sich Yarin. „Wieso erkläre ich euch überhaupt so etwas? Die Geschichte ist jetzt ruiniert und so etwas wird nicht leicht wieder ganz! Meinem armen Vater geht es schlecht und ihr–“
Die zweite Tür wurde laut aufgeworfen und im nächsten Augenblick hatte Yarin einen schmutzigen Lappen im Gesicht. Er würgte und die Kinder ahmten ihn nach.
„Weniger jammern und mehr arbeiten, Bengel! Und Füsse vom Tisch!“, bellte Ver und Yarin stammelte noch irgendein Gegenargument zusammen, da hatte Ver aber schon das Empfangszimmer erreicht und die Tür hinter sich zugezogen.