Das Schlachtfeld präsentierte das Ausmass an Leid, das innerhalb der Stadt in kleinen Gassen, in den Häusern und unter Mauerbrocken versteckt wurde. Trigon umrundete es möglichst. Die ganze Fluh roch nach Tod und bereits jetzt fanden die ersten Ratten ihren Weg aus den Gräben und dem Abwasser hinein ins Getümmel. Mit jeder Minute Abstand wurde es ruhiger. Schnee fiel lautlos und blieb auf flachgetretenem, braunen Gras liegen, versuchte die Gräuel zu verbergen. Trigon schaute kein einziges Mal zurück.
Bald erreichte er Lisfelden. Das Dorf wirkte so unschuldig und unberührt im Vergleich zur Stadt. Aber auch leer. Viele waren in die Stadt gekommen, waren in der Stadt gestorben. Die verbliebenen Leute hatten alles mitgekriegt. Der Wind trug den Geruch ins Tal, hatte auch den Lärm der Schlacht verbreitet. Niemand war auf den Strassen. Aber sie standen an den Fenstern, spähten hinaus und auf ihn herab. Sie wussten alle, was passiert war. Sie wussten, was er getan hatte.
Trigon durchquerte Lisfelden so rasch wie möglich, trieb Firnin zur Eile an und seinen eigenen müden Körper zur Wachsamkeit. Er folgte der Lis hinauf ins Lichttal. Der kleine Fluss plätscherte laut, lachte über ihn. Irgendwann erreichte er Tannwil. Normalerweise machte er hier eine Rast, liess Firnin etwas ruhen und sich selbst entspannen. Heute ging das nicht. Noch viel später erreichte er Wilden. Hier waren bereits einige Leute draussen, musterten ihn neugierig. Hatten sie den Rauch von der Weissenfluh in ihrem Rücken aufsteigen sehen? Gerade über die Klippen hinaus musste es doch ein grässliches Schauspiel gewesen sein, für alle sichtbar. Bald würde sich die Lis von ihren beiden hintersten Nebenarmen trennen. Bald wäre er zurück in seinem Dorf.
An der Kreuzung zu Lichtrain hielt Trigon endlich. Es dunkelte bereits und Firnin war müde. Sie schnaufte schwer und Trigon konnte kaum noch gerade auf ihr sitzen. Er hatte nichts gefühlt, doch langsam kehrte Leben zurück in seinen Körper. Die Bilder an den Tag waren nicht gewichen. Der direkte Schmerz in seinem Körper aber, der meldete sich nun in jeder Muskelfaser und liess ihn gequält Ächzen. Trigon führte Firnin ans Wasser, liess sie trinken, während er sich an die Brücke lehnte, die hinüber und hoch zu seinem Lichtrain führte. Er versuchte einen Bissen zu essen, aber ihm wurde nur wieder übel dabei.
Nicht mehr lange, dann war er zuhause. In Lichtrain. Was würde er seiner Familie erzählen? Wie würde er es ihnen erklären? Wie würde er schlafen können, mit diesen dunklen Erinnerungen? Wie würde er sie berühren können, mit diesen schmutzigen Fingern? Er hatte vor der Schlacht den Brief an Jodorka verschickt. Sie musste ihn nicht lange danach erhalten haben. War sie gekommen und hatte seine Familie mitgenommen? Daran hatte er gar nicht mehr gedacht. Es wäre besser so, sie durften von dem Leid nichts mitkriegen, mussten davon verschont bleiben. Und doch schmerzte Trigon der Gedanke, in ein leeres Haus zurückzukehren.
Er konnte Lichtrain kaum erkennen von hier aus, obwohl er genau wusste, wo am Hügel es sich befand, die Silhouetten der Häuser alle kannte. Lichtrain besass keinen eigenen Tempel, nur einen kleinen Schrein, oberhalb der letzten Scheune. Eine einzige Priesterin kümmerte sich darum und entzündete jeden Abend ein einzelnes Licht, gut sichtbar für alle. Bat so die allmächtige Gäa, über das Tal zu wachen. Als die Priesterin einmal krank gewesen war, hatte Ankidria es als ihre Aufgabe angesehen, sich eigenhändig um den Schrein und dieses Licht zu kümmern. Es dunkelte bereits, doch an diesem Abend wachte kein Licht über sie.
