„Oh, gnädige Allmächtige!“, sagte Rian und berührte mit einer Hand den Baum. „Wir Kinder bitten um deinen Segen und den aller anderen Götter. In fünf Wochen ist Jahresend und der Frühling kommt und dieser Baum wird wieder blühen. Aber jetzt ist Winter und die Leute haben ernsthaft Angst! Wir vier haben keine Angst, nein-nein, aber die Erwachsenen und darum bitten wir dich um deinen Segen für uns, diesen Hof und Lichtrain.“
„Und für Vater und alle in Liskia“, flüsterte Daughn und wünschte es sich ganz fest.
„Wir haben Opfergaben für dich, grosse Allmächtige!“
Rian öffnete die Schatulle und zog eine Glasmurmel heraus. Sie hielt sie erst in die Höhe und kniete sich dann hin. Erst jetzt fiel Daughn auf, dass sie ein kleines Loch in die Erde zwischen den Wurzeln des Apfelbaumes gegraben hatte. In dieses legte sie die Murmel, dann reichte sie die Schatulle Jan. Er zog eine Zinnfigur heraus.
„Gib uns deinen Segen, liebe Allmächtige, und so weiter und so weiter“, sagte er, gab der Figur einen Kuss und warf sie in das Loch. Daughn hielt die Luft an. Wenn Rian und auch Jan etwas in dieser Schatulle hatten, das ihnen wichtig war … Sogar Ailée hatte verstanden, was gerade passierte, denn sie grabbelte wieder nach der Schatulle.
„Uh!“, machte sie, als sie ihr feines Lieblingstuch zusammengeknüllt in der Schatulle fand.
„Komm, Ailée. Du musst das Gäa schenken, sonst funktioniert der Segen nicht“, verlangte Rian und streckte die Hand danach aus.
„Und dann graben wir es aus?“, fragte Ailée.
„Wir graben es im Frühling aus oder sobald Mutti es herausfindet“, flüsterte Jan und kriegte dafür einen Stoss mit dem Ellbogen von Rian.
„Stör das Ritual doch nicht!“
Ailée war unsicher, gab das Tuch dann aber Rian und es landete in der Erde. Daughn biss sich auf die Zunge, da sie nun sehen konnte, was noch in der Schatulle lag.
„Das gehört nicht mir, das gehört meinem Zauberhasen! Ihr durftet ihm das nicht wegnehmen!“, sagte sie mit Blick auf das Glöckchen am roten Band.
„Es muss ein persönlicher Gegenstand sein. Sei keine Schnecke, Daughn“, erklärte Rian.
„Ja, komm! Du musst das tun. Für Lichtrain, das Lichttal und auch Liskia“, drängte Jan.
„Graben! Graben!“, gluckste Ailée auf einmal ebenfalls sehr überzeugt.
Daughn schluckte. Es tat ihr weh, das Glöckchen, das ihr so gemein gestohlen worden war, aus der Schatulle zu nehmen und in das Loch zu werfen. Aber wenn es wirklich half, dann musste sie jetzt sehr erwachsen sein. Erwachsene durften schliesslich zaubern.
„Sehr gut“, sagte Rian zufrieden und wischte Erde über die Gegenstände. „Jetzt ist es beinahe getan. Aber die Götter müssen wissen, dass wir es ganz, ganz ernst meinen! Wir müssen darum alle einen Tropfen Blut auf die Wurzeln dieses Baumes fallen lassen.“
Sie hatte auf einmal ihr Messer in den Fingern. Sie zog einen Handschuh aus, hielt ihren Finger an das Messer, kniff die Augen zusammen und machte dann ganz rasch einen kleinen Schnitt. Einen Moment geschah nichts. Dann aber begann ihr Finger zu bluten und Rian drückte noch extra daran, so dass es einen grossen Tropfen bildete, den sie auf die Erde fallen lassen konnte. Sie machte dabei ein Gesicht, als hätte sie eine schimmlige Zitrone gegessen. Ailée jaulte und Jan versicherte sehr eilig, dass es auch mit Spucke funktionierte. Daughn atmete einmal mehr tief die kalte Winterluft ein und zog ihre Handschuhe aus.
„Ich kann das“, entschied sie und griff nach dem Messer.
Magie war im Blut, nicht in Spucke! Ein Pieks reichte. Sie hatte sich mal an Rosendornen gepiekst und das hatte etwas geblutet, aber nicht lange und nicht so schlimm. Wenn Rian das konnte, dann konnte sie da auch!
Daughn spürte sofort überall auf ihrer Haut ein Kribbeln. Die Magie wollte hinaus und den Segen wahr machen! Ihre Hand aber zitterte schlimm, als sie ihren Zeigefinger an die Messerspitze hielt.
„Daughn, näi, warte. Lass–“
Rian wollte ihr das Messer wieder abnehmen. Daughn liess sie nicht. Rian griff danach und Daughn riss das Messer nach hinten. Auf einmal spürte sie ein komisches Stechen an ihrer Hand. Da war ein Schnitt, unten wo der Daumen anfing und dann blutete es und Daughn verstand es nicht und das war alles nicht richtig!