Ein starkes Frösteln überkam Trigon. Je weiter er sich von Liskia entfernt hatte, umso ferner war er der Zerstörung gekommen. Lichtrain befand sich auf keiner praktischen Route. Listor im Osten des Tals vielleicht, aber auch das eignete sich nicht für eine grosse Armee. Es gab keinen Grund, dass … Wieso war ihm auf einmal so kalt?
Den Wintereinbruch kann niemand aufhalten.
Trigon zog seinen Reisemantel enger um sich und schwang sich wieder auf sein Pferd. Es war nicht mehr weit. Bald war er zuhause. Bald war er in Sicherheit. In Liskia hielt ihn nichts mehr, aber hier. Hier war sein Platz. Hier war er kein Niemand.
Firnin wieherte kläglich, als Trigon etwas zu harsch an ihren Zügeln riss. Es war auch für sie ein traumatischer Tag gewesen. Dennoch trieb er sie zu einem schnellen Trab an. Über die Brücke und den kleinen Pfad entlang hinauf. Die Felder waren stille, dunkle Flächen an beiden Seiten des Pfades. Der Schnee getraute sich nicht darauf zu verweilen. Die Bäume waren kahle, dürre Gestalten. Sie schliefen, warteten auf die Sonne und ihre Wärme. Kein Feuer hatte sie mit sich genommen. Einzelne erste Hütten erhoben sich zwischen ihnen in der Dunkelheit. Es war still.
Trigon bemerkte auf einmal eine ungewohnte Energie. Draussen auf einem der Felder stand eine Person, noch dürrer als die Bäume, von einer bläulichen Flamme hell erleuchtet, bleich, und doch so unglaublich düster. Sie war nur kurz da, berührte seinen Geist mit ihrer Magie, dann war sie fort, aber ihr Gestank blieb an Trigon hängen. Trigons Körper verkrampfte sich und er brachte Firnin zum Galoppieren. Das Tal war auf einmal so viel dunkler. Auf Lichtrain lag die schwere Note dunkler Magie. Aber das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!
Dich, den der Heerführer sonst nicht einmal gekannt hätte, wird er nun aufs Tiefste hassen.
Er erreichte endlich das Dorf. Rauch. Da war auf einmal Rauch. Er hörte niemanden. Sah niemanden. Er erreichte die Strasse zu seinem Hof. Es wurde jäh hell, als eine grosse Stichflamme in die Höhe schoss, die Stallungen seines Hofes vollkommen umschloss, Firnin sich schreiend aufbäumen liess, ihn beinahe abwarf.
„Nein. N-Nein, n-n-nein, nein!“
Trigon sprang von seinem Pferd, griff sich gerade noch sein Schwert und rannte die letzten Meter zu Fuss. Das Tor zum Hof stand weit offen. Ihr Nachtwächter lag dahinter. Bewegungslos. Tot. Trigon hetzte an ihm vorbei und war geblendet von dem Feuer, das teilweise noch kalt und blau, zum grössten Teil aber rot und wütend die Stallungen verschlang. Er war hier.
„Ankidria! Kinder!“
Sie waren nicht hier. Sie konnten nicht hier sein. Er hatte den Brief abgeschickt.
„Ver! Ankidria!!“
Mach dir deswegen keine Vorwürfe. Niemand kann ihn aufhalten.
„… Ankidria.“
Eine einzelne Kerze stand entzündet auf dem Wohnzimmertisch. Das Wachs lief über den Tellerrand hinunter auf das Holz. Das Feuer zischte, als er die Tür aufstiess und frische Winterluft in den Raum brachte. Undeutliche und verzerrte Formen tanzten an den Wänden, wirbelten freudig herum.
Sie lag da, auf dem Boden.
Trigon erstarrte an der Tür. Das Schwert fiel ihm nutzlos aus der Hand. Die Welt war leer. Vollkommen stehen geblieben. Nichts ging noch mehr.
„Nein … n-nein. Ankidria … d-das kann n-nicht … das geht nicht.“
Sie lag da. So zerbrechlich. So blass.
„Ankidria … Ankidria, n-nein.“
Ihre Augen waren trüb. Hell und trüb. Sie blickte ihn nicht an und doch konnte er sich in ihren Augen sehen. Ihre Hand war noch warm. Noch so warm.
„A-Ankidria … bitte. Das kann nicht … w-wahr sein. N-Nein.“
Seine Hand strich von ihrer Wange zur Brust und dann noch weiter. Er griff in ein Loch. Da, wo ihr Bauch sein sollte, wo ihr Kind sein sollte, da war nichts. Nichts. Nur Leere. Er hatte ihr alles entrissen.