Sie liess das Messer fallen, drehte sich um und rannte davon. Sie hörte die anderen wild durcheinander reden, dann hörte sie nur noch ihre eigene Stimme, denn sie musste laut weinen und sie wollte nicht weinen, aber es ging einfach nicht anders. Daughn wusste nicht, weshalb sie rannte, denn eigentlich musste sie doch das Ritual beenden. Aber da war tatsächlich Blut und sie spürte es pochen und Vater und Mutter hatten ihr doch verboten zu zaubern! Wenn sie ihre Hand sahen, dann wussten sie, dass sie gelogen hatte! Dann war der Segen kaputt und sie war schuld, aber der Segen war jetzt sowieso kaputt, denn sie war weggerannt und sie war so wütend auf Rian und auf Jan und auf Ailée und auf sich selbst war sie auch wütend!
Daughn schniefte, atmete wieder tief durch, wimmerte diesmal nur ganz leise. Sie zog ihren Handschuh wieder an. Der war schon rot, also würde niemand etwas merken. Das war ein Geheimnis. Wenn sie eine Faust mit ihrer Hand machte, dann tat es gar nicht mehr fest weh. Sie wollte nicht zurück zu den anderen. Sie wollte jetzt lieber ihren Zauberhasen holen und dann musste sie ihm erzählen, dass sie leider sein Glöckchen verloren hatte. Aber dann konnten sie nur zu zweit ein besseres Ritual machen!
Als Daughn das Haus betrat und in ihr Zimmer schleichen wollte, hörte sie Stimmen aus dem Empfangszimmer. Mutter. Aber nicht nur und die andere Stimme war keine Fremde. Daughn wollte nicht lauschen, aber alles war sofort fast vergessen, als diese zweite Stimme wie mit einem Lied alles einhüllte. Gar nichts mehr wirkte schlimm. Vielleicht hatte der Segen doch funktioniert?
„... mir bewusst. Er hat uns einen Brief zukommen lassen“, erklang Tante Jades schöne Stimme durch die Holztür.
„Das bedeutet –!“
Vielleicht sprach Mutter nicht weiter, vielleicht sprach sie auch nur leise und darum konnte Daughn es nicht gut hören. Sie wollte gerne die Tür öffnen und Tante Jade grüssen, denn sie freute sich über den Besuch. Aber dann hätte ihre Mutter ihre Hand gesehen.
„… nichts tun?! Ich habe keine Furcht vor Euch, aber ich weiss, dass Ihr und der Heerführer Bekannte seid! Wenn Ihr wirklich nicht hier seid, um ihm zur Seite zu stehen, dann doch wohl, um uns zu helfen?!“
Mutter war auf einmal laut und Daughn wusste nicht, mit wem sie diesmal redete. Mit Tante Jade bestimmt nicht. Aber Tante Jade antwortete:
„Wir sind allein deswegen hier, weil mein Sohn darum gebeten hat und ich tatsächlich seiner Meinung bin. Der Heerführer kennt mich und wenn Trigon schlau ist, wird er sich ihm nicht in den Weg stellen. Aber das Kind soll der Sicherheit wegen heute mit uns kommen. Unauffällig und sofort.“
Daughn quietschte, als die Tür sich öffnete. Sie war leise gewesen. Aber irgendwie musste Tante Jade sie trotzdem bemerkt haben, denn sie öffnete die Tür und streckte ihre Hand nach ihr aus. Sie lächelte lieb, aber Daughn konnte ihre Hand nicht ergreifen. Nicht mit dem Blut an ihrem Handschuh. Sie schielte an Tante Jade vorbei und sah Mutter da stehen. Sie wirkte seltsamerweise gar nicht glücklich. Daughn war, als ob sie schimmerte und ihr Bauch tat es erst recht. Tante Jade aber, die strahlte wie ein Kristall in der Sonne!
„Jade, du kannst nicht unangekündigt herkommen, mich so überrumpeln mit diesen grässlichen Nachrichten und dann auch noch Forderungen stellen!“, rief Mutter und stampfte zu ihnen, griff Tante Jade an der Schulter. Daughn wagte nicht, irgendwas zu sagen. Sie wich zurück. Mutter würde das Blut sehen und dann war Daughn die Petze.
„M-Mami! Tante Jade! Hallo! N-Näin. Tschüssi!!“, japste sie und rannte, denn wieder fiel ihr keine bessere Lösung ein. Sie hätte das nicht hören dürfen. Sie wusste nicht, was los war, aber sie hatte das alles nicht hören dürfen, hätte nicht zaubern und kein Ritual machen dürfen!
„Daughn! Schatz –!“, rief Mutter ihr nach, aber weiter kam sie nicht und auch Daughn kam nicht weiter. Auf einmal war da ein Loch. Ein Loch rund um sie herum und alles war auf einmal dunkel und doch leuchtend voller Magie.