„… Ankidria.“
„Na? Wie fühlt sich das an, Magier?“, wisperte die Stimme des Heerführers.
Er sass am Tisch, entspannt und amüsiert. Seine roten Augen funkelten wie das Feuer, das draussen wütete. Seine schwarzen Male wanderten über sein Gesicht und von seinen weissen Fingern tropfte es schwarz und rot herab.
„Ankidria … oh, Ankidria …“
„V-Vati?“
Das Bild des Hexers schwand und ein anderes schob sich in Trigons Blickwinkel. Stolperte langsam von der Küchentür zu ihm. Jan. Er wirkte, als wäre er gerade erst aufgewacht. An seinem Mund klebte eine dunkle Blutspur. Er hielt auf halbem Weg. Trigon starrte ihn an, bewegungslos. Er starrte zurück.
„Vati … Mein Holzschwert. Es ist kaputt gegangen.“
„Jan … Oh, Jan.“
Er machte die letzten Schritte, fiel Trigon in die Arme. Trigon konnte ihn kaum halten. Ankidria lag da, auf dem Boden. Von dem Kind unbemerkt.
„Jan … Wo sind die … a-anderen? Wo s-sind… Rian u-und Daughn? Ailée?“
Jan blinzelte, antwortete nicht sofort.
„Da war auf einmal … D-Da war Rauch bei der Scheune. Ver rannte zu den Pferden … und Rian ihm … nach. Plötzlich waren diese L-Leute da. Niemand hatte sie gesehen. Sie waren … bewaffnet. Mein Schwert ist kaputt gegangen, Vati. Ailée bewegt sich nicht, Vati. W-Wieso ... bewegt sie sich nicht? Und Daughn, sie – s-sie …“
Jan weinte nicht. Er ächzte nicht. Er war ganz ruhig. Trigon starrte auf die kleine Flamme auf dem Tisch. Es war nur noch so wenig Wachs da. Noch warm, aber nicht mehr lange.
„Deine Mutter hat einen Fehler gemacht, als sie dich ausgetragen hat“, wisperte die Stimme des Heerführers in sein Ohr.
Er stand hinter ihm, kam näher und näher. Er umrundete sie langsam. Trigon rührte sich nicht. Er hielt seinen Sohn und konnte trotzdem nichts für ihn tun. Er war am Abgrund und der Abgrund nahm ihn mit sich. Seine Finger streiften Jans Schulter. Jan war ganz still. War leer. So leer.
„… n-nein. Nein. Bitte, n-nein!“
Erst jetzt kam Bewegung in Trigon. Er kauerte sich zusammen und drückte den toten Sohn an sich. Er kauerte und weinte und konnte kaum atmen. Er bettelte und bettelte. Nichts geschah. Der Heerführer lachte.
Trigons Körper zuckte unkontrolliert und er hustete. Er weinte, dann schrie er, dann brach seine Stimme und er wurde so stumm wie die anderen. Er liess Jan langsam los. Ankidria war so allein. Sie durfte nicht allein sein. Er bettete Jan in ihren Arm. Er zog seinen Mantel aus und legte ihn über die beiden. Sie schliefen nur. Sie schliefen in den Armen der Allmächtigen.
Niemand hatte sie gesehen. Dich jedoch wird er aufs Tiefste hassen. Er war bewaffnet. Mach dir keine Vorwürfe. Alles ist kaputt gegangen. Du kannst ihn nicht aufhalten.
Der Heerführer stand an der Tür. Trigons Körper zitterte, hörte nicht auf ihn, gehorchte dem Schemen. Er folgte dem Heerführer in den Garten.
„Wir sehen uns, Magier. Sehen uns am Abgrund“, wisperte der Heerführer ihm zu, klang beinahe gnädig.
Im Garten kauerte Etwas. Kauerte unter dem einen, alten Apfelbaum. Trigon kam näher. Das Etwas erhob sich. Schaute ihn mit leeren, schwarzen Augen an.
„… Ankidria? Nein. N-Nein … das kann nicht sein.“
Das Etwas näherte sich ihm. Es sah aus wie sie und doch ganz anders. War wie ein düsterer Geist, eine Halluzination. Ein Schemen.
„Ankidria …“
Das Etwas erreichte ihn und legte eine Hand an seine feuchte Wange. Seine Berührung brannte und doch spürte Trigon nichts. Das Etwas hatte ein Messer. Es drückte Trigon das Messer in die schlaffen Finger, klebte sie an das Metall.
„Es tut mir so leid.“
~ Ende Akt 1.